9punkt - Die Debattenrundschau

Auf jeden Fall: bitte anschnallen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.04.2017. Bestürzung herrscht über das starke Votum der Deutschtürken für Tayyip Erdogan: Hierfür ist auch die deutsche Politik verantwortlich, die die Ditib-Moscheen so förderte, meint Necla Kelek bei Emma.  Die taz mahnt: "Es gibt eine Türkei jenseits von Erdogan", die andere Hälfte, mit der Europa weiter zusammenarbeiten sollte.  Libération dekliniert die möglichen Konstellationen der ersten Wahlrunde in Frankreich durch: Klingt nicht gut. Im Observer registriert Nick Cohen die antisemitischen Töne gegen George Soros von Budapest bis Washington.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.04.2017 finden Sie hier

Europa

Schwerpunkt Türkei nach dem Referendum

Mit verantwortlich für den überwältigenden Wahlsieg Erdogans bei den Deutschtürken sind die Politik der doppelten Staatsbürgerschaft und die Stärkung der Moscheen und Islamverbände durch die deutsche Politik, besonders durch die Grünen und die SPD, schreibt Necla Kelek bei Emma: "Keiner dieser Fortschrittlichen und 'Antirassisten' hatte bis gestern auf die antidemokratischen Strukturen der Islam- und Kurdenvereine hingewiesen oder gar etwas dagegen unternommen. Dabei waren und sind sowohl die Moscheen -  die von der Türkei gelenkten DITIB-Moscheen, wie die aus Saudi-Arabien finanzierten der Muslim-Brüder oder der Milli Görüs, - und die orthodoxen Islamverbände Brutstätten der Erdoganpartei und der Abgrenzungspolitik von Muslime und Türkeistämmigen in Deutschland. 64 Prozent der Ja Stimmen wurden in den Moscheen in Deutschland organisiert. "

Noch finsterer liest sich die Rechnung Hamed Abdel-Samads bei Facebook, die allerdings die geringe Wahlbeteiligung der Türken in Deutschland nicht  einbezieht: "Nur 36 Prozent der Deutschtürken sind gegen das Ermächtigungsgesetz von Erdogan. Wenn man weiß dass 25 Prozent der hier lebenden Türken eigentlich Kurden/Aleviten sind, die so ein Gesetz aus existenziellen Gründen ablehnen und weitere christliche Assyrer und Aramäer, die auch gegen diese Verfassungsänderung sind, dann liegt die Zustimmungsquote für die Einführung der Diktatur bei den muslimischen nichtkurdischen Türken schon bei über 90 Prozent. Also sind die Türken in Deutschland gar nicht gespalten, was Erdogan angeht, wie es in der Türkei der Fall ist, sondern stehen geschlossen hinter dem Islamismus, dem Chauvinismus und der Todesstrafe."

Bei einigen deutschen Politikern gibt das Referendum einen Anstoß zum Umdenken berichtet Josef Kelnberger in der SZ. Etwa bei der grünen Landtagspräsidentin von Baden-Württemberg Muhterem Aras: "Baden-Württemberg hat von allen deutschen Flächenstaaten den höchsten Migrationsanteil und gilt als Musterland der Integration. Aber nun: Nirgendwo in Deutschland sind so viele Türken Erdoğan gefolgt wie im Südwesten. Die Grüne ahnt, dass nun eine Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft beginnen wird. Sie hielte es für scheinheilig, sie den Türken wegzunehmen. Aber ansonsten müsse die ganze Integrationspolitik auf den Prüfstand. Ein strengeres Auge auf den Moscheeverein Ditib, keine Gemeinnützigkeit mehr für die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), die als Hilfstruppe Erdoğans gilt. Keine türkischen Imame mehr in deutschen Moscheen."

Für Thomas Schmid von der Welt steht das Ergebnis des Referendums in der Türkei in einer Reihe mit der Brexit-Entscheidung und dem amerikanischen Votum für Donald Trump: "Die 'real people' haben die Eliten überstimmt, die Konservativen die Fortschrittlichen, die Gläubigen die Laizisten, die Fanatiker die Nachdenklichen, die Dummen die Schlauen. Polemisch formuliert: Die Nachzügler haben die Avantgarde, die Unproduktiven haben die Produktiven überstimmt. Der Staatsapparat hat gewonnen, die Wirtschaft verloren. Wie in Großbritannien und den USA auch wird diese Entscheidung das Land nicht einen, sondern noch weiter spalten. Und allen schaden."

Jügen Gottschlich mahnt in der taz: "Es gibt eine Türkei jenseits von Erdogan und es sollte eine Zusammenarbeit jenseits des förmlichen Beitrittsprozesses mit den 50 Prozent der türkischen Bevölkerung geben, die für die Demokratie und den Anschluss an den Westen gestimmt haben."

Höchst unglücklich über das Wahlergebnis zeigt sich der im Exil lebende türkische Journalist Yavuz Baydar in der SZ: "Im Rückblick lagen diejenigen richtig, die in einem nicht unproblematischen Vergleich die auffallenden Ähnlichkeiten zu den Ereignissen in Deutschland von 1933/34 betonten: der Reichstagsbrand, die Nacht der Langen Messer, das Referendum über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs. Kein Wunder, dass diejenigen, die angesichts dieser Vergleiche zunächst bloß mit den Schultern zuckten, nun in einen Schockzustand verfallen sind. Besonders, als sie die Siegesrede Erdogans am Sonntagabend hörten. Mit scharfer Rhetorik versprach da der türkische Präsident einer ekstatischen Menge, dass die Wiedereinführung der Todesstrafe nun höchste Priorität habe."

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Vier Kandidaten können in Frankreich in die zweite Runde kommen. Laurent Joffrin, Chefredakteur von Libération, geht die möglichen Wahlausgänge der ersten Runde am Sonntag durch. Nur die beiden Bestplatzierten gehen in die zweite Runde. Am wahrscheinlichsten ist die Konstellation Le Pen - Macron, am finstersten, aber keineswegs unmöglich, wäre die Konstellation Le Pen - Jean-Luc Mélenchon, also Rechts- gegen Linkspopulismus: "Triumph des Antisystem-Votums. Die Elite ist k.o., die Moderaten beider Lager sind es auch. Europa wird die große Verliererin sein. Im Prinzip werden die Republikaner der Linken und der Rechten gegen Le Pen stimmen. Aber den Wählern Fillons wird es schwerfallen, den Sieg Mélenchons abzusichern. Auf jeden Fall: bitte anschnallen..."

Recht ratlos liest sich der große FAS-Artikel des Feuilletonlieblings Didier Eribon zu den französischen Wahlen. Emmanuel Macron ist für ihn nur ein Kandidat des Neoliberalismus, aber auch Jean-Luc Mélenchon ist nicht recht nach seinem Geschmack. Denn die Identitätenpolitik der akademischen Linken will Eribon nicht aufgeben: "Als ob die Rechte von Frauen, von Schwarzen, von sexuellen Minderheiten, Migranten oder ökologische Fragen nur egoistische Anliegen der Mittelschicht seien, denen man als den einzig wichtigen Kampf den sozialen und wirtschaftlichen entgegenstellen müsste. Solche Aussagen tragen in Wahrheit zu der faschistoiden Stimmung bei, die sich immer weiter ausbreitet und in der Antifeminismus, Homophobie und Migrantenfeindlichkeit unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Neoliberalismus immer aggressiver zum Ausdruck kommen."
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Urheberrecht

Im Europaparlament beginnt nun die Beratung über die geplanten Urheberrechtsreformen, die auch das von Zeitungen gewünschte europäische Leistungschutzrecht einschließen. Es wird schön chaotisch werden, meint Leonhard Dobusch bei Netzpolitik: "Die Abgeordneten sind alles andere als zufrieden mit dem Vorschlag der Kommission. Neben Streichungen finden sich unter den Änderungsanträgen Dutzende Vorschläge für völlig neue Bestimmungen. Gleich mehrere Abgeordnete haben beispielsweise Ideen für eine Legalisierung nutzer-generierter Inhalte wie Meme." Netzpolitik stellt auch eine Petition vor, die in diesem Zusammenhang  "Mehr Freiheiten für Lehrende" fordert.
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Politik

Kongo ist nur ein Beispiel. Afrika wird immer mehr zu einem weißen Fleck auf der Landkarte der Medienberichterstattung, schreibt Dominic Johnson in der taz: "Selbst bei Konflikten, über die es regelmäßig Nachrichten gibt, hat sich die Weltöffentlichkeit daran gewöhnt, nichts wirklich zu wissen. Zu der Islamistenarmee Boko Haram in Nigeria oder al-Qaida in Mali gibt es schlicht keinen Zugang. Von den Milizen, die gerade wieder in weiten Gebieten der Zentralafrikanischen Republik Terror verbreiten, weiß die internationale Öffentlichkeit noch viel weniger, oft nicht einmal die Namen. Ebenso wenig Wissen gibt es über viele Kriegsakteure in Südsudan - oder eben auch darüber, wer genau Kasais Savanne in ein Schlachtfeld verwandelt."

Überall, nicht nur in Ungarn oder Polen, sondern bis hin in die USA Donald Trumps, wird George Soros mit antisemitischen Argumenten als Verschwörer diffamiert, schreibt ein alarmierter Nick Cohen im Observer: "Ginge es nach mir, dürften Milliardäre kein Geld an Politiker verteilen, auch nicht Milliardäre, deren Ansichten ich teile. Doch über Soros ergießt sich ein Hass, der weit über politischen Groll hinausgeht. Der satanische Einfluss, der dem Mann zugeschrieben wird, der als Kind den Holocaust überlebt und nach dem Fall der Berliner Mauer seinen Reichtum benutzt hat, um eine Rückkehr des Fremdenhasses in Europa zu verhindern, ist nicht normal. Nicht einmal annähernd. Er ist ein deutliches Zeichen für die Krise des Konservatismus, der die freien Gesellschaften in dem Teil der Welt bedroht, den wir 'den Westen' genannt haben."
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Ideen

In der SZ-Reihe zur Globalisierung verteidigt heute der Frankfurter Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe die Globalisierung, die - weltweit gesehen - mehr Wohlstand bringe: "Das muss nicht heißen, die Globalisierung einfach geschehen zu lassen und auf jede politische Gestaltung zu verzichten. Mit dem deutschen Ökonomen Friedrich List (1789-1846) gesprochen, läge aber eine Entfaltung der 'produktiven Kräfte' etwa durch Bildungsanstrengungen und ein Schutz der Globalisierungsverlierer durch sozialstaatliche Maßnahmen sehr viel näher als die Bekämpfung einer globalen Arbeitsteilung, deren positive Effekte insgesamt unstrittig sind."
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Wissenschaft

In der SZ stellt Christopher Schrader in einer Reportage das von dem Physiker Neil Turok gegründete Mathematik-Internat "African Institute for Mathematical Sciences" (Aims) bei Kapstadt vor: "In seiner Dankesrede für einen Preis der gemeinnützigen Organisation Ted sagte Turok 2008: 'Wenn Afrika gerettet werden kann, dann von den jungen Leuten, nicht von uns.' Er wünsche sich, dass der nächste Einstein aus Afrika kommen werde, und am besten auch die nächsten Gates, Brins und Pages. Dazu zeigte Turok eine Weltkarte, bei der die Fläche der Länder nach ihrem Anteil an den wissenschaftlichen Publikationen verzerrt worden war. Während die USA, Großbritannien oder Deutschland wie aufgepumpt wirkten, baumelte Afrika wie eine knittrige Krawatte vom Stiernacken Europas. Der Anblick habe ihn schockiert, sagte der Physiker."
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