9punkt - Die Debattenrundschau

Sie wollen radikale Änderungen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.03.2017. Wer sind wir, wo wollen wir hin? Ein paar Antworten darauf wünschte sich Geert Mak im Tagesspiegel von niederländischen Politikern. Die Vogue propagiert unterdessen "Dutch Love". In der NZZ schüttelt Doron Rabinovici den Kopf über Österreicher, die rechts und links nicht mehr unterscheiden können. In der FAZ erklärt Hector Abad, warum Steuern besser sind als Gewalt. In der taz schildert der südafrikanische Autor Sonwabiso Ngcowa die Situation der "Born frees". Das Münchner Haus der Kunst hat ein Scientology-Problem, berichtet die SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.03.2017 finden Sie hier

Europa

Den Niederländern gehts im Moment zwar prächtig, aber sie haben ihren Kompass verloren, das sieht man auch daran, dass etwa 75 Prozent noch nicht wissen, wen sie in fünf Tagen wählen werden. Das liegt an vielen Dingen, meint der niederländische Schriftsteller Geert Mak in einem langen Interview mit dem Tagesspiegel: an den unsicheren Lebensverhältnissen, die das "globale Marktdenken" ausgelöst habe, aber auch an der mangelnden Vision vieler Politiker, die stattdessen lieber Geert Wilders nach dem Mund reden: "Die roten Briefkästen und die gelben Züge - beide vom Markt abgeschafft - waren für mich genauso die Niederlande wie Rembrandts 'Nachtwache'. Die Frage ist auch wieder ein Symptom für eine tiefer liegende Unsicherheit. Wir müssen uns doch fragen: Was haben wir gemein und wo wollen wir gemeinsam hin? Diese Frage wurde bisher viel zu wenig gestellt. Die Debatten im Wahlkampf drehen sich aber nur noch um den Wahlkampf. Ich vermisse einen Parteiführer, der sagt, wofür er steht, ob man dem nun zustimmt oder nicht. Wenn ich sehe, was Merkel oder Schultz in Deutschland tun - danach sehnen sich die Menschen hier."

Im Moment sieht es nicht so aus, als könnte Geert Wilders bei dieser Wahl groß was gewinnen. Muss er aber auch nicht, viele seiner Forderungen wurden inzwischen von anderen Parteien übernommen, meint Markus C. Schulte von Drach mit Verweis auf die regierende konservative Partei in der SZ: "Andere Parteien hat er mit dem Zuspruch, den er in Teilen der Bevölkerung erhält, unter Druck gesetzt. So forderte etwa Ministerpräsident Rutte kürzlich in einem offenen Brief Migranten auf, sich 'normal' zu benehmen oder nach Hause zu gehen." Wir halten es mit der niederländischen Vogue und empfehlen Dutch Love statt Wilderschem Hass!

Der lange österreichische Bundespräsidentschaftswahlkampf hat vieles überraschend zur Kenntlichkeit gebracht, schreibt der Wiener Schriftsteller Doron Rabinovici in der NZZ: "Anders als je zuvor traf ich nun auf Bekannte, die erklärten, sich der Stimme enthalten zu wollen. Er lasse sich nicht mehr erpressen, sagte mir ein Freund aus Studienzeiten. Zu oft habe er das kleinere Übel gewählt. Der Zorn auf die Flüchtlingspolitik und die rot-schwarze Koalition trieb ihn um. Eine Jugendfreundin, eher konservativ, meinte, für sie seien grün und freiheitlich wie Pest und Cholera. Einst hatte sie gegen den schwarz-blauen Pakt zwischen Jörg Haider und Wolfgang Schüssel demonstriert. Jetzt kann sie Rassisten und Muslime gleichermaßen nicht ausstehen, als herrsche da kein Widerspruch."

Wie soll man sich nur gegenüber der Türkei verhalten? In der SZ setzt Yavuz Baydar auf die europäische Justiz, vor allem den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der gerade die Klagen zweier inhaftierter türkischer Journalisten angenommen hat: "Die rechtliche Bewertung der massiven Unterdrückung in einem Partnerland, das mit der EU 'verhandelt', wird von entscheidender Bedeutung sein, auch für die Beziehungen des Landes mit dem Westen im Ganzen. Der Europarat hat sich gegenüber anderen Fällen wie Aserbaidschan und Russland apathisch verhalten, und dies lässt Erdoğan hoffen, dass es ihm vor Gericht ähnlich ergehen könnte."

Über die Frage, wie man mit den Wahlkampfauftritten türkischer Regierungsmitglieder in Deutschland umgehen soll, diskutierten zum Auftakt der lit.cologne der Journalist Can Dündar, die Schriftstellerin Asli Erdogan, der Schriftsteller Dogan Akhanli und Günter Wallraff, berichtet Oliver Jungen in der FAZ: "Erstaunlich einmütig sprachen sich vier Teilnehmer für den freien Zugang zum Markt der Meinungen aus, denn Verbote nutzten allein Erdogan. 'Deutschland hätte in diese Falle nicht tappen dürfen', betonte Dündar. Als Akhanli aber eine klare Ansage an türkische Politiker einforderte - 'Hier kannst du Faschismus nicht propagieren' -, schien die Stimmung ein wenig zu kippen. Man einigte sich auf den Kompromiss, dass es gut wäre, die Referendumsbefürworter würden hierzulande von der deutsch-türkischen Bevölkerung übertönt, nicht vom Staat."

Weiteres: In Frankreich machen Künstler Front gegen den FN, aber es kommt wenig Überzeugendes dabei heraus, findet Marc Zitzmann in der NZZ.
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Politik

Ach, Martin Schulz, das ist doch auch nur ein weiter so, meint in der SZ der Soziologe Stepan Lessenich, Ausdruck einer Angst, "dass sich die Zeiten radikal wandeln, dass die Voraussetzungen der eigenen Lebensweise nicht mehr gesichert sind, dass die 'gute alte Zeit' der ungeheuren Privilegierung der westlichen Wohlstandsgesellschaft im Weltmaßstab zu Ende geht - und nicht wiederkehren wird. Es ist die Ahnung, dass der Gesellschaftsvertrag des wohlstandskapitalistischen Zeitalters nicht mehr aufrechtzuerhalten ist - weder von Angela Merkel noch von Martin Schulz. Aber man kann es ja mal mit einem anderen probieren."

Philipp Lichterbeck besucht für die FAZ in Medellin den Schriftsteller Héctor Abad, der im Gespräch nachdrücklich den Friedensvertrag mit der Farc-Guerrilla unterstützt. "Der neue kolumbianische Frieden beendet zwar den Krieg, nicht aber die Benachteiligungen, die ihn ausgelöst haben. Dass man diese ungerechten Verhältnisse mit Waffen ändern könne, glaubt Abad indes nicht. Gewalt, das habe die Geschichte bewiesen, führe immer nur zu mehr Gewalt. Es würde schon viel ändern, wenn die Großgrundbesitzer endlich gezwungen würden, angemessene Grundsteuern zu zahlen."
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Überwachung

Die CIA hört alles ab, was nicht bei drei auf den Bäumen ist? Nikolaus Busse wiegelt in der FAZ ab: "Ist es wahrscheinlich, dass sich irgendjemand bei der CIA dafür interessiert, was Lieschen Müller abends mit ihrem Mann im Wohnzimmer bespricht? Oder geht es nicht doch eher um die Kommunikation von Politikern, Diplomaten, Militärangehörigen, Terrorverdächtigen und verwandten Personenkreisen? Immerhin müssen die gewonnenen Erkenntnisse ja ausgewertet werden, was Arbeitskraft bindet."

Der IT-Sicherheitsexperte Bernhard Schneck sieht das im FAZ-Interview weniger harmlos: "Der Staat besorgt sich Mittel, die von Kriminellen eingesetzt werden, versteckt sie, nutzt sie für seine eigenen Zwecke und weist Unternehmen wie Apple eben nicht auf Sicherheitslücken hin, die die Allgemeinheit betreffen. Da muss ich sagen: Hier haben wir eine sehr kreative Auslegung des Schutzauftrags des Staates."
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Gesellschaft

Im Interview mit der taz beschreibt der südafrikanische Autor Sonwabiso Ngcowa die Situation der "Born frees", also der Generation, die nach dem Ende der Apartheid geboren wurde. Sehr glücklich scheint diese Generation nicht zu sein: zu wenig habe sich verändert, meint Ngcowa. Noch immer liege der größte Teil der Vermögen in den Händen der Weißen und die Regierung - "ich habe das Gefühl, die Regierung lernt nicht dazu. Eigentlich ist immer noch alles so wie beim Schüleraufstand 1976 in Soweto. Wir marschieren friedlich, und niemand hört uns zu. Dann kippen die Proteste in Gewalt um, und die Regierung sagt: Oh, okay. Das ist frustrierend. ... Viele der Jungen sind sehr enttäuscht vom ANC, der südafrikanischen Befreiungsbewegung Nelson Mandelas. Sie fühlen sich vom System ignoriert und fordern Gleichheit. Und zwar jetzt und nicht erst für die nächste Generation. Sie wollen radikale Änderungen."
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Stichwörter: Südafrika, Apartheid, Anc

Kulturpolitik

Der Betriebsrat im Münchner Haus der Kunst ist vor Gericht gezogen, um festzunageln, dass Mitarbeiter künftig Auskunft geben müssen, ob sie zur Scientology-Sekte gehören, berichtet Susanne Hermanski in der SZ: "Hintergrund des Rechtsstreits ist die Auseinandersetzung um den früheren Personalverwalter des Museums, von dem sich das Haus der Kunst in der vergangenen Woche getrennt hat. Der mutmaßliche Scientologe arbeitete seit 1995 in dem Haus. Ihm wird vorgeworfen, dort gezielt Scientologen als Mitarbeiter eingeschleust zu haben. Zudem beschuldigt ihn der Betriebsrat, für das schwierige Betriebsklima mitverantwortlich zu sein."
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Wissenschaft

Iranische Studenten sind erstklassig ausgebildet und hoch motiviert. Viele würden gern im Ausland weitermachen und seit die USA ein Einreiseverbot verhängt haben, steht auch Deutschland in der Wahl, berichtet Patrick Illinger in der SZ. Doch da steht der deutsche Amtsschimmel gegen: "Professoren und Studenten tun sich allerdings noch schwer mit der Kontaktaufnahme. Die Visapolitik Deutschlands wird als restriktiv wahrgenommen und die Wissenschaftslandschaft als schwer durchschaubar: 'DAAD, Max-Planck, DFG…', fragt ein Ingenieur, 'wer ist denn da für was zuständig?' Und ein Student meint, in Deutschland sei es wohl unüblich, einen Professor direkt anzuschreiben. Von amerikanischen Forschern bekomme man stets und prompt eine Antwort."
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Stichwörter: Iran