23.06.2017. Der Bundestag hat den Staatstrojaner losgelassen. Und zwar auf "fast betrügerische Weise", schreibt Heribert Prantl in der SZ. Im Guardian bekennt Timothy Garton Ash seinen Schmerz über das Chaos in Britannien ein Jahr nach dem Brexit-Votum. Le Monde stellt die Bewegung der "Entfaster" vor, die in Tunesien während des Ramadan öffentlich zu Mittag isst. Nach dem Debakel um die Ausstrahlung des Films "Auserwählt und und ausgegrenzt" fragt Caroline Fetscher im Tagesspiegel, ob eine Debatte über Antisemitismus in Deutschland überhaupt möglich ist.
Überwachung, 23.06.2017
Gestern verabschiedete der Bundestag das neue
Überwachungsgesetz, das den Einsatz von
Staatstrojanern auf Rechnern, Smartphones und Tablets erlaubt. Für Heribert Prantl (
SZ)
ist das Gesetz ein Skandal, und sein Zustandekommen erst recht: "Ein Gesetz mit gewaltigen Konsequenzen, ein Gesetz, das den umfassenden staatlichen Zugriff auf private Computer und Handys erlaubt, wird auf
fast betrügerische Weise an der Öffentlichkeit vorbeigeschleust und abgestimmt. Heimlich, still und leise wurden Regeln über das staatliche Hacking, über die Einführung von Staatstrojanern und die Einführung der Online-Durchsuchung an ein schon laufendes, harmlos klingendes Gesetzgebungsverfahren angehängt."
Ebenfalls in der
SZ erklärt Hakan Tanriverdi noch einmal, wann der Staat künftig die Staatstrojaner genannte
Schadsoftware auf die Computer der Bürger schleusen darf: Die sogenannte "Quellen-Telekommunikationsüberwachung" (Quellen-TKÜ) "wird der normalen Überwachung von Telekommunikation gleichgestellt. Damit darf sie zur Bekämpfung von
knapp 40 Straftaten eingesetzt werden, unter anderem gegen schwere Verbrechen wie Mord und Besitz von Kinderpornografie, aber auch gegen leichtere Delikte wie
Drogenbesitz."
Wenn es um ihre eigene Kommunikation geht, ist die große Koalition sehr viel empfindlicher: Der
Geheimdienst-Untersuchungsausschuss hat beschlossen, das Fazit seiner Untersuchung
geheim zu halten,
meldet Andre Meister auf
Netzpolitik, wo wenigstens der Abschlussbericht der Opposition
online steht. Darin heißt es: Wesentlich erschwert und faktisch behindert wurde die Aufklärung durch eine Bundesregierung, die
keinerlei Interesse zeigte, klar untersuchungsgegenständliche, offenkundig rechtlich problematische Praktiken und Kooperationen deutscher Geheimdienste zu offenbaren, geschweige denn sie aufzuarbeiten und zu korrigieren."
Die
Vorratsdatenspeicherung ist
nicht mit EU-Recht vereinbar, so entschied es jetzt das Oberverwaltungsgericht Münster mit Verweis auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH),
meldet Zeit online. Den Bundestag ficht das nicht an. Er möchte die Vorratsdatenspeicherung auch bei
Wohnungseinbruchdiebstahl nutzen und deshalb die Mindesstrafe dafür auf
ein Jahr anheben. Damit ist die Straftat kein Vergehen mehr, sondern ein Verbrechen,
erklärt Anna Biselli auf
Netzpolitik: "Obwohl es nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist: Mit diesem Gesetz will die Große Koalition den
Einsatz von Vorratsdaten ausweiten, noch bevor sie im Juli verpflichtend in Kraft tritt. Ein weiteres Überwachungsgesetz auf den letzten Drücker, das die Bundesregierung sogar damit begründet, einem 'schwerwiegenden Eingriff in den privaten Lebensbereich' besser Rechnung tragen zu wollen - durch einen massiven Eingriff in die Privatsphäre vieler Unschuldiger."
Europa, 23.06.2017
Timothy Garton Ash bekennt im
Guardian zum Jahrestag des Brexit-Votums seinen Schmerz über das Chaos, in dem sich Britannien heute befindet. Nicht ganz ohne Hoffnung zitiert er Politiker wie den Tory-Abgeordneten Philip Hammond, die nun einen "
weicheren"
Brexit mit größerem Augenmerk auf wirtschaftliche Vorteile wollen. Nur macht TGA auf
ein Paradox aufmerksam: "Wenn die Priorität wirklich die Wirtschaft ist, dann müsste man logischerweise argumentieren, dass Britannien
in der EU bleiben muss. Genau das glauben natürlich Hammond und andere auf den Hinterbänken der Tories und von Labour. Aber es ist eine Wahrheit, die
niemand ausspricht, verstummt durch das Veto des Volks, das 'gesprochen hat', und durch die Angst, dass die Parteien auseinanderbrechen." Passend dazu: In
politico.eu malen sich einige pessimistische und wenige optimistische Autoren den
Zustand Britanniens in zehn Jahren aus.
Im
Interview mit Hilal Köse von
Cumhuriyet, das die
Welt ins Deutsche
übersetzt hat, spricht
Dilek Mayatürk Yücel über die Haftbedingungen
Deniz Yücels, den sie im Gefängnis heiratete: "Deniz geht es sehr gut. Er ist physisch und psychisch sehr stark. Seine Stärke kommt aus seiner
aufrechten Haltung. Aber an den harten Bedingungen ändert das nichts. Seit
über hundert Tagen sitzt Deniz jetzt in Einzelhaft, von den anderen Gefangenen isoliert. Er wird in die Vereinsamung gezwungen. Er liest Zeitungen und Bücher. Wie Sie wissen, darf er einmal pro Woche hinter einer Glasscheibe Besuch empfangen und einmal
alle zwei Monate einen Besuch mit physischem Kontakt."
Kulturpolitik, 23.06.2017
Amen: Das
Kreuz kommt auf die Kuppel des neuen Berliner Stadtschlosses,
meldet der
Tagesspiegel.
Im
Interview mit der
NZZ erklärt
Pawel Machcewicz, mittlerweile von der PiS-Regierung entlassener Gründungsdirektor des Danziger
Museums des Zweiten Weltkriegs, was die Nationalkonservativen gegen das Museum haben: "Wir wurden beschuldigt, die polnische Geschichte zu marginalisieren zugunsten eines supranationalen Ansatzes. Donald Tusk wolle sich damit nur Deutschland und der EU andienen. Der Hauptvorwurf war also, die Ausstellung sei
zu kosmopolitisch,
zu universalistisch. Der zweithäufigste Vorwurf war, dass unser Museum 'pazifistisch' sei. Es käme zu wenig Militärgeschichte darin vor,
zu wenig Heroismus. Der Krieg könne auch eine positive Erfahrung sein, die den Charakter forme."
Gesellschaft, 23.06.2017
Vorgestern wurde endlich ein Gesetz zur Rehabilitierung der Opfer des
Paragrafen 175 verabschiedet - allerdings eine
vergiftete Wiedergutmachung,
meint Jan Feddersen in der
taz, weil CDU und SPD durchsetzten, dass diese Rehabilitierung nur für Männer gilt, die nicht mit Jugendlichen
unter 16 Sex hatten: "Das diene nachträglich dem Jugendschutz. In Wahrheit lugt in dieser großkoalitionären Präzision dessen, was Sache ist, der
alte Vorwurf hervor, Schwule seien eigentlich alle Päderasten, Kinderschänder, denen man mit Jugendschutzparagrafen beikommen müsse. Denn: Die Schutzaltersgrenze für Heterosexuelle lag damals
bei 14 Jahren - also werden in diesem Rehabilitationsgesetz homosexuelle Männer nachträglich diskriminiert." Feddersen fürchtet, dass die zu Entschädigenden nun erstmal nachweisen müssen, "dass sie wirklich keine Pädos waren".
Den Islam gibt es genauso wenig wie
die Muslime,
meint der marokkanische Schriftsteller
Kacem El Ghazzali, der als bekennender Atheist im Schweizer Exil lebt. Gerade Multikulti-Anhänger sollten das endlich begreifen, fordert er in der
NZZ: "
Identitätspolitik wird nicht dabei helfen, Muslime in Europa zu integrieren, auch wenn Linksliberale und Linke glauben, dass sie damit die Rechte der Muslime verteidigen. In der Tat verhält es sich gerade umgekehrt: Auf diese Weise spielen sie
den Islamisten in die Hände. Denn damit geben sie diesen die Möglichkeit, sich als Führer und Sprecher der muslimischen Umma hervorzutun. ... Eine gemeinsame Grundlage für ein gedeihliches Zusammenleben aller kann nur die Achtung der universellen Menschenrechte sein. Fest steht:
Individuen haben solche Rechte. Religionen und Ideologien jedoch nicht."
Frühstücken oder Mittagessen heißt in Frankreich (petit)
déjeuner - darin steckt
le jeûne, das Fasten. In Tunesien, schreibt Frédéric Bobin in
Le Monde, gibt es nun eine Bewegung der Frühstücker, der "
Entfaster", die sich im Ramadan manifestiert und offen gegen
den Kollektivzwang ausspricht. Manche mögen fasten, andere mögen essen. Bisher kursierte die Bewegung auf sozialen Netzen, wo man sich Tipps über Restaurants gab, die offen blieben, nun frühstückt man auch öffentlich: "Ein derartiges 'Coming out' ist ein Symptom. Er zeigt den immer unbefangeneren Auftritt einer Bewegung für
individuelle Rechte, über die in der Revolution von 2011, in der es vor allem um politische Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung ging, noch so gut wie gar nicht gesprochen wurde."
Internet, 23.06.2017
Nils Jacobsen
stellt auf
Meedia ein neues Manifest
Mark Zuckerbergs vor, das ein neues "Mission Statement" für Facebook formulieren soll: "bring the world closer together". Konkret heißt das, dass Facebook "den sieben Jahre alten
Gruppen-Bereich ('Groups') ausbauen und mit neuen Features ausstatten. Hundert Millionen Nutzer würden sich in Groups in bedeutender Weise engagieren; das Ziel sei aber,
eine Milliarde Nutzer dazu zu bringen, die Gruppen-Funktion in den Alltag bei Facebook zu integrieren." Zuckerberg selbst
sagt dazu: "Unsere Leben sind verbunden. In der nächsten Generation können wir unsere größten Herausforderungen und Chancen
nur gemeinsam bewältigen - dazu gehört, die Armut zu beenden, Krankheiten zu bekämpfen, den Klimawandel zu stoppen, die Idee von Freiheit und Toleranz zu verbreiten, Terrorismus zu stoppen. Keine einzelne Gruppe, kein Land kann das allein tun. Wir müssen eine Welt schaffen, in der
die Leute zusammenkommen, um diese großen Initiativen zu starten."
Medien, 23.06.2017
Ausführlich
bespricht Caroline Fetscher im
Tagesspiegel noch einmal den Film "Auserwählt und ausgegrenzt", macht darauf aufmerksam, dass bestimmte Themen darin angesichts mangelnder Bekanntheit eine Vertiefung verdienen - etwa die
Korruption im Gaza-Streifen - und fragt sich, warum Präsentation und Diskussion bei der
ARD so peinlich missglückt sind: "Die ganze Causa samt Zagen und Zaudern ist in sich Symptom dafür,
wie schwer der Umgang mit dem Thema Antisemitismus noch und wieder fällt - zumal die Basis derzeit
so grotesk wie breit ist. Christliche und islamistische, rechte und linke Antisemiten sind sich darin einig, dass 'Israel' ein Unrechtsstaat sei."
Stefan Winterbauer
checkt bei
Meedia den
"Faktencheck", ohne den der
WDR vorgestern die Antisemtismus-Doku nicht zeigen wollte. Er entpuppt sich eher als ein
Meinungscheck: "Nehmen wir beispielhaft nur mal Punkt 1 aus dem Faktencheck. Der Film beginnt mit der berüchtigten Rede des Palästinenser-Präsidenten Mahmud Abbas vor dem EU-Parlament, in der dieser den uralten antisemtitischen Mythos der jüdischen
Brunnenvergifter allen Ernstes aufwärmt. ... Und was meint der
WDR-Faktencheck? Es wird da im Ernst 'korrigiert', dass Abbas
nicht '
Brunnen' gesagt hat, sondern
nur '
Wasser'. Und natürlich hat er Feigenblatt-mäßig auch von einer 'friedlichen Koexistenz' gesprochen. Aber das macht es doch nicht besser, dass er älteste antijüdische Zerrbilder serviert." Auch Frederik Schindler
unterzieht den Faktencheck des
WDR im Schweizer Blog
audiatur-online.ch einem Faktencheck.
Der meinungslastige "Faktencheck" und die vielen Warntafeln vor und in dem Film führen Michael Hanfeld in der FAZ zu eine kategorischen Urteil "Vorgeführt hat sich
der Sender selbst: ein Lehrstück in
Selbstgerechtigkeit, die ein Markenzeichen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist." Und Jürg Altwegg
schreibt, ebenfalls in der
FAZ: "Dass sich
Arte nicht zu einer eigenen Bearbeitung und Diskussion durchringen konnte, ist eine
Bankrotterklärung."