9punkt - Die Debattenrundschau

Riesige Mengen an Dokumenten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.02.2017. Im russischen Fernsehen werden ganz offen Szenarien zur Eroberung der Ukraine diskutiert, schreibt Andrej Kurkow in der FAZ. Der Guardian erzählt, wie lang der Antrag ist, den EU-Bürger ausfüllen müssen, wenn sie bleiben wollen: 85 Seiten.  Die Zeit erzählt, wie sich der BND in seinem eigenen Labyrinth verheddert, wenn es um die Aufklärung von Überwachungsskandalen geht.  Vice verlangt Eintritt in einen Londoner Privatklub.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.02.2017 finden Sie hier

Europa

Warum lassen wir immer nur Politiker die EU verteidigen, fragt in der Welt Marko Martin, wenn doch gerade "die viel zitierten 'hart arbeitenden Menschen'" hauptsächlich von der EU profitieren, die tatsächlich wenig elitär sei - "gerade deshalb ist sie Snobs vom Schlage Boris Johnson ja auch solch ein Gräuel. Menschen wie er benötigen jedenfalls weder Erasmus-Stipendien noch Niederlassungsfreiheit für Handwerkerberufe; in ihren Stadtwohnungen und auf ihren Landsitzen können diese nun wahrlich 'Abgehobenen' überdies auf Infrastruktur-Programme, urbane Erneuerungsprojekte und Regionalförderungen pfeifen. Und sich gleichzeitig dann eben doch von polnischen Elektrikern und Klempnern jene häuslichen Mängel richten lassen, für deren Behebung die einheimische Arbeiterklasse längst nicht mehr zur Verfügung steht."

EU-Bürger in Britannien und Briten in EU-Ländern werden zur Verhandlungsmasse für die Brexit-Verhandlungen, schreibt Daniel Boffey im Guardian und zitiert aus einem EU-Dokument, das Regierungen nahelegt, das Leben für Briten in ihren Ländern ein bisschen schwieriger zu machen. Vorbild wäre die Behandlung von EU-Bürgern in Britannien, wo Zehntausende nach dem Brexit-Votum Bleibepapiere beantragt haben: "Um einen ständigen Wohnsitz zu bekommen müssen EU-Bürger einen 85-seitigen Antrag ausfüllen, der riesige Mengen an Dokumenten als Beleg verlangt, inklusive Steuerbescheinigungen von fünf Jahren, einer Dokumentation von Strom- und Wasserrechnungen und eine Aufstellung aller Auslandsaufenthalte seit Ansiedlung in Britannien. Einigen wurden Aufforderungen, das Land zu verlassen, zugeschickt, weil sie nicht alle Fragen in dem Dokument beantwortet haben."

Der ukrainische Autor Andrej Kurkow hat ein bisschen russisches Fernsehen geschaut und berichtet in der FAZ Unheimliches. In den staatskontrollierten Sendern werden in Talkshows ganz offen Szenarien diskutiert, wie die Ukraine endgültig zu erobern sei. Eines davon bezeichnet Kurkow als das "pragmatische": "Dabei ist von einer Teilung der Ukraine die Rede. Die 'Pragmatiker' sagen offen, Russland brauche die Westukraine nicht, also solle Polen sie sich nehmen, oder sie solle ein selbständiger kleiner Staat werden. Die Zentralukraine mit der Stadt Kiew müsse besetzt und mit harter Hand von 'proeuropäisch gesinnten Bürgern' gesäubert werden. Dabei müssten 'zwei bis drei Millionen Menschen getötet oder vertrieben' werden, so die Meinung von Michail Aleksandrow, einem Experten des Zentrums für militärisch-politische Studien an der MGIMO, der angesehenen Diplomatenhochschule Russlands."
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Überwachung

Nach drei Jahren kommt der Untersuchungsausschuss zur NSA-Affäre zu einem Ende. Schuld hatte mal wieder niemand, stellt Kai Biermann auf Zeit online fest, der dem Ausschussvorsitzenden Klaus-Dieter Fritsche einige unangenehme Fragen stellt: "Man habe im BND das Thema Selektoren wohl 'nicht kritisch genug betrachtet', sagt Fritsche schließlich. Aber wer genau? 'Die Amtsleitung war nicht über die Problematik informiert.' Wenn die Amtsleitung nicht verantwortlich war, wer dann? Die Abteilungsleiter? Nein, sagt Fritsche. Die Probleme mit den Selektoren seien wohl nicht einmal bis zur Abteilungsleitung gedrungen. Also die Unterabteilungsleiter? 'Ja.' Und teilweise seien auch die Leiter der Außenstellen des BND verantwortlich, gibt Fritsche letztlich zu. Allerdings ist niemand dieser nun angeblich Verantwortlichen entlassen worden", so Biermann. Entlassen - ohne öffentliche Begründung - wurde nur der erst seit 2012 tätige BND-Chef Gerhard Schindler, "ein sogenannter politischer Beamter, er kann einfach so entlassen werden. Woran er wirklich schuld war und woran nicht, musste damit auch gar nicht mehr geklärt werden, was sicher vielen zupass kam."
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Gesellschaft

Oobah Butler erzählt in einem ziemlich witzigen Text für Vice von den drei Methoden, die er ausprobiert hat, um sich in London in einen der Privatclubs zu mogeln, die dort immer noch blühen ("dort können die Reichen und Mächtigen in Frieden an ihren Negronis nippen, ohne dass sie der gemeine Pöbel nach einem Kippenfilter anschnorrt."). "Plan A ist also ganz simpel: Ich gebe mich als Blumenlieferant aus. Eine umgedrehte Cap, ein Bouquet und eine kurze Jeans später habe ich mein Einwegticket ins Shoreditch House zusammen - einen Privatclub in Ostlondon, der dermaßen auf Medienleute ausgelegt ist, dass es dort ein Krawattenverbot gibt. Niemand, der im Medienbereich arbeitet, trägt schließlich eine Krawatte." Hier der Link zum Shoreditch House, nicht übel.
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Stichwörter: London, Privatclubs, Krawatte, Vice

Ideen

Die Politologin María do Mar Castro Varela ist in der taz schwer erzürnt über die Kritik an Versuchen der Genderdiskurse, sprachlich alle Differenzen abzubilden: "Eigentlich geht es hier doch eher um die Verteidigung des imperialistischen Rechts, die Anderen verachten und beschämen zu dürfen. Ein Verbot einer solchen Praxis wird von vielen als unmögliche Einschränkung erlebt. Der Verzicht auf die Lust an der Verachtung und Diffamierung der als anders bestimmten, die ja immer mit der Erhöhung des eigenen Selbst einhergeht, wird als Zurückweisung erlebt und darauf mit gewalttätigen Praxen reagiert."

In der NZZ referiert René Scheu dagegen zustimmend Carlo Strengers neues Buch "Abenteuer Freiheit" in dem der Schweizer Philosoph dem Westen derzeit die Mentalität eines verwöhnten Kindes bescheinigt, das seine Privilegien für einen Naturzustand hält: "Der zweite Naturzustand bringt tendenziell misslaunige Bewohner hervor, die die Empfindung hegen, es falle inmitten materieller, symbolischer und kultureller Fülle ausgerechnet für sie nicht genug ab. ... Das verwöhnte Selbst ist höchst empfindlich. Am liebsten würde es jedwede Kritik am eigenen Lebensstil verbieten. Genau das ist nach Strenger das Ziel jener Bewegung, die seit den 1980er Jahren unter dem Titel der Political Correctness die angelsächsischen und europäischen Hochschulen zu dominieren beginnt."
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Politik

Gegen Naturkatastrophen gibt es zumindest Hilfsorganisationen, gegen autoritäre Regimes nicht, schreiben in der Washington Post Garri Kasparow and Thor Halvorssen, die in New York die Human Rights Foundation gegründet haben. 3,97 Milliarden Menschen leben ihrer Rechnung nach unter autoritären Regimes. "Und es gibt so viele unbekanntere Diktatoren in Ländern wie Bahrain, Kasachstan und Äquatorialguinea, wo Tyrannen die natürlichen Ressourcen ihrer Länder plündern und die Profite in Off-Shore-Konten bunkern. Um ihre Gräueltaten zu kaschieren, heuern sie in der freien Welt Lobbyisten, PR-Firmen, ja politische Einflussgruppen an, die ihre Verbrechen beschönigen. "
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