9punkt - Die Debattenrundschau

Im metaphorisch Ungefähren

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.04.2017. Theresa Mays Vorstoß zu Neuwahlen ist ein Schlag ins Gesicht aller Brexit-Gegner, meint Anne Perkins vom Guardian, aber es ist ein kluger Schachzug, entgegnet ihr Kollege Jonathan Freedland. Beim türkischen Referendum hat in Wahrheit niemand gewonnen, nicht mal Erdogan, schreibt Bülent Mumay in der FAZHuffpo.fr analysiert die falschen Versprechen der Populistinnen und Populisten. Und in der NZZ macht Karl-Heinz Ott Schluss mit postmoderner Ironie.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.04.2017 finden Sie hier

Europa

Angesichts des desolaten Zustands der Opposition ist Theresa Mays Vorstoß für vorgezogene Neuwahlen ein Schlag ins Gesicht all der Briten, die in der EU bleiben wollten, schreibt eine zornige Anne Perkins im Guardian. "Sie wird mit Sicherheit eine große Mehrheit einfahren, die es ihr erlauben wird, die Brexit-Verhandlungen zu führen wie sie will. Es wird keine Verpflichtung mehr für sie geben, die Ansichten der Minderheit zu berücksichtigen. Sie wird die Remainer in England gänzlich entmachtet lassen. Sie hat ein schottisches Referendum unvermeidlich gemacht und eine   Abstimmung über die Grenze in Nordirland unendlich wahrscheinlicher. Sie setzt die Politik in einer Weise zurück, die die Gräben noch vertieft. Wir werden diesen Tag alle bereuen."

Ein kluger Schachzug - denn natürlich hat Theresa May von den früheren Neuwahlen viele Vorteile, meint dagegen Jonathan Freedland ebenfalls im Guardian: "Der offensichtlichste hat mit dem Verlassen der EU zu tun. Brexit hat jetzt ein doppeltes Mandat. Nicht zufrieden mit dem Referendum von 2016 hat May entschieden, diese Entscheidung mit einem Wahlsieg zu besiegeln. E wird den wahrscheinlichen Sieg des 8. Juni als Bekräftigung ihrer Brexit-Strategie verbuchen. Die Remainer werden zu verkraften haben, dass der Abschied von der EU vom britischen Volk innerhalb eines Jahres doppelt bestätigt wurde."


Jane Winterson sieht sich im Guardian die immer sehr instruktiven Cover der konservativen und Yellow Press an, allen voran der Daily Mail: "Beherrscht von einer riesigen Nahaufnahme einer maliziös lächelnden Premierministerin, sagt die Überschrift, dass May beschlossen habe, 'die Saboteure zu zerschmettern'. Kein Zweifel, wer diese Vandalen sein sollen, einerseits ungewählte Mitglieder des House of Lords und andererseits die 48 Prozent der Wähler, die nicht für den Brexit stimmten." Die schottische Ausgabe der Daily Mail titelt übrigens anders.

Die Soziologen Smaïn Laacher und Cédric Terzi analysieren in huffpo.fr den Diskurs der Populisten, sowohl der Rechtspopulistin Marine Le Pen als auch des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon, dessen Maxime lautet "Egal was das Problem ist, die Lösung ist das Volk": "Dem von den Kandidaten angerufenen Volk stehen als antithetische Figur die 'Eliten' gegenüber, denen die Wurzeln in der Nation fehlen. Sie werden als 'System' angeprangert, und wer der Elite angehört ist vor allem Agent ihrer Reproduktion. Die Interessen der Elite können nicht denen des Volks entsprechen, abgrundtief klafft die soziale und kulturelle Distanz zu den Massen. Diese Opposition zu den 'Eliten', die mit dem Anspruch verbunden wird, das Volk zu verkörpern, ist als wesentlicher Ausdruck des Populismus zu kritisieren: Wie soll eine Repräsentation dies Versprechen halten, da in ihr die Trennung doch unweigerlich festgeschrieben ist? Durch welches Wunder sollen die selbsternannten Repräsentanten des Volks zugleich mit ihm verschmelzen?"

Marc Zitzmann unterhält sich für die NZZ mit zwei französischen Lehrern, die die Laizität in ihrer heutigen Form kritisieren, weil sie sich zu stark gegen Muslime richte. Früher habe man mehr Augenmaß walten lassen, meint die Lehrerin Florine Leplâtre: "Das Gebot der Neutralität, das einst bloß für die Institution galt - für die Lehrer, die Programme, die Räumlichkeiten -, hat der neue Laizismus auf die Nutzer ausgedehnt. Schüler sollen ihren Glauben nicht zur Schau tragen, ja am besten gar nicht erwähnen. Aber wie kann ich als Französischlehrerin eine Diskussion über Blaise Pascal anstoßen oder über die Gründermythen, wenn niemand im Klassenzimmer sich traut, auf die religiöse Komponente dieser Texte hinzuweisen?"

Das Ja des türkischen Referendums wurde durch Einschüchterung und wohl auch Mauschelei erreicht, schreibt Bülent Mumay in der FAZ. Und "im Grunde bedeuten die Ergebnisse für niemanden einen Sieg. Vor allem nicht für Erdogan. Istanbul, 1994 von ihm selbst und seither von seiner Partei regiert, stimmte mit Nein. Nach vielen Jahren verlor er auch die Hauptstadt Ankara. Siebzehn von dreißig Großstädten, darunter die Industriezentren und Tourismusmetropolen, sagten nein zur Palastregierung."

In der FR sieht Arno Widmann das Referendum in der Türkei als Menetekel für die EU - die EU Viktor Orbans. "Europa ist nur in unserer Fantasie der Hort von Freiheit und Demokratie. Europa zerbröckelt nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch. ... Das Referendum in der Türkei könnte uns helfen zu erkennen, dass wir wieder einmal in einer Phase leben, in der die Wölfe - demokratisch oder undemokratisch - sich die Freiheit genommen haben. Und da gilt: "Die Freiheit der Wölfe ist der Tod der Lämmer". Kein Wunder, dass in dieser Situation jeder ein Wolf sein möchte: 'Macht die USA, macht die Türkei, macht Frankreich, macht Indien, macht Deutschland, mach Großbritannien usw. wieder groß'. Jeweils natürlich auf Kosten der anderen. Am Ende werden sie allesamt wieder kleiner sein, als sie es waren, bevor sie aufbrachen, wieder groß zu sein."
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Geschichte

Neue historische Lektion des Front national: "Marine Le Pen behauptet, dass die Protestanten unter Richelieu 'Forderungen hatten, die dem Interesse der Nation widersprachen'", meldet die Website des Radiosenders Europe 1. Da blieb am Ende nur die Widerrufung des Edikts von Nantes und die Ausweisung der Protestanten nach Holland und Preußen!
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Medien

Oh je, Correctiv.org macht einen "Faktencheck" zu den Ansichten der AfD über die öffentlich-rechtlichen Anstalten. Und natürlich kommt in Anastasiya Polubotkos Artikel am Ende heraus, dass die AfD mit ihrer Kritik an den Anstalten ganz falsch liegt und wir in Wirklichkeit in der besten aller möglichen Welten leben: "Wissenschaftliche Erhebungen zeigen deutliche Unterschiede zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Sendern. Das Online-Angebot der Öffentlich-Rechtlichen wird zudem streng kontrolliert - und korrigiert, sollte dadurch der Wettbewerb gefährdet werden. Auch für die Behauptung, dass das vielfältige Medienangebot in Deutschland 'zu Lasten der Meinungsfreiheit' geht, gibt es keinen Beleg."
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Ideen

Historische Vergleiche, gern auch mit den dreißiger Jahren, liegen den Kommentatoren angesichts der politischen Umwälzungen überall auf der Zunge, beobachtet Nora Bossong in der taz und warnt: "Vielleicht aber liegt das neu erwachte Geschichtsbewusstsein nicht nur an den entschleunigenden Analysevorteilen, sondern zumindest ein Stück weit auch daran, dass man so die Frage, wie genau denn die Zukunft aussehen könnte oder sollte, noch ein wenig vor sich herschieben kann. Sogar eine genaue Beschreibung der Gegenwart kann umschifft werden, da man sich im metaphorisch Ungefähren aufhält."

Jetzt, wo auch ein amerikanischer Präsident auf den Wahrheitsbegriff pfeift, wachen viele Intellektuelle aus ihren postmodernen Träumen auf und finden sich in einer höchst ungemütlichen Wirklichkeit wieder, diagnostiziert in der NZZ der Schriftsteller Karl-Heinz Ott. "Bis heute glauben wir, dass Wissenschafter die Wahrheit verkünden, auch wenn wir betonen, dass Wahrheit nichts als ein soziales Konstrukt ist. Mit dieser Schizophrenie sind wir stets bestens zurechtgekommen, und sei es, weil sie uns gar nie bewusstgeworden ist. Allerdings wollten wir unseren Glauben, dass es keine objektive Wahrheit gibt, auch nur mit Leuten teilen, die sich politisch auf ähnlicher Linie bewegen. Die andern sollten sich gefälligst weiterhin an klare Wahrheiten halten. ... Jetzt stehen wir da und können nur stammeln: So war das nicht gemeint! Fragt sich nur, ob man es sich damit nicht zu leichtmacht."
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