14.06.2017. Das Interesse an der Antisemitismusdoku "Auserwählt und ausgegrenzt" war groß - aber die Meinungen über den Film sind geteilt. Arte will aber nicht gegen die Veröffentlichung durch bild.de klagen und begrüßt, dass die Zuschauer, denen der Sender den Film verweigerte, sich nun ein Bild machen konnten. In der Zeit kritisiert Seyran Ates die Islamkonferenz. "Der Kommunismus ist machbar", verkündet der amerikanische Soziologe Erik Olin Wright in der Berliner Zeitung. Allerdings nur im Kapitalismus.
Medien, 14.06.2017
Das Interesse war groß: 200.000 Menschen sollen
laut turi2 Sophie Hafners und
Joachim Schröders Dokumentation "Auserwählt und ausgegrenzt - Der Hass auf die Juden in Europa" bei
Bild.de angesehen haben. Dennoch
meint Arno Frank bei
Spiegel online, es sei kein Skandal, dass
Arte den Film nicht gebracht habe, denn er habe gravierende
handwerkliche Mängel: "So tadellos manche Aspekte recherchiert sind, so leichtfertig werden andere Aspekte abgehandelt. So hat Joachim Schroeder die NGOs vermutlich zurecht angeklagt, sie zu seinen Vorwürfen aber
keine Stellung beziehen lassen. Er habe nicht erwartet, 'dass diese Organisationen mir etwas Originelles dazu sagen können'. Wenn das kein handwerklicher Fehler ist, gibt es kein Handwerk."
Im Interview mit der
Zeit wehrt sich Filmemacher
Joachim Schröder gegen den Vorwurf, die Dokumentation sei nicht ausgewogen: "Wie kann man einen Film über europäischen Antisemitismus machen, der nicht vom Verstand, von der Haltung und
vom Herzen her projüdisch ist? Wenn das ein Problem darstellt in diesem Land, ist das tatsächlich riesengroß."
Rechtlich vorgehen will
Arte gegen die Veröffentlichung des Films nicht, wie aus einer
Pressemitteilung des Senders hervorgeht, der zugleich begrüßt, dass das Publikum den Film, den es ihm vorenthalten hat, nun
sehen durfte: "
Arte hat zur Kenntnis genommen, dass
Bild.de die Dokumentation 'Auserwählt und Ausgegrenzt. Der Hass auf Juden in Europa' in eigener Verantwortung online gestellt hat. Auch wenn diese Vorgehensweise
befremdlich ist, hat Arte keinen Einwand, dass die Öffentlichkeit sich
ein eigenes Urteil über den Film bilden kann."
Europa, 14.06.2017
Im Kontext mit dem Thema
Antisemitismus in Frankreich und verweigerte öffentliche Wahrnehmung ist noch auf den Fall
Sarah Halimi hinzuweisen, der in Frankreich bisher trotz eines (leider nicht online veröffentlichten) Aufrufs von 17 Intellektuellen wie
Alain Finkielkraut und
Elisabeth Badinter noch kaum diskutiert wird. Die jüdische Ärztin Sarah Halimi, eine pensionierte Lehrerin, wurde am 4. April in Belleville, Paris, von einem Täter angegriffen und am Ende angeblich mit dem Ruf "Allahu Akbar" aus dem Fenster ihres Apartements geworfen (
mehr bei
Tablet). Der Mörder wurde als Geistesgestörter
in die Psychiatrie eingewiesen. In seiner Videokolumne in
Le Point fragte Michel Onfray vor einer Woche: "Warum hat man diese arme Frau
zweimal getötet? Man hat der Meldung nicht das Gewicht gegeben, das sie verdient hätte und damit gesagt, dass dieser Mord nicht zählt."
Geschichte, 14.06.2017
Paul Ingendaay (
FAZ)
besucht den Historiker
Robert Gerwarth, der gerade ein
Buch über die
Verlierer des Ersten Weltkriegs geschrieben hat, und lernt dabei die
untergegangenen Reiche zu lieben: "Manches spricht dafür, die Jahre nach 1918 im Sinne osteuropäischer Historiker als Zeit eines 'erweiterten europäischen Bürgerkriegs' zu deuten. Der Untergang der großen Reiche und die Auflösung ihrer Suprastrukturen führten zur
Entfesselung ethnischer Konflikte, die nur gewaltsam unter Kontrolle zu bringen waren."
Religion, 14.06.2017
Seyran Ates stellt in der Zeit noch einmal ihre neu gegründete Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin vor, die liberalen Muslimen eine Heimat gegen will, und erinnert sich dabei an die vom damaligen Innenminister Schäuble initiierte Islamkonferenz, an der sie teilnahm, in der liberale Muslime aber heute keinen Platz mehr haben: "Vor allem der Publizistin Necla Kelek und mir als Frauenrechtlerin wurde immer wieder bescheinigt, wir seien eigentlich keine Musliminnen. Inzwischen sitzen nur noch Vertreter von Verbänden in der Konferenz. Das widerspricht nicht nur der Vielfalt unserer Religion, sondern auch der Tatsache, dass der Islam eigentlich keine Organisationsform kennt, die der der christlichen oder jüdischen Religionsgemeinschaften verwandt wäre."
Ideen, 14.06.2017
"Der
Kommunismus ist machbar", verkündet der amerikanische Soziologe
Erik Olin Wright im
Gespräch mit Arno Widmann von der
Berliner Zeitung. "Der Kapitalismus besteht nicht nur aus Kapitalismus. Er könnte zum Beispiel ohne Familien nicht bestehen. Die sind aber gerade nicht kapitalistisch organisiert. Es gibt überall im Kapitalismus die Möglichkeit,
kleine Gegenwelten aufzubauen. ... Es geht im Kern immer um zwei Dinge: um Demokratie und die Erweiterung der Freiheit des Einzelnen. Der
Kampf um Demokratie, darum, dass Menschen mitbestimmen über alles, was sie betrifft, muss, um erfolgreich sein zu können, auf allen Ebenen - gewissermaßen vom Gemeinderat bis zur Uno - geführt werden. Aktivitäten, die sich aus dem allgemeinen Kampf um mehr Demokratie heraushalten, bringen nichts."
Wer die Trumps, Wilders' und Le Pens dieser Welt verhindern will, sollte den
westlichen Mehrheitskulturen genauso viel Respekt entgegenbringen wie den dort lebenden Minderheiten, meint der Soziologe
Ruud Koopmans in der
Zeit. Zumal die "doppelte Kulturmoral", die die Traditionen der Mehrheit als
rückwärts gewandt oder gar rassistisch abtut, mit ihren vom amerikanischen Rassendiskurs geprägten Argumenten oft selbst reichlich imperialistisch daherkomme: "In einer Welt, in der die
angelsächsische Kultur zur Norm geworden ist, kann die Unterscheidung zwischen 'dominanten Kulturen' und 'Minderheitskulturen' nicht länger ausschließlich auf Gruppen innerhalb von Nationalstaaten bezogen werden. Sie muss auch im Licht des
Ungleichgewichts zwischen kleineren und größeren Nationalstaaten betrachtet werden."
Auf dem
Kunst- und Kulturmarkt zeigt sich besonders deutlich, dass Globalisierung lässt keine Einbahnstraße mehr ist, in der der Westen die Richtung vorgibt, sondern in beide Richtungen läuft,
erklärt Jörg Häntzschel in der
SZ den Einfluss von
Moskau,
Sharjah und
Shanghai: "Es ist ein für beide Seiten einträglicher Austausch von Kunst gegen Geld, nur müssen sich die Gäste aus dem Westen in die politische, religiöse und moralische Repression dieser Länder fügen. Für viele Künstler ist es inzwischen normal,
eine Beschneidung gerade jener künstlerischer Freiheit zu akzeptieren, für die ihre Vorgänger lange gekämpft haben."
Kulturpolitik, 14.06.2017
Eva Quistorp
greift auf
achgut.de in die Debatte um das
Kreuz auf dem Berliner
Humboldt-Forum der Weltkulturen ein und beklagt, "dass es unerträglich
absurde Doppelstandards in der Religionskritik und in der Symbolkritik gibt, wenn man etwa erlebt, mit welcher Verve die Linkspartei, die Grünen und leider auch Teile der SPD und der CDU für das
Kopftuch eintreten, als sei es ein Symbol der Befreiung der Frau und als sei es von einem nicht vorhandenen islamischen Papst verordnet worden, den man respektieren muss."
Internet, 14.06.2017
Jenna Wortham
erklärt in der
New York Times das Internet zur
großen Klauplattform: "Häufig sind die Verantwortlichen für kulturelle Neuerungen nicht in der Lage, von ihren Erfindungen zu profitieren, weil sie keinen Zugang zu Kapital und Ressourcen haben, keinen Draht nach Hollywood oder zu einer Agentur. Das Internet ist
ein Marktplatz, wo Ideen in der Hoffnung angeboten werden, einen Job zu ergattern, aber es ist auch der Ort, wo Scouts nach guten Ideen fahnden und damit eine Dynamik in Gang setzen, die den Mächtigen nützt. Diese Dynamik wird dadurch kompliziert, wie soziale Medien uns ermutigen und dafür belohnen, etwas
zur Online-Kultur beizutragen … Likes und Retweets auf Twitter und Tumblr haben zum Beispiel diese Funktion. Forscher wie Nir Eyal und BJ Fogg erklären, wie Apps User angeln und Abhängigkeiten schaffen. Ein User mit Tausenden Followern zu sein, dessen Idee kommerziell verwertet wird, stellt eine unwiderstehliche soziale Währung dar. Die Frage ist nur, ob wir uns mit diesem Arrangement
zufrieden geben sollten."
Die Ökonomie des Internets mag verbesserungswürdig sein, aber im nicht-kommerziellen Austausch wirkt es Wunder. Ed Yong
erzählt in
The Atlantic, wie ein paar
Spinnen, die im Büro einer Astronomin von der Decke fallen, zu einem regen Twitter-Austausch zwischen Astronomen und Arachnologen führte. Die
Zebraspringspinne, lernen die faszinierten Astronomen, kann nicht nur grün erkennen, wie der Arachnologe Morehouse den Astronominnen Lomax and Levesque erklärte, "their eyes 'are built like… wait for it…
Galilean telescopes.' These telescopes, which Galileo started using in 1609, are basically tubes with a lens at each end. Only three groups of animals have similar eyes: falcons, chameleons, and jumping spiders."
Der bekannte Internetenthusiast
Jeff Jarvis hat vor einiger Zeit mit einer Menge Geld die "News Integrity Initiative" gegründet, die Strategien gegen das Problem der Fake News sucht. Auch wenn er sagt, dass nicht eigentlich die Fake News, sondern ein verlorenes Vertrauen in die Institutionen das Problem seien, will er
Manipulationen bekämpfen. Unter Bezug auf die
Studie "Media Manipulation and Disinformation Online" von
Alice Marwick and
Rebecca Lewis macht er auf die "
paradoxe Falle, in der wir uns befinden", aufmerksam: "Wenn wir wir sie ansprechen, die Fakten überprüfen, attackieren, dann geben wir ihnen
Aufmerksamkeit. Hillary Clinton musste das auf die harte Tour lernen, denn 'als sie böswillige Meldungen angriff, gab sie ihnen Sichtbarkeit und Legitimität. Unabsichtlich zementierte sie deren Bedeutung', sagen Marwick und Lewis. 'Indem sie Medien dazu bringen, bestimmte Stories zu verfolgen, selbst wenn sie sie widerlegen, schaffen es Medienmanipulatoren, die
Öffentlichkeit zu beeinflussen.'"