9punkt - Die Debattenrundschau

Das Schöne, das Kulturerbe, die Identität

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.03.2017. Mit der Inhaftierung Deniz Yücels macht Erdogan nun auch in Deutschland Medienpolitik, meint die taz. Die FAZ ist traurig: Sie ist bei der #Freedeniz-Kampagne nicht gefragt worden, obwohl ihr ein Herausgeber fälschlich zugerechnet wurde - und darum hat sie auch die Anzeige nicht gebracht. Die Welt gibt einen Ausblick auf die Kulturpolitik des Front National. Die FAZ reist an die demnächst wieder nordirische Grenze. Buzzfeed zeigt, wie ein Medienkonzern mit einfachen Mitteln zwei Filterblasen bedienen kann. Und dass Mahershala Ali Muslim ist, wird bestritten, zumindest von Muslimen, schreibt die Washington Post.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.03.2017 finden Sie hier

Europa

Paul Ingendaay reist für die FAZ an die zur Zeit noch unsichtbare Grenze zwischen Nordirland und der Republik. Politisch kündigen sich neue Konflikte an: "Das Programm der Nationalisten für die nordirischen Parlamentswahlen am 2.März ist klar: Die Europäische Union soll stärker sein als der Brexit. Sinn Féin fordert für Nordirland einen Sonderstatus, der die Grenzen offen hielte, Bewegungsfreiheit für Güter und Personen erlauben und europäische Fördergelder für Landwirtschaft und Fischerei weiter fließen lassen würde. So wolle es die Mehrheit der Nordiren, sagt (der nordirische Politiker Conor) Murphy. Dass Nordirland britisch ist, verdrängt er."

In der Welt gibt Martina Meister einen Ausblick auf die trübe Kulturpolitik, die mit dem Front National droht: "Im Juni vor zwei Jahren präsentierte Marine Le Pen den Arbeitskreis 'Kultur-Freiheit'. Brigitte Bardot war die einzige namenhafte, wenn auch nicht ganz frische Unterstützerin aus dem Feld der Kulturschaffenden. Als Kopf ihres kulturpolitischen Thinktanks hat sie Sébastien Chenu gewonnen, Mitbegründer der Schwulen- und Lesbenvereinigung Gaylib und sehr vernetzt im Milieu. Seinen Kulturbegriff fasst er so zusammen: das Schöne, das Kulturerbe, die Identität. 'Wir werden jetzt nicht die Zensur und die gregorianischen Gesänge verteidigen'. sagt Chenu, als ginge es darum, Missverständnisse zu vermeiden."
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Politik

Im Interview mit der Berliner Zeitung spricht die israelische Soziologin Eva Illouz, über fünfzig Jahre Besatzung und den schwindenden Universalismus. Obwohl sie betont, dass Israels Gründung absolut legitim war, fürchtet sie jetzt, dass es ein böser Staat werden könnte: "In meinen Augen ist die Besatzung die Bürokratisierung des Bösen. Wenn man das Leben der anderen mit Waffengewalt, Inhaftierung, Reiseblockaden und dergleichen dominiert, und wenn ein erheblicher Teil der israelischen Gesellschaft dies nicht wahrnimmt oder rechtfertigt, dann gerät man in diese Kategorie. Das Böse beginnt mit der Gleichgültigkeit oder der Blindheit gegenüber nackter Gewalt."
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Ideen

Für den in Stanford lehrenden Literaturwissenschaftler Adrian Daub ist es wieder Zeit, Ray Kurzweil zu lesen, den  radikalfuturistischen Propheten des akzelerationistischen Silicon Valley. Er liegt genauso oft falsch wie richtig, meint Daub in der NZZ, aber als Theoretiker der Plötzlichkeit sei er der Mann der Stunde: "Wir erinnern uns alle noch an Zeiten, da Handys Spielzeuge waren. Heute sind sie Werkzeuge globalisierter Selbstüberwachung. Vor fünf Jahren war Twitter ein Tummelplatz für Spinner, 4chan etwas für pickelige Nerds. Sind beide Dienste auch heute noch und prägen doch den Stil der Weltpolitik ... So viele von Kurzweils Hypothesen sich auch als falsch entpuppen werden, er fängt unsere Erfahrung ein, in dem präzisen Moment, wo Berechenbarkeit in Plötzlichkeit umschlägt. Donald Trump und Brexit sind nur Symptome eines Moments, an dem scheinbar lineare Entwicklungen sich überschlagen, an dem sich die Kurve zukünftiger Entwicklungen exponentiell vor uns auftürmt. Menschengemachter Klimawandel, lange prophezeit, krempelt den Planeten um."
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Gesellschaft

Anne Wizorek , Autorin des #ausnahmslos-Aufrufs, der nach der Kölner Silversternacht mehr gegen Rassismus eintrat, gründet ein neues Netzwerk für feministische Initiativen. Im taz-Interview mit Dinah Riese, das leider - etwa in religiösen Fragen - ziemlich unspezifisch bleibt, erklärt sie ihr Konzept: "Wir vertreten einen intersektionalen Ansatz: Sexismus ist für uns ein Problem, um das wir uns kümmern müssen - genauso aber Rassismus, Klassismus, Homo- oder Behindertenfeindlichkeit. All das ist miteinander verwoben. Wir erreichen keine gerechte Gesellschaft, wenn wir uns nur mit einem Feld von Diskriminierung beschäftigen. Aber genau das wollen wir: dass allen Menschen ein gutes Leben ermöglicht wird."

Der Perlentaucher hat "Moonlight" einen Film über einen "queeren" Jungen genannt. Jan Feddersen erklärt in der taz, warum die Vokabel schwul viel besser ist: "Weshalb beschleicht einen inzwischen das Gefühl, dass 'schwul' als Vokabel für gleichgeschlechtliches Begehren unaussprechbar (bleiben) soll - und stattdessen 'queer' gewählt wird. Denn es klingt stubenreiner und politisch korrekter? Das Wort trägt den Geschmack vom Modischen, denn, so lehren es doch die Denker*innen der Queer Theory, kann nicht jede*r queer sein, auch heterosexuell orientierte Menschen?"
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Medien

Die taz macht mit Deniz Yücel und den anderen 151 Journalisten in türkischen Gefängnissen auf. Chefredakteur Georg Löwisch schreibt im Kommentar: "In der Türkei wird die freie Presse schon lange zensiert, blockiert und drangsaliert. Dennoch ist die Entscheidung, dass Deniz Yücel in Haft bleibt, selbst im Sultanat des Recep Tayyip Erdogan ein Einschnitt. Er will nun auch gegenüber der internationalen Presse Stärke zeigen. Sie prägt das Bild des Machthabers in der Welt. Und dieses Bild ist relevant für die Frage, wie groß der Spielraum bleibt, den Erdoğan bei politischen Geschäften mit dem Ausland hat."

In einem taz-Hintergrundartikel informiert Ali Celikkan außerdem über Bestimmungen der türkischen Justiz und erklärt, warum er glaubt, dass die Ermittlungen gegen Yücel selbst nach türkischen Maßstäben gesetzeswidrig seien.

Auch die Welt hat etliches zu Deniz Yücel. Unter anderem fürchtet Can Dündar Schlimmes für alle inhaftierten Journalisten: "Vor dem Referendum am 16. April gibt es meines Erachtens keine Chance auf Freilassung. Die Kollegen wissen, dass die türkische Regierung sie als Geiseln genommen hat. Recht und Gesetz sind ausgeschaltet. Jetzt richten sich alle Augen auf den Ausgang des Referendums. Wir müssen diesen politischen Kampf gewinnen."

Als stark cholesterinhaltige beleidigte Leberwurst schreibt  FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube über die #Freedeniz-Kampagne und  beschwert sich zumal, dass  ein FAZ-Herausgeber in der Kampagne fälschlich genannt wurde und dass die meisten FAZ-Redakteure überhaupt erst aus der Zeitung davon erfuhren. Und darum hat die FAZ auch anders als die SZ keinen Raum für eine - natürlich kostenlose -  Anzeige der Kampagne freigeräumt. "Wer ernsthaft gewollt hätte, dass Journalisten dieser Zeitung per Unterschrift das Selbstverständliche bekräftigen, Angriffe auf die Meinungs- und Pressefreiheit für unerträglich zu halten, wäre anders vorgegangen. Die Mailadressen des Hauses sind gut bekannt. Es gibt sogar Telefone."

In der SZ weist Mike Szymanski daraufhin, dass sich Deniz Yücel nach dem Besuch von Angela Merkel in Ankara freiwillig der türkischen Justiz gestellt hat.: "Die Regierung in Ankara erlaubt sich den Luxus, die einzige, wirklich mächtige EU-Politikerin zu brüskieren, die überhaupt noch bereit ist, mit Erdoğan zu reden."

Sogenannte "Hyperpartisan Websites" haben im amerikanischen Wahlkampf eine große Rolle gespielt und eine Menge Klicks erzeugt - sie bedienten die Filterblasen politisch dezidierter Kreise - Republikaner oder Demokraten - und scheuten zuweilen vor "Fake News" nicht zurück. Craig Silverman zeigt in einer faszinierenden Recherche für Buzzfeed, dass die Firma American News LLC  parallel extrem demokratische und extrem konservative Websites betreibt und Meldungen zuweilen durch bloße Negationen für die jeweiligen Filterblasen präpariert: "Es ist unklar, ob  American News LLC  die selben Autoren oder getrennte Teams für ihre konservativen und linksliberalen Websites einsetzt. Klar ist aber, dass zumindest eine der Websites gefälschte Autorenfotos benutzt. Die Auorenseite für God today gibt zwei Autoren an, Henry Freeman and John Sullivan. Die Fotos für diese Autoren sind Bilderdiensten entnommen. Sullivans Video stammt aus einen Shutterstrock-Video mit dem Titel 'Reifer Mann spielt Golf'. Freemans Foto kiommt aus Material mit dem Titel 'Junger Mann im Park schreibt auf seinem Laptop.'"
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Religion

Mahershala Ali, der für seine Nebenrolle in "Moonlight" ausgezeichnet wurde, sei der erste amerikanische Muslim, der einen Oscar erhielt, hieß es am Montag. Ali selbst würde in vielen muslimischen Ländern ganz und gar nicht als Muslim anerkannt, denn er ist Anhänger der Ahmadiyya-Sekte, schreibt Max Bearak in der Washington Post: "In den letzten Jahren sind Hunderte von Ahmadis in Pakistan ermordet worden. Islamistische Gruppen demonstrierten in Paklistan und forderten die Todesstrafe für Gotteslästerer. Im April wurde ein Ahmadi in Schottland von einem anderen Mann ermordet, der ihn beschuldigte, den Islam nicht zu respektieren." In Pakistan dürfen sich Ahmadis nicht als Muslime bezeichnen - und in Mekka sind sie nicht zur Hadsch zugelassen.
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