9punkt - Die Debattenrundschau

So ist Leitkultur

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.06.2017. In der Welt verteidigt Architekt Frank Stella das Kreuz auf der Kuppel des Humboldt-Forums. Konföderation statt Zweistaatenlösung - damit könnten sich sogar die israelischen Siedler anfreunden, hofft die Politikanalystin Dahlia Scheindlin in der taz. In der NZZ beschreibt Sonja Margolina Russland als Land der Fassaden. Die Columbia Journalism Review hört gerappte Nachrichten im Senegal. Spon und Zeit online sehen uns mit fünf neuen Gesetzen in den Überwachungsstaat rutschen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.06.2017 finden Sie hier

Kulturpolitik

Im Streit um das Kreuz auf dem Humboldt-Forum meldet sich in der Welt Frank Stella, Architekt der Stadtschlossrekonstruktion, zu Wort. Selbstverständlich muss das Kreuz wieder auf die Kuppel, meint er. "Sollte sich der Respekt vor den Anders- und Nichtgläubigen durch die Verdrängung der Geschichte manifestieren? Ich denke, dass die zivilgesellschafliche Bedeutung der Rekonstruktion des Berliner Schlosses eher die Sichtbarmachung der Geschichte sein soll, als der Anlass, unsere gespaltenen Meinungen und Ängste der Geschichte gegenüber auszudrücken." Im übrigen, erklärt er, sei das Kreuz mitnichten eine Danksagung an Gott für die erfolgreiche Niederschlagung der 48er Revolution gewesen. "Stattdessen war das Kreuz bereits im Entwurf Stülers zu einer überkuppelten Kapelle - die sich schon seit einigen Jahren im Bau befand - enthalten. Und eine Kuppel mit Kreuz war schon im 18. Jahrhundert im ursprünglichen Entwurf des Architekten Johann Friedrich Eosander zum westlichen Portal vorgesehen."
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Politik

In Israel hat es die Linke zu weiten Teilen aufgegeben, gegen die israelischen Siedlungen zu kämpfen. Statt dessen entwickelt sich ein neuer Ansatz, erklärt die israelische Politikanalystin Dahlia Scheindlin in der taz: Konföderation statt Zweistaatenlösung. "Statt einer harten Trennung geht es bei diesem Ansatz um eine durchlässige Grenze. Den Bürgern beider Staaten wäre es erlaubt, die Grenze für Reisen, Freizeit, Arbeit oder sogar zum Wohnen zu überschreiten, es sei denn, sie stellen ein Sicherheitsrisiko dar. Diese Regelung würde die jetzt üblichen kollektiven Einschränkungen ersetzen. Statt Massen von Siedlern zu entwurzeln, wie es die Zweistaatenlösung erfordern würde, ermöglicht dieser Ansatz Neues: Er erlaubt Bürgern beider Seiten, mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht auf der anderen Seite zu leben - unter den dort geltenden Gesetzen und mit allen Rechten außer dem nationalen Wahlrecht, das nur im Herkunftsland ausgeübt werden könnte (arabische Bürger Israels könnten sich für eine Staatsangehörigkeit entscheiden oder beide annehmen)."
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Geschichte

Das Potemkinsche Dorf ist im Russland Putins zur Dauereinrichtung geworden, schreibt Sonja Margolina, die dem Phänomen in der NZZ einen historischen Rückblick widmet. "Der russische Absolutismus trat zwar im Konzert europäischer Mächte als selbstbewusster Akteur auf, zugleich war ihm jedoch bewusst, dass er den Anforderungen eines modernen Staates nicht gewachsen war. ... Die Ansteckungsgefahr durch Revolutionen und Befreiungsbewegungen verleitete die Despotie zur Selbstisolierung. Russische Untertanen durften bis 1862 nicht ins Ausland reisen. Auch Ausländer waren, anders als unter Katharina II., nicht mehr willkommen. Nach dem entlarvenden Reisebericht von Marquis de Custine 'Russland im Jahre 1839', in dem er das Zarenreich als 'Land der Fassaden' bezeichnet hatte, fühlte sich sein Gastgeber Nikolaus I. in seiner Abneigung gegenüber dem Westen aufs Neue bestätigt."

Die taz hat heute ihren Schwerpunkt zu 67. Lesenswert ein Interview mit Howard Rheingold über die Anfänge der Cyberkultur und die Bedeutung des Whole Earth Catalog für die 68er.
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Medien

In der Columbia Journalism Review stellt Marie Doezema die senegalesischen Rapper Makhtar "Xuman" Fall und Cheikh "Keyti" Sene vor, die 2013 auf Youtube ihr Journal Rappé lancierten und seitdem mit ihrer gerappten Nachrichtenshow durchschnittlich 45.000 Zuschauer in der Woche erreichen: "The two take on a variety of topics, from politics and education to religion, the environment, and immigration. Some issues are touchier than others, says Keyti, citing those that relate to religion as among the most sensitive in Senegal, which is 95 percent Muslim. 'We have more and more debates about religion, the importance of religion, and how it is to be targeted as Muslim once you are outside a Muslim country.' The show has also taken on terrorism and radicalization, both growing concerns. The rappers have also broached the topic of homosexuality, a particularly sensitive issue in a country where same-sex acts are illegal. 'Even telling people we should have the debate [about homosexuality] gets us attacked,' Keyti says, citing verbal criticism and online harassment. 'I don't really care. At some point someone has to be courageous. We need to talk about it, not because the West wants us to or because foreign aid is linked to those things, but because we as a society have to grow.'"

Kostprobe?


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Gesellschaft

In der Welt fragt sich der Historiker Jens Nordalm, warum Debatten bei uns so oft auf den Begriff "Leitkultur" zurückkommen. Was meinen wir überhaupt damit? Eine Kultur, in der jeder noch weiß, wo sein Platz ist, ahnt er. Wo "alle am besten lächeln, offen und anerkennend. Gymnasium, das von Haupt- und Realschule anerkannt wird in seiner Überlegenheit. Leitkultur, dreigliedrig. Nur dreigliedrig auch gern das Fernsehen, das würde helfen. Die Sehnsucht nach gelegentlicher Versammlung aller vor etwas, das nicht immer nur Fußball ist. Bildung nicht als strenge Bedingung; man darf auch anders sein, schlicht und naiv - Thomas Mann immerhin hielt die noch für die Glücklicheren; aber wenigstens fröhlich und jederzeit Haltung annehmend vor denen mit Abi. So ist Leitkultur. Leitkultur Feuerzangenbowle. So hätten wir's gern. Der Verfasser auch, irgendwie."
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Überwachung

Der Verfassungsschutz sollte auch Kinder und Jugendliche aus einem islamistischen Umfeld beobachten können - das fordert Bayerns Innenminister Joachim Herrmann, meldet Zeit online. Inzwischen sehen Kai Biermann (Zeit online) und Jörg Diehl und Fabian Reinbold (Spon) uns mehr und mehr in einen Überwachungsstaat rutschen: "Seit Monaten werden in Deutschland die Überwachungsmöglichkeiten der Behörden erweitert", warnen letztere, "in vielen kleinen Schritten, so dass die Richtung leicht übersehen werden kann. Zuletzt wurde die Videoüberwachung ausgeweitet, örtlichen Polizeidienststellen der massenhafte Zugriff auf Fotos der Personalausweise gestattet. Ach ja, und in einem Monat tritt die Vorratsdatenspeicherung in Kraft. Und jetzt wird erbittert gestritten und getrickst wegen des Staatstrojaners. Kritiker wittern einen 'massenhaften Einsatz' dieser äußerst heiklen Ermittlungswerkzeuge."

Kai Biermann sieht in der permanenten Ausweitung Methode: "Ist so ein Gesetz erst einmal in Kraft getreten, wird es nicht etwa nach einigen Jahren überprüft und vielleicht wieder abgeschafft, wenn die anfangs beschworene Gefahr vorbei ist. Im Gegenteil, die Spähbefugnisse werden kontinuierlich ausgeweitet. Daten, von denen es eben noch hieß, sie würden nur in Ausnahmefällen gesammelt, werden regelmäßig und bei nichtigen Anlässen gespeichert. Es ist ein mieses Spiel mit der Angst der Menschen."
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