9punkt - Die Debattenrundschau

Fragile Herrschaftssysteme

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.06.2017. Die taz porträtiert die Dokumentarfilmerin Marcela Zamora aus El Salvador, die bekennt, abgetrieben zu haben: Dafür wurden Frauen in dem Land schon schon zu dreißig Jahren Gefängnis verurteilt. Am Humboldt-Forum soll laut Tagesspiegel jetzt auch nach dem Willen des Künstlers Lars Ramberg neben dem Kreuz der Zweifel angebracht werden. In NZZ und Guardian machen Ian McEwan und Timothy Garton Ash den Remainern Mut. Nein, Religion ist nicht für Terror mit verantwortlich, meint die Soziologin Z Fareen Parvez im Guardian.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.06.2017 finden Sie hier

Politik

In vielen lateinamerikanischen Ländern ist Abtreibung eines der finstersten Reizthemen. Für die taz porträtiert Toni Keppeler die Dokumentarfilmerin Marcela Zamora aus El Salvador, die in einem Zeitungstext bekennt, abgetrieben zu haben - ein Tatbestand, für den ärmere Frauen in dem Land schon zu dreißig Jahren Gefängnis verurteilt wurden: "Die mittelalterliche Gesetzgebung und ihre Auslegung sind gerade einmal zwanzig Jahre alt. Vorher galt in El Salvador eine Indikationslösung: Frauen war nach einer Vergewaltigung, bei Gefahr für ihre Gesundheit, bei schwerer Missbildung des Fötus und bei Schwangerschaften auf Grund von Zwangsprostitution ein Abbruch erlaubt. 1997 aber forderte der damalige Erzbischof eine Verschärfung. Er schickte so lange die Kinder der zahlreichen katholischen Privatschulen zu Demonstrationen auf die Straße, bis das Parlament einbrach und den 'Schutz des Lebens vom Augenblick der Empfängnis an' in die Verfassung schrieb."

Es ist schon deprimierend, wie nach immer neuen Terroranschlägen die immer gleichen Argumente ausgetauscht werden. Nein, die Religion soll man nicht mitverantwortlich machen, meint die Soziologin Z Fareen Parvez im Guardian, das führe nur zu Diskriminierung: "Ich habe das zuerst in den salafistischen Commmunities in Frankreich gesehen, wo prominente Politiker zu einem 'kulturellen Kampf gegen Salasfismus aufriefen'. Salafisten sind eine Minderheit in der muslimischen Welt, sie gehören extrem unterschiedlichen Strömungen an und sind meist nicht in Politik verwickelt, schon gar nicht in politische Gewalt. Und doch brandmarken Staaten sie als 'radikale Muslime', teils wegen ihrer strikten Religionsausübung, teils weil sich Terroristen in salafistischen Communities verbergen."

Welt-Autor Richard Herzinger analysiert in einem kurzen Kommentar die Katar-Krise. Dass sich Länder wie Saudi Arabien von dem Emirat abwenden, weil es Terrorismus unterstütze, klingt für ihn kurios: "Denn unter eben diesem Verdacht steht nicht weniger Saudi-Arabien selbst. Terror und islamistische Ideologie zu exportieren, war von jeher eine Überlebensstrategie der archaischen Despotien am arabischen Golf.Indem die dortigen Machthaber extremistische Unruhestifter von der Heimatfront in alle Welt umleiten, sichern sie ihren im Grunde fragilen Herrschaftssystemen ein gewisses Maß an Stabilität."
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Kulturpolitik

Gestern plädierten die drei Gründungsintendanten des Humboldt-Forums für Rekonstruktion des Kreuzes auf der Spitze der Stülerschen Kuppel einerseits und andererseits - an der Ostseite des Schlossdaches - für die Anbringung des neonfarbenen Schriftzugs "ZWEIFEL", den der norwegische Künstlers Lars Ø Ramberg kurz vor Abriss auf dem Palast der Republik aufgestellt hatte. Der Künstler findet diesen Vorschlag sehr gut, schreibt Christiane Peitz im Tagesspiegel: "Es sei wichtig, 'die gesamte Historie des Schlossplatzes im Blick zu behalten. Die Geschichte hört dort eben nicht 1959 mit dem Abriss des Barockschlosses auf', sagte Lars Ramberg im Telefonat mit dem Tagesspiegel. Sein Projekt von 2005 sei ein Tribut an die Zeit der Wende und der Wiedervereinigung gewesen, 'als der Zweifel zu einer Art gemeinsamer Nenner wurde. Wer sind wir? Sind wir ein Volk? Oder zwei? Wo gehen wir hin?' Der Zweifel sei ein Teil der deutschen Identität geworden, was ihn als Norweger schon deshalb beeindruckt habe, weil er aus einem Land der Konsenskultur komme. 'Da wollen sich alle immer schnell einig werden.'"
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Ideen

Alex Rühle unterhält sich im SZ-Feuilleton mit dem Gemeinwohl-Verfechter Christian Felber, der strikt gegen die Idee des Freihandels eintritt: "Kein Land ist je durch Freihandel reich geworden. Alle Länder mit hohem Prokopfeinkommen haben das durch Protektionsmaßnahmen geschafft, indem sie also ihre Wirtschaft geschützt haben. Die deutsche Zollunion hat sich das im 19. Jahrhundert von Großbritannien abgeschaut und Zölle von 60 Prozent  verlangt - nur so konnte Deutschland seine erste Industrialisierungswelle im 19. Jahrhundert erfolgreich durchlaufen. Die Länder, die heute zum Freihandel gezwungen werden, haben ein geringeres Prokopfeinkommen als Deutschland, die USA oder Großbritannien im 19. Jahrhundert."
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Europa

Findet euch nicht ab mit dem Brexit, rief der britische Schriftsteller Ian McEwan in einer - von der NZZ publizierten - Rede kürzlich den Remainern zu. Kämpft für den Verbleibt in der EU und nehmt euch zur Not ein Beispiel an den Strategien eines Nigel Farage: "Hatte Nigel Farage nicht gesagt, dass es ein zweites Referendum geben würde, wenn seine Seite verlöre und der Wahlausgang knapp wäre? Worauf wir jetzt fokussieren müssen, ist ein zweites Referendum über die Frage, ob wir uns auf einen schlechten Deal einlassen oder die Übung abbrechen sollen. Sehen Sie sich noch einmal Artikel 50 des EU-Vertrags an. Er ist in klarer Sprache abgefasst. Er ist sehr kurz. Er besagt nicht, dass eine Nation, die den Austritt beschlossen hat, diesen Entscheid auch tatsächlich umsetzen muss; eine solche Situation wird de facto nicht einmal erwähnt."

Im Guardian fordert Timothy Garton Ash die Remainer auf, bei den anstehenden Parlamentswahlen strategisch zu wählen: "If you are still deciding how to vote on Thursday, you should know that Britain is heading straight for the rocks in its negotiations with the European Union. Since Brexit is the pivotal issue for Britain over the next five years, we should prioritise electing the parliament that will give us the least-worst Brexit deal, and keep us in the EU for as long as it takes until that deal is made. People call this tactical voting - but if ever an issue in British politics was strategic, it was this. So let's vote strategically."

"Wir müssen die EU-Kommission abschaffen, um die EU zu retten. Wir brauchen eine kleine europäische Regierung, die aus 12 bis 15 Leuten besteht", plädiert im Interview mit Zeit online der belgische Politiker und europäische Chefunterhändler für den Brexit Guy Verhofstadt, der eine Reform der EU für dringend notwendig hält: "Wir haben keine wirkliche Union, obwohl alle immer von der Europäischen Union sprechen. Wir haben einen Zusammenschluss von Staaten, der quasi an Wochenenden nebenher regiert wird. Die politisch Verantwortlichen, also die Staatschefs der Mitgliedsländer, kommen gerade mal vier-, fünf-, sechsmal zusammen. Bei diesen Gipfeln entscheiden sie dann hier in Brüssel einstimmig. So kannst du keine Union führen, so kannst du keinen Kontinent regieren, der im Wettkampf mit China oder Indien oder Russland oder den USA steht."
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Gesellschaft

In Amerika gibt es eine versteckte HIV-Epidemie, schreibt Linda Villarosa in der New York Times. Sie betrifft schwarze Homosexuelle, besonders in den Südstaaten der USA, wo die Infektionsrate bei fünfzig Prozent liegt, unter anderem weil Homosexualität und Aids in den schwarzen Communities im Süden tabu sind, sagt Cedric Sturdevant, ein homosexueller Aktivist, den Villarosa zitiert: "'Als ich aufwuchs, brachte man mir bei, dass Gott Homosexuellen nicht vergibt', sagt Sturdevant. 'Die Bible sagt angeblich, dass man geradewegs in die Hölle geht. Ich habe mehrfach über Selbstmord nachgedacht. Ich wollte krankwerden und sterben. Und dann dachte ich, ich will hier weg.' Er zog nach Dalls, dann nach Memphis."

Und: Die New York Times veröffentlicht eine Statistik über die schockierende Zunahme der Drogentoten in den USA seit 1980, die in diesem Jahr einen neuen Rekord erreichen wird: "Drug overdoses are now the leading cause of death among Americans under 50. Although the data is preliminary, the Times's best estimate is that deaths rose 19 percent over the 52,404 recorded in 2015. And all evidence suggests the problem has continued to worsen in 2017."

Lange galt Indonesien als das Land, das am besten Islam und Demokratie verband. Verglichen mit vielen Nachbarstaaten ist es immer noch eine vorbildliche Demokratie, aber sie ist in Gefahr, meint Manfred Rist in der NZZ: "Die Islamisierung Indonesiens ist eine Tatsache, und sie trägt ein neues Gewand, das nicht ignoriert werden sollte. Neu ist, dass sich bei allen Parteien ein Wettlauf um Religiosität abzeichnet. Die Rückkehr des politischen Islams zeigt sich vor allem in lokalen Dekreten, die der Scharia angeglichen sind. ...  Mit der Kampagne gegen den christlichen Gouverneur von Jakarta hat sich islamische Frömmigkeit bei Wahlen erstmals als durchschlagendes Argument erwiesen. Das Erfolgsrezept dürfte den Zeitgeist verstärken und könnte Schule machen. In der indonesischen Öffentlichkeit sind islamische Symbole omnipräsent geworden."
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Medien

In der NZZ beschreibt Ivo Mijnssen Propaganda und Einfluss von Russlands staatlichen Auslandmedien Sputnik und RT: "Auch wenn RT und Sputnik nicht überschätzt werden sollten, verfügen sie in gewissen Regionen dennoch über Einfluss. So ist Sputnik etwa der wichtigste News-Produzent auf dem Balkan. Auch der Multiplikationseffekt, der über soziale Netzwerke und Bots erreicht wird, ist beträchtlich. Der wohl wichtigste Effekt ist jedoch, dass die russischen Auslandkanäle durch ihre systematische Verwischung von Desinformation, Propaganda und News das Vertrauen in die Medien unterminieren: Robert Pszczel, der frühere Leiter des Nato-Informationsbüros in Moskau, brachte dies vor drei Monaten gegenüber der New York Times auf den Punkt: 'Dem Kreml ist es egal, ob Sie einverstanden sind mit Russlands Politik, es geht darum, Zweifel zu säen. Etwas bleibt immer hängen.'"
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Überwachung

Per Ultraschallaufzeichnungen durch Handymikrophone erkennen Werbetreibende, was für Geräte ein Internetnutzer noch benutzt, berichtet David Richter in Netzpolitik unter Bezug auf eine Studie der TU Braunschweig: "Das Verfolgen von Benutzeraktivitäten wird auch Tracking genannt. Wird das Verhalten über mehrere Geräte hinweg verfolgt, so spricht man von Cross-Device-Tracking. Eine Ultraschall-Technologie für genau diesen Zweck konnte vom Forschungsteam in mehr als 200 Android-Apps nachgewiesen werden. Darunter befanden sich laut der Studie auch Apps, die millionenfach heruntergeladen wurden. Leider veröffentlichte die TU Braunschweig keine Liste aller Hersteller dieser Apps, namentlich erwähnt die Studie lediglich die McDonalds-App."

In der NZZ fordert derweil der Zürcher Datenschutzbeauftragte Bruno Baeriswyl eine neue Weichenstellung beim Datenschutz: "Im staatlichen Umfeld ist der Schutz der Privatsphäre durch das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für jeden Eingriff in die Freiheitsrechte demokratisch legitimiert und transparent. Doch die informationelle Selbstbestimmung lässt sich in den übrigen Bereichen kaum mehr wahrnehmen: So sind beispielsweise die Datenflüsse bei der Nutzung eines Smartphones völlig intransparent und Risiken für die Privatsphäre für den Einzelnen nicht abschätzbar."
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