9punkt - Die Debattenrundschau

Der Neffe in der Bank

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.05.2017. Der Economist stößt auf die Grenzen von Angela Merkels Unauffälligkeit. Politico sieht an die Stelle des alten Klassenkampf einen Antagonismus linker und rechter Nationalismen treten. Die NZZ macht für den Aufstieg des Autoritarismus in Osteuropa auch den Raubtierkapitalismus der Transformation verantwortlich. Slate.fr diagnostiziert bei den Europäern einen Überlegenheitskomplex. Nichts gegen die öffentliche Stadt, meint die taz, aber die Smart City hat damit nichts zu tun. Und Spiegel Online fürchtet, dass Desinformation einfach immer funktioniert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.05.2017 finden Sie hier

Politik

Drei Sätze Angela Merkels haben einen riesigen Widerhall in Amerika: "Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. Das habe ich in den letzten Tagen erlebt." Und: "Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen." Der Economist schreibt dazu in einer Rubrik namens "Kaffeeklatsch", dass Merkel damit nach Brexit und Trump einerseits und der Wahl Emmanuel Macrons andererseits einen Bruch vollzieht: "Bei vielen Themen von europäischer Verteidigung bis zu europäischen Verträgen hat sich ihr Ton subtil verändert: hin zu etwas Kühnerem, Offenerem und weniger Geschäftsmäßigem. So funktioniert Merkel. Sie ist unauffällig in ihrer Anpassungsfähigkeit - bis sie es nicht mehr ist."

Auf Slate.fr deutet Yascha Mounk an, dass die Europäer eigentlich ganz verrückt nach Donald Trump seien: "Gerade weil er alles repräsentiert, was die Europäer an Amerika verabscheuen, bestätigt Trump all ihre Überzeugungen. Tatsächlich verachten die Europäer die Amerikaner wie der philosophische Onkel seinen Neffen in der Bank und die schöne Geliebte in seinen Armen. Um einen Begriff aus der Psychologie zu verwenden: Die Europäer leiden unter einem Überlegenheitskomplex."
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Europa

Der frühere Warschau-Korrespondent Reinhold Vetter macht in der NZZ für den Aufstieg des Autoritarismus in Polen, Ungarn und Tschechien auch Versäumnisse vorangegangener Regierungen verantwortlich, besonders im wirtschaftlichen Bereich: "Direktoren vormaliger sozialistischer Staatsunternehmen verwandelten sich in private Eigentümer 'ihrer' Firmen. Minister postkommunistischer Parteien verdienten sich eine goldene Nase, wenn sie staatliche Unternehmen an ausländische Investoren verkauften. Die Suche nach den Hintergründen für den Aufstieg der Rechten in Ostmittel- und Südosteuropa führt auch zu der Tatsache, dass die dortigen Verantwortlichen in Politik, Pädagogik, Kultur und Medien in den letzten 25 Jahren wenig dafür getan haben, den Sinn der Menschen für die Rolle und die Aufgaben des Staates, für die Dreiteilung der Staatsgewalt und für den Rechtsstaat zu fördern."

An die Stelle des in Britannien früher üblichen "Klassenkampfs" ist ein Clash verschiedener neuer Nationalismen entstanden, schreibt David Torrance bei politico.eu. "Britische Konservative wie Theresa May mögen Identitätspolitik, wie sie in Amerika und ganz Europa um sich greift, verachten. Aber sie spielen zugleich dasselbe Spiel - wie die Premierministerin jüngst zeigte, als sie Jeremy Corbyn vorwarf, nicht für 'stolze und patriotische Menschen aus der Arbeiterklasse' einzustehen. In gleicher Weise polemisiert sie gegen den schottischen Nationalismus und spricht von 'Extremisten'  und 'Separatisten', auch wenn die eigenen Slogans der Tories wie ein Echo der Scottish National Party klingen."
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Überwachung

Mit Sorge beobachtet Constanze Kurz in der ihrer FAZ-Kolumne, wie sich biometrische Überwachung, oft über Umwege, immer weiter durchsetzt: "Das Vorratsspeichern von körpereigenen Daten schleicht sich in unser Leben. Landesweite Biometrieprojekte weltweit erfahren zwar auch Kritik, aber das Argument 'Sicherheit' bleibt schwer auszuhebeln, selbst dann, wenn nicht einmal die Sicherheit der Daten garantiert ist. Ein einzelner sinnvoller Anwendungsfall reicht oft, um eine nationale Erhebung loszutreten und die abstrakte Idee des Datenschutzes zu entkräften."
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Internet

Facebook hat sich erstmals in einer dürren, nirgends in voller Länger zu findenden Erklärung gegen das von Heiko Maas betriebene Netzwerkdurchsetzungsgesetz gewandt, melden die Agenturen, hier etwa bei Zeit online. In dem Text heißt es: "Der Rechtsstaat darf die eigenen Versäumnisse und die Verantwortung nicht auf private Unternehmen abwälzen. Die Verhinderung und Bekämpfung von Hate Speech und Falschmeldungen ist eine öffentliche Aufgabe, der sich der Staat nicht entziehen darf."
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Gesellschaft

Die Idee der vernetzten "Smart City" sei nur eine durchschaubare Strategie von Konzernen wie "Oracle, IBM und Co.", Zugriff auf Städte und Bürgerdaten zu gewinnen, meint Julia Manske vom Berliner Thinktank Stiftung Neue Verantwortung in der taz: "Es werden auch Unmengen persönlicher Daten und Bewegungsprofile der Bevölkerung gesammelt. Der Widerstand der Datenschützer ist hier durchaus nachzuvollziehen. Er richtet sich nicht gegen die Veröffentlichung von Busplänen, Wetterdaten, Straßendaten, Daten über öffentliche Gebäude oder Haushaltspläne. Diese sollten unbedingt von Städten genutzt und frei zur Verfügung gestellt werden. Kritisiert wird die Sammlung und Nutzung der Bürgerdaten."
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Medien

Christian Stöcker schildert bei Spiegel online anhand einiger Beispiele, wie digitale Desinformation durch Phishing Mails, gefälschte Leaks in Kooperation mit russischen Staatsmedien funktioniert und macht auf eine anthropologische Konstante aufmerksam: Ein Gerücht bleibt selbst nach der Richtigstellung "hängen": "Die Entkräftung kann sogar dazu führen, dass ein Gerücht noch eher als korrekt erinnert wird - einfach, weil es aufgrund der Wiederholung einfacher wird, sich an das Gerücht zu erinnern. Stichwort: Verfügbarkeitsheuristik. Bei Menschen, die Verschwörungstheorien zuneigen, gibt es sogar Hinweise, dass sie sich noch stärker ihren Echokammern zuwenden, wenn sie mit Richtigstellungen konfrontiert werden."
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Ideen

Der Stuttgarter Junior-Philosoph Philipp Hübl erklärt sich in der NZZ Dispositionen im politischen Denken mit vorgeschichtlichen Prägungen, genauer gesagt dem "Dilemma der Allesfresser": "Ekel ist derjenige Mechanismus, der uns vor Schadstoffen schützt: Wir ekeln uns vor Kadavern, Körperflüssigkeiten und verdorbenem Essen. Sie alle können gefährliche Keime übertragen. Doch die Neophobie macht nicht beim Essen halt. Probanden, die während eines Interviews üble Gerüche ertragen mussten, gaben zu politischen Fragen klar konservativere Antworten als die Vergleichsgruppe. Kurz gesagt: Ekel macht konservativ."

Außerdem: FAZ.Net bringt die Laudatio Christan Berkels, des einzigen Jurors, auf den Börne-Preisträger Rüdiger Safranski. Safranskis eigene Rede mit einer Hommage auf Ludwig Börne ist in der FAZ abgedruckt.
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Geschichte

In der FR unterhält sich Arno Widmann mit Raphael Gross, dem neuen Direktor des Deutschen Historischen Museums in Berlin, über die Stellung des Historikers, das Sammeln und die Frage, wer ins Foyer des Museums gehört: Bismarck? Friedrich II., Lenin? "Die Versuchung, so darüber nachzudenken, dass man sich fragt, mit wem eigentlich die deutsche Geschichte anfängt oder wer sie entscheidend geprägt hat, ist groß. Mir wäre es aber lieber, wenn man die Eingangshalle so gestaltet, dass man sich dort gerne trifft, und etwas hat, worüber man nachdenken kann, wenn man auf jemanden wartet. Vielleicht Statuen von Personen, zwischen denen man sich ein interessantes Gespräch vorstellen könnte, das leider so nicht stattgefunden hat?"

Im Welt-Interview mit Matthias Heine findet der Kölner Germanist Karl-Heinz Göttert irgendwie illegitim, dass sich das Christentum aus dem Judentum heraus entwickelt hat: "Das Christentum hat sich das Alte Testament gegen den Willen der Juden angeeignet. Insofern finde ich die Formulierung 'feindliche Übernahme', die aus der Wirtschaft stammt, durchaus geeignet: Da ist etwas gegen den Willen der Eigentümer oder Hersteller geschehen." Wie gut, dass es endlich ein Leistungsschutzrecht gibt!
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