9punkt - Die Debattenrundschau

Russischer Siegestanz

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.05.2017.  Die Chefredakteure der New York Times schreiben einen Offenen Brief an den Generalstaatsanwalt mit der dringenden Bitte, einen neuen Ermittler gegen Trump einzusetzen. Wieso Angst haben vor Künstlicher Intelligenz, wenn wir ohnehin fremdbestimmt sind, meint Yuval Noah Harari in der Welt.   Die NZZ erklärt, warum ein philosophischer Jutesack nichts von der Zukunft der Autos weiß.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.05.2017 finden Sie hier

Politik

Vor dem Hintergrund der Entlassung des FBI-Chefs  James Comey durch Trump, die die ganze amerikanische Presse in Aufruhr versetzt, wirkt der "russische Siegestanz" im Weißen Haus noch ein bisschen unheimlicher - zumal die Fotos, die Trump beim herzlichen Händeschütteln mit dem russischen Botschafter zeigen, vom russischen Außenministerium verbreitet wurden, während das amerikanische Pressekorps keinen Zugang hatte. Und der russische Außenminister Sergei Lawrow machte Witze über Comeys Entlassung. Susan B. Glasser, die Politico-Korrespondentin im Weißen Haus erzählt: "Lawrows Besuch war der erste im Weißen Haus seit 2013 und geschah mehrere Jahre, nachdem die Obama-Regierung ihm Audienzen im Weißen Haus schlicht untersagt hatte, sagen mir zwei Mitarbeiter des Hauses: 'Die Russen haben uns seit Jahren belagert', sagt ein Mitarbeiter."

Die Entlassung des FBI-Chefs James Comey, Zeugenaussagen und "erdrückende Indizien"  machen für Richard Herzinger in der Welt immer klarer, dass Donald Trump und der russische Geheimdienst tatsächlich kooperiert haben: "Je länger Trump all das pauschal abstreitet und sich mit Ausflüchten, Lügen und haltlosen Gegenanschuldigungen in Widersprüche verwickelt, umso mehr nährt er den Verdacht, dass er Gravierendes zu verbergen hat. Erhärtet sich das und stellt sich heraus, dass Trump über seine Verbindungen zu einer den USA gegenüber feindseligen fremden Macht gelogen hat, kann und sollte dies das Ende seiner Präsidentschaft bedeuten."

Das Editorial Board der New York Times greift nach der Entlassung Comeys zu einer etwas seltsam anmutenden Maßnahme und veröffentlicht einen "offenen Brief an den Deputy Attorney General Rod Rosenstein", den höchsten Juristen des Landes nach dem Justizminister, den die Redakteure der Times auffordern, einen Sonderermittler einzusetzen, um Trumps russische Liaisons zu erforschen: "Lieber Generalstaatsanwalt, selten hatte eine einzelne Person eine solche Verantwortung für die Rettung der amerikanischen Demokratie wie Sie in diesem Moment. Selbst vor President Trumps schockierender Entscheidung, den FBI-Direkteor James Comey zu entlassen, um gab eine dunkle Wolke des Verdachts diesen Präsidenten und den Wahlprozess, der ihn ins Amt führte..."
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Europa

Dem Phänomen Macron fügt dieses Tweet einen Aspekt hinzu: Macron spielt kurz mal eine Molière-Szene:


Endlich wieder ein Präsident, der Literatur liebt, konstatiert auch Marc Zitzmann in der NZZ: "Kurz vor der Volljährigkeit verfasst der laut eigener Aussage 'exaltierte' Jüngling einen Briefroman über den letzten Inka, dem zwei weitere Romane sowie Gedichte folgen - nichts von alldem wurde publiziert."
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Stichwörter: Macron, Emmanuel, Moliere

Internet

Fast vergessen schien die in memoriam Frank Schirrmacher Ende letzten Jahres lancierte EU-Digitalcharta, die von Martin Schulz, einigen Zeitungslobbyisten, aber auch Netzprominenz wie Sascha Lobo formuliert wurde und vor allem dadurch auffiel, dass sie kulturkonservative Bedenken gegen die Digialisierung aufnahm (unser Resümee). In seinem Resümee der "re:publica" berichtet Fridtjof Küchemann im FAZ.net, dass man sich dort nciht recht über das weiter Fortfahren mit diesem Dokument einigen konnte: "Alle staunten, wie kompliziert es ist, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Jeder, der bei der Charta mitgemacht hat, finde, wie es der beteiligte Journalist Heinrich Wefing ausdrückte, Punkte darin, 'da kriegt er Pickel'."

Außerdem: In seiner Spiegel-online-Kolumne begründet Sascha Lobo, warum der Kampf um Netzneutralität auch ein Kampf um Meinungsfreiheit ist.
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Ideen

Künstliche Intelligenz? Macht dem Zukunftsforscher Yuval Noah Harari keine Angst. Dann haben Algorithmen eben künftig politische und ökonomische Macht über uns, meint er im Interview mit der Welt: "Ähnliches geschieht heute bereits in der Wirtschaftspolitik, wo sich die Politiker einer Illusion von Wahlfreiheit hingeben, aber die wirklich wichtigen Entscheidungen zuvor von Ökonomen und Bankern getroffen wurden. Sie stellen das Menü zusammen, aus dem die Politiker auswählen. Oder die Most-Wanted-Liste der meistgesuchten Terroristen. Noch entscheidet der US-Präsident, ob jemand davon exekutiert werden soll. Aber die Liste selbst wird bereits heute von künstlicher Intelligenz auf der Grundlage riesiger Datenmengen erstellt."

Der Nationalstaat ist am Ende, weil er nicht mehr zwischen Kapitalismus und Demokratie ausgleichen kann, erklärt der Philosoph Christoph Menke im Interview mit der Zeit. Helfen könne nur noch eine Entzweiung der Freiheit in uns selbst. Gemeint ist die Freiheit des egoistischen Subjekts einerseits und die politische Freiheit andererseits, die uns das Allgemeine, die Gleichheit aller wollen lässt: "Der Liberalismus vergegenständlicht diese beiden Seiten. Das egoistische Subjekt nimmt sich so hin, wie es nun mal ist - und der andere Teil in ihm ist gesetzestreu. Damit hat die liberale Ordnung die beiden Freiheits­momente jeweils getrennten Sphären zugeordnet, der ökonomischen und der staatlichen. Und in der Trennung der beiden Momente verlieren sie ihre befreiende und überschreitende Kraft. Beide Seiten werden im Liberalismus unfrei." Das würde sich erst ändern, "wenn die beiden Seiten ineinander eingreifen, einander herausfordern und verändern würden. Erst dann wären sie Momente der Freiheit."
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Gesellschaft

Navid Kermani ist fürs Zeit-Feuilleton nach Weißrussland gereist: rechts und links Massengräber der Nazis und Stalinisten, in der Mitte das Sperrgebiet um Tschernobyl, wo noch genau zwei Menschen leben. "'Sind es Brüder?', frage ich, weil ich mir ir­gendeine Art der Verbundenheit vorstellen muss, damit man es in der Einsamkeit, der Stille und der Gefahr aushält. 'Nein, einfach zwei Männer.' 'Und die leben zusammen?' 'Nein, nein, in zwei Häusern', sagt der Wärter. 'So verdorben ist unser Volk noch nicht', merkt der Biologe an und lacht."

Der Literaturwissenschafter Marcel Schmid fragt in der NZZ nach dem Lust- und Kulturobjekt Auto und nach dem Wandel, der ihm durch die Automatisierung des Fahrens bevorsteht - und er wundert sich, dass das Auto in kulturwissenschaftlichen Diskursen in Deutschland fast gar keine Rolle spielt: "Debatten über Alltagsgegenstände sind da viel stärker als beispielsweise in Frankreich, England und den USA durch eine Allianz von linksliberalen Kulturwissenschaften und der Ökobewegung geprägt. Das mag daran liegen, dass sich im deutschsprachigen Raum die 'Zurück-zur-Natur-Romantik' der Lebensreformbewegung deutlicher als anderswo in einem intellektuellen Diskurs etabliert hat."

Der Soziologe Austin Choi-Fitzpatrick hat für sein Buch "What Slaveholders Think" mit heutigen Sklavenhaltern gesprochen. Im interview mit Juliane Liebert in der SZ spricht er über seine Forschungsergebnisse: "Bei Sklaverei geht es nicht mehr um Besitz. Es gibt keine Quittung für den Menschen. Es geht nur um Kontrolle. Wie üben sie diese Kontrolle aus? Überwachung funktioniert am besten, wenn du in einer Beziehung zu deinem Opfer stehst. Wenn du weißt, wann die Person Geld braucht. Die Sklavenhalter sagten mir also: 'Ich warte auf die Momente, in denen die Arbeiter schwach sind. Dann helfe ich ihnen. Dann schulden sie mir was.'"

Gerhard Matzig äußert sich nach der Lektüre von Mazda Adlis Buh "Stress in the City" in der SZ ratlos: "Zugespitzt ließe sich befürchten: Auf dem Land kann man nicht leben, weil es dort keine Zukunft gibt; aber in der Stadt kann man leider auch nicht leben, weil man dort krank wird. Was tun?"
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