9punkt - Die Debattenrundschau

Vom Gebrüll aufgeweckt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.04.2017. In der NZZ erklärt Pascal Bruckner, warum er den Begriff der "Islamophobie" bekämpft. In Le Monde attackiert der Politologe Thierry Pech das Geschichtsverständnis der Marine Le Pen. Die Berliner Zeitung wendet sich gegen den Entwurf von Herzog & de Meuron für ein Museum der Moderne in Berlin. In der taz erklärt die Historikerin López Maya, wie das chavistische Regime sich die Armen in den Barrios gefügig macht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.04.2017 finden Sie hier

Ideen

In der NZZ erklärt Pascal Bruckner, warum er die Gleichsetzung der Kritik an einer Religion mit Rassismus, die sich im Begriff "Islamophobie" ausdrückt, ablehnt. Zum einen seien Muslime keine Ethnie, zum anderen werde der Begriff "Islamophobie" in erster Linie dazu benutzt, muslimische Kritiker des Islams zu unterdrücken: "Wir sind so Zeugen der weltweiten Fabrikation eines neuen Meinungsdelikts, wie die Sowjetunion einst eines für Volksfeinde geschaffen hatte. Es geht darum, die jungen Frauen zu stigmatisieren, die den Schleier ablegen und ohne Scham barhäuptig auf die Straße gehen wollen, die ihren Gatten frei wählen und nicht aus der Hand von Verwandten empfangen möchten. Es geht darum, die Franzosen, Deutschen und Briten türkischer, pakistanischer, maghrebinischer und schwarzafrikanischer Herkunft zu geißeln, die das Recht auf religiöse Indifferenz einfordern und ihr Leben ohne die Unterwerfung unter die Gemeinschaft führen wollen, der sie entstammen."
Archiv: Ideen

Geschichte

Marine Le Pen hatte neulich behauptet, dass der Kardinal Richelieu recht hatte, die französischen Protestanten zu verfolgen (unser Resümee). Der Politologe Thierry Pech beleuchtet in Le Monde noch einmal den historischen Hintergrund, den Le Pen vergaß zu erwähnen: "Die Geschichte, auf die Marine Le Pen anspielt, beginnt nicht mit der Belagerung der (seinerzeit protestantischen, d.Red.) Stadt La Rochelle durch den Kardinal, sondern mit den Massakern von Massy und vor allem der Bartholomäusnacht, diesem Moment des Grauens, der über die Protestanten von Paris und anderer Städte eine nie dagewesene Welle ultrakatholischer Gewalt brachte. Noch zweihundert Jahre später wurde Voltaire vom Gebrüll aufgeweckt, das alle Jahre wieder am 24. August veranstaltet wurde."

Außerdem: Für die FAZ unterhalten sich Andreas Kilb und Jürgen Kaube mit Raphael Gross, Direktor des Deutschen Historischen Museums über "Sinn und Nutzen historischer Urteilskraft".
Archiv: Geschichte

Kulturpolitik


Gewinner des Realisierungswettbewerb "Das Museum des 20. Jahrhunderts": der Entwurf von Herzog & de Meuron. Blick von der Potsdamer Straße

Warum wird für das neue Museum am Berliner Kulturforum kein Städtebauwettbewerb ausgeschrieben, warum wird überhaupt so wenig über den von der Politik bevorzugten "Scheunen"-Entwurf von Herzog & de Meuron und Alternativen diskutiert, fragt Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung. Er unterstützt eine von der Berliner Galerie Aedes initiierte Petition auf change.org, ein Stangenmodell der "Scheune" zu errichten: "die Baumasse selbst kann so betrachtet und debattiert werden. Damit wird auch so manche Durchsetzungsstrategie durchschaubar: So fiel schon bei der Vorstellung der Siegerarbeit im Wettbewerb für das neue Museum der Kunst des 20. Jahrhunderts auf dem Berliner Kulturforum auf, dass Herzog & de Meuron nicht eine einzige Perspektivzeichnung ihres Projektes von der Terrasse der Nationalgalerie, von der Seite der Philharmonie oder von derjenigen der Matthäuskirche aus zeigten. Sie hätte klar gemacht, dass etwa von der Neuen Nationalgalerie aus nur noch ein riesiger Ziegelgiebel zu sehen sein wird und die zierliche Kirche von dem Neubau schlichtweg verdeckt würde."
Archiv: Kulturpolitik

Wissenschaft

Eine Reihe prominenter Wissenschaftler protestiert in einem von der FAZ veröffentlichten Appell gegen die vom Orban-Regime betriebene Schließung der Central European University in Budapest: "Nachdem der ungarische Staatspräsident die Gesetzesnovelle am 10. April unterzeichnet hat, ist mit einer Korrektur der Gesetzgebung in Ungarn nicht mehr zu rechnen. Deshalb fordern wir die europäischen Regierungen und insbesondere die Europäische Kommission dazu auf, geeignete Schritte, gegebenenfalls ein Vertragsverletzungsverfahren, einzuleiten, um zu gewährleisten, dass die Central European University weiterhin in Budapest arbeiten kann."

Im Guardian kann der britische Autor Tibor Fischer die Aufregung nicht nachvollziehen.

Außerdem: In der taz macht Manfred Ronzheimer auf einen morgen stattfindenden "March for Science" aufmerksam, der sich unter anderem gegen Donald Trumps Klimaleugnerei wenden soll. In der FAZ erklären der Politologe Karsten Fischer und der Mediävist Peter Strohschneider, warum sie den "March for Science" unterstützen.
Archiv: Wissenschaft

Politik

In Venezuela wird Tag für Tag gegen das Regime demonstriert, das es im ölreichsten Land der Welt nicht schafft, die Bevölkerung zu versorgen. Selbst bei den Armen geht die Unterstützung für den Chavismus zurück, erzählt die Historikerin López Maya im Gespräch mit Jürgen Vogt von der taz: "In manchen Barrios sind die Chavistas fast schon in der Minderheit. Aber die dortige Bevölkerung hat kaum Möglichkeiten, ihre Unzufriedenheit offen zu zeigen. Eingeschüchtert wird sie von den Colectivos, den regierungstreuen bewaffneten paramilitärischen Gruppen, die die Barrios kontrollieren. Eine andere Form der Kontrolle sind die seit einem Jahr bestehenden Lokalen Komitees für Versorgung und Verteilung (CLAP), über die gerade die Menschen in den Barrios mit Nahrungsmitteln und anderen Basisprodukten versorgt werden."
Archiv: Politik
Stichwörter: Venezuela

Gesellschaft

Die taz veröffentlicht ein geheimes Regierungsdokument, das zeigt, dass Dieselautos in der Realität viel mehr Kraftstoff verbrauchen als laut offiziellen Angaben (hier der Bericht). Verkehrsminister Alexander Dobrindt geht defensiv mit den Daten um, kritisiert Bernhard Pötter: "Einer der wichtigsten deutschen Industrien nicht am Lack zu kratzen, ist so nachvollziehbar wie kurzsichtig. Denn die schützende Hand der Politik verschont die Autobauer mit Anforderungen an Effizienz, Klimaschutz und Innovation, die auf dem Weltmarkt gefragt sind. Vielleicht sind die großen Konzerne in Stuttgart, Wolfsburg und München bald nur noch Verkaufshäuser von Mobilen, die im Silicon Valley und in China gebaut werden."
Archiv: Gesellschaft