9punkt - Die Debattenrundschau

Unter verdächtigen Umständen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.06.2017. Der Großbrand im Grenfell Tower ist ein Fanal und ein Symbol für die Behandlung der Armen in einer Metropole, die nur noch Superreiche will, schreibt Brendan O'Neill im Spectator. Die islamistischen Terroristen stammen meistens nicht aus den muslimischen Gemeinden, sondern von ihren Rändern, betont Olivier Roy in Le Monde. Buzzfeed präsentiert eine Recherche über mysteriöse Todesfälle in London, die auf die Sphäre der russischen Geheimdienste und Mafia verweisen. Die Zeit warnt vor Staatstrojanern auf der Suche nach Bagatelldelikten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.06.2017 finden Sie hier

Europa

Das Großfeuer im Grenfell Tower, einem Londoner Sozialbau (der jüngst mit offenbar auch in Deutschland verwendeten Dämmmaterialien verkleidet worden war, mehr hier) ist ein Fanal, meint Brendan O'Neill im Spectator, besonders weil Klagen der Bewohner über Brandgefahr im Haus nicht ernstgenommen worden waren und Sozialbauten im superteuren London inzwischen auch von Politikern als Störfaktoren wahrgenommen werden: "Das Versagen beim Bau neuer Wohnungen hat nicht nur die Preise nach oben katapultiert und eine ökonomische Blase geschaffen - es hat auch eine fatale Auswirkung auf die Gesellschaft. Es hat eine Situation geschaffen, in der Entwickler und die Lokalräte, die sie lieben, immer nur die Superreichen im Kopf haben… In diesem Prozess der Gentrifizierung werden die ärmeren Einwohner von Gegenden wie Kensington oder Chelsea als Belastung, ja fast als Besetzer wahrgenommen, deren Hochhausblöcke Riesenhindernisse auf dem Weg zum Geld sind."

Theresa Mays Bündnis mit der protestantischen nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) ist in mehrerer Hinsicht problematisch, unter anderem weil es die Neutralität der Londoner Regierung zum Nordirlandkonflikt in Frage stellt, und weil diese Partei in der Abtreibungsfrage fast noch schlimmer ist als die Katholiken in der benachbarten Republik Irland, schreibt Amelia Gentleman im Guardian: "Abtreibungen sind in Nordirland illegal, es sei denn, das Leben der Frau ist in Gefahr, oder es gibt ein ernstes Risiko für ihre physische oder mentale Gesundheit. Die DUP hat selbst moderate Versuche, das Gesetz zu reformieren - etwa um vergewaltigten Frauen eine Abtreibung zu gestatten- blockiert. Nordirland hat die härtesten Strafgesetze für Abtreibung in ganz Europa, bis hin zu lebenslangen Strafen für die Frau, die abgetrieben hat und jeden, der ihr dabei hilft."

In der SZ warnt der irische Autor Colm Tóibín die Europäer vor der DUP: Sie glaube an die permanente Teilung Irlands, doch werde mit dem Brexit ein Sonderstatus ganz Irlands unvermeidlich. Wenn jemand eine solche Situation für sich nutzen könne, dann die durch und durch machiavellistische DUP: "In ganz Europa gibt es keinen Politiker, der so bauernschlau ist wie sie, so geschickt darin, einen Kuhhandel abzuschließen, der die politische Situation so genau lesen kann oder so standhaft darauf beharrt, dass sonntags niemand Sex haben darf. Europa sollte sich auf die DUP vorbereiten, denn sie ist unterwegs."

Für die taz unterhält sich Pascal Beucker mit Lamya Kaddor, die morgen in Köln einen Protestzug von Muslimen gegen terroristische Gewalt organisiert - nur die Ditib hat sich nicht angeschlossen: "Es geht uns um ein klares Bekenntnis zu unserer offenen und pluralistischen Gesellschaft. Wir haben zunehmend das Gefühl, dass sich unsere Gesellschaft immer weiter spalten lässt durch Extremisten. Dagegen wollen wir ein Zeichen setzen." In der Erklärung der Ditib zu der Demo heißt es: "Forderungen nach 'muslimischen' Anti-Terror-Demos greifen zu kurz, stigmatisieren die Muslime und verengen den internationalen Terrorismus auf sie, ihre Gemeinden und Moscheen - das ist der falsche Weg und das falsche Zeichen."

Der Multikulturalismus und die Selbstbezogenheit der muslimischen Gemeinden spielen keine Rolle bei der Radikalisierung von Terroristen in Europa, schreibt der Islamwissenschaftler Olivier Roy in Le Monde mit Blick auf die jüngsten Attentate in Britannien: "Die Terroristen sind nicht die Avantgarde einer muslimischen Gemeinschaft, die sich radikalisiert. Die Radikalisierung geschieht in Britannien wie im Rest Europas an den Rändern der muslimischen Bevölkerung (zur Erinnerung: in Deutschland gibt es kaum einen radikalisierten Türken, es handelt sich eher um Araber oder Konvertiten, die in der muslimischen Bevölkerung Deutschalnds sehr minoritär sind)."

SPD aufgepasst. Die Sozialistische Partei in Frankreich muss nach ihrer Wahlschlappe drastische Einsparungen vornehmen und möglicherweise sogar ihr berühmtes Hauptquartier in der schicken Rue Solférino verkaufen, berichten Nicholas Vinocur und Quentin Ariès in politico.eu, denn "mehr als 21 Millionen Euro gehen in Rauch auf. Gut die Hälfte des bisherigen 160 Personen starken Personals der Partei steht vor Entlassungen und weitere etwa tausend Jobs, die indirekt an den Staatsgeldern für die Partei hingen - parlamentarische Assistenten, lokale Hilfen - sind ebenfalls bedroht."

Der ehemals superreiche (und dann verarmte) Scot Young wurde 2015 tot in seiner Londoner Wohnung aufgefunden. Obwohl der Freund des Putin-kritischen Oligarchen Boris Beresowsky immer wieder gesagt hatte, dass er von russischen Geheimdiensten verfolgt werde, nahm die britische Polizei nicht mal Fingerabdrücke auf und sprach gleich von Selbstmord. Eine ganze Reihe von Autoren hat für Buzzfeed nachrecherchiert und präsentiert eine Geschichte über mysteriöse Todesfälle in Britannien, die auf die Sphäre der russischen Geheimdienste und Mafia verweisen: "Ein riesiges Dossier von Dokumenten, aufgezeichneten Telefongesprächen und geheimen Aufnahmen zeigt, dass Young Teil eines Zirkels von neun Männern war, unter anderem Boris Beresowsky, die alle unter verdächtigen Umständen auf britischem Boden starben - und die sich mächtige Feind in Russland gemacht hatten."
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Religion

Auch wenn nicht einmal fünf Prozent der Bevölkerung in Deutschland muslimisch sind, sieht Rainer Haubrich in der Welt Anzeichen einer "Islamisierung". Eines seiner Beispiele ist, dass auf muslimische Schüler ein immer größerer Druck ausgeübt wird, die Fastengebote des Ramadan einzuhalten: "Die sozialdemokratische Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln hatte mit zwanzig Moscheevereinen über einen Zwölf-Punkte-Plan verhandelt, der unter anderem vorsah, dass jene, die nicht fasten, deshalb nicht herabgewürdigt werden dürften, oder dass Grundschüler bei gesundheitlichen Problemen das Fasten unterbrechen können. Nur drei Imame unterschrieben am Ende die Vereinbarung."

Außerdem: In der NZZ denkt Uwe Justus Wenzel ausführlich über Für und Wider einer übergreifenden theologischen Fakultät nach, die christliche, jüdische und muslimische Theologen unter dem Dach vereinigt.
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Medien

Gerade vor dem Hintergrund des Mordfalls Sarah Halimi (unsere Resümees) hätte Arte den Film "Auserwählt und Ausgegrenzt" zeigen sollen, meint Thierry Chervel im Perlentaucher: "Arte hat hier eine Riesenchance verspielt: Der Film zeigt antisemitische Umtriebe in Frankreich und in Deutschland. Arte hätte den Film zeigen und danach eine Debatte unter deutschen und französischen Intellektuellen lancieren können, warum nicht mit Götz Aly, Bernard-Henri Lévy und als Gegenposition der Korrespondentin Gemma Pörzgen, die den Film im Deutschlandfunk unter anderem mit dem Argument kritisierte, dass er die Besatzung nicht zeigt. Wozu haben wir eigentlich einen deutsch-französischen Sender?"
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Überwachung

Auf Zeit online kritisiert Patrick Beuth heftig den geplanten Einsatz von "Staatstrojanern" - das heißt, der Staat schmuggelt einen Virus auf Ihren PC oder Ihr Handy und liest die Kommunikation mit, bevor sie verschlüsselt wird - der jetzt gesetzlich verankert werden soll: "Staatstrojaner sollen auf breiter Front eingesetzt werden, keineswegs nur dann, wenn es um 'eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut' geht, wie das Bundesverfassungsgericht 2008 verlangte. 38 verschiedene Straftaten sollen mit der Quellen-TKÜ verfolgt werden dürfen, darunter Drogendelikte und Sportwettbetrug."
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Politik

Irgendwann wird der IS aus Mossul vertrieben sein. Aber was kommt danach? Niemand weiß es, denn es gibt keinen gemeinsamen politischen Plan der Anti-IS-Koalition im Irak, warnt im Interview mit Zeit online der irakische Journalist Dlovan Bawari. Kurdische, schiitische und sunnitische Milizen, die ihrerseits in Fraktionen zerfallen sind, beherrschen die Kriegsgebiete und werden sich einen so großen Einfluss wie möglich sichern wollen. Dazu kommt: "Die Menschen im Irak haben ohnehin völlig das Vertrauen zueinander verloren. Die Jesiden können nicht mehr mit den sunnitischen Arabern leben, weil sie die Dörfer der Jesiden überfallen, viele Jesidinnen entführt und vergewaltigt haben. Hinzu kommt, dass wir nicht genau wissen, wer alles für den IS gekämpft hat oder ihn ideologisch unterstützt hat. Es gibt dazu keine Statistiken. Das heißt, dass jeder jeden verdächtigen kann und niemand weiß, ob es stimmt oder nicht."
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Stichwörter: Irak, Bawari, Dlovan, Mossul, Jesiden

Internet

Auf SZ online beschreibt Claus Hulverscheidt die Bildungsinitiative Googles in den USA. Der Konzern liefert dortigen Schulen kostenlose Software und günstige Laptops. Aber was heißt schon kostenlos und günstig: "Kyles Lehrerin Laurie Basloe macht sich keine Illusionen, was hinter dem Großangriff der Kalifornier auf Amerikas Klassenzimmer steckt: 'Money, money, money', sagt sie und grinst. Ihre Begeisterung trüben kann die Erkenntnis nicht. 'Was ich wirklich liebe an diesen Programmen, ist, dass die Kinder und ich in der Schule wie zu Hause jederzeit an Projekten arbeiten und diese spielend leicht miteinander teilen können', sagt Basloe, die vor allem die Textverarbeitung Docs und die Cloud-Speichersoftware Drive nutzt. Im kommenden Schuljahr will sie auch bei der Hardware umsatteln: Die Macbooks von Apple fliegen raus, stattdessen erhalten die Kinder zehn neue Google-Chromebooks." Zum Dank "explodierte" der Google-Marktanteil für Betriebssysteme seit 2012 von knapp einem auf 58 Prozent, so Hulverscheidt.

Außerdem: In der NZZ stellt Adrian Lobe "Plato at the Googleplex" vor, ein Buch der Philosophin Rebecca Newberger Goldstein über ein fiktives Treffen zwischen Platon und Google-Mitarbeitern.
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Stichwörter: Google, Plato, Lobe, Adrian, Platon, Clouds