9punkt - Die Debattenrundschau

Mein kleines Israel-Papierfähnchen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.06.2017. Hundert Autoren fordern, dass der krebskranke Liu Xiaobo in ein Krankenhaus in einem westlichen Land verlegt wird. Die Jüdische Allgemeine fragt sich, warum FAZ-Feuilletonist Patrick Bahners das "A-Wort" so fürchtet. Die FAZ ist zufrieden: Filmrechte sollen weiter länderweise vergeben werden - das europäische Publikum darf aber Vorabendserien des ZDF gucken. Le Monde betrachtet die Lage der Frauen in der Türkei, wo jede Äußerung Erdogans zur Fatwa wird.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.06.2017 finden Sie hier

Politik

Während das Thema in den Medien kaum auf Interesse stößt und von westlichen Politikern kein Sterbenswörtchen zu hören ist, fordern wenigsten hundert Autoren aus vielen Ländern, dass der an Krebs erkrankte Liu Xiaobo in ein westlichen Land kommen darf, meldet dpa (hier im Tagesspiegel): "Die Zeit sei knapp. 'Wir appellieren dringend an die chinesische Regierung: Geben Sie diesen beiden Menschen die Freiheit, das Land zu verlassen!' Liu Xiaobo, 2009 wegen 'Untergrabung der Staatsgewalt' zu elf Jahren Haft verurteilt, sagte, selbst wenn er sterben müsse, wolle er nicht in China sterben. Seine Frau möchte ebenfalls unter keinen Umständen in China bleiben."

Eines sollte das Publikum aus eine Figur wie Trump lernen, meint Timothy Snyder im Gespräch mit Claudia von Salzen im Tagesspiegel: "Amerikaner und Europäer glauben immer noch, dass Geschichte im Westen gemacht wird und sich von dort nach Osten bewegt. Aber seit etwa zehn Jahren ist es umgekehrt. Die Kleptokratie, die Manipulation der Medien und der Cyberkrieg kamen aus dem Osten nach Westen. Wir waren zu eitel und zu selbstgefällig, um das zu verstehen."
Archiv: Politik

Internet

Die Überschrift der Recherche bei Propublica klingt arg plakativ: "Facebook's Secret Censorship Rules Protect White Men from Hate Speech But Not Black Children." Aber wenn man den Artikel liest, kommen doch einige interessante Informationen über geheime Editierungsregeln bei der Plattform, die die Journalisten eingesehen haben: "Facebook wurde beim 'arabischen Frühling' in den Jahren 2010 und 11 zugute gehalten, dass es Aufstände gegen autoritäre Regimes erleichtert, aber die Dokumente zeigen zumindest an manchen Stellen, dass die Hatespeech-Regeln der Firma eher Eliten und Regierungen schützen als politische Aktivisten oder ethnische Minderheiten. Denn dies dient den Geschäftsinteressen des globalen Unternehmens, das nicht möchte, dass Regierungen seine Dienste für die Bürger eines Landes abschalten."

Zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz schreibt Netzpolitik-Gründer Markus Beckedahl in der SZ: "Wir brauchen mehr gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir mit meinungsbildenden Plattformen umgehen können, die zu dominant für unseren gesellschaftlichen Diskurs geworden sind. Diese privatisierten Öffentlichkeiten definieren einseitig die Regeln unserer Kommunikation durch allgemeine Geschäftsbedingungen und technische Ausgestaltung. Insofern ist die Intention von Maas, gegen die Macht der großen Plattformen etwas zu unternehmen, richtig. Aber der Weg und die Ausführung überzeugen nicht."
Archiv: Internet

Gesellschaft

Der in Frankreich viel zitierte Philosoph Michel Onfray war einst angetreten, mit kostenlosen Vorlesungen für jedermann dem zunehmend erfolgreichen Front National die Stirn zu bieten. Heute klingt er mit seinen Verschwörungstheorien eher, als wäre er ein Parteimitglied, meint in der NZZ Matthias Sander. "So verbreitete Onfray jüngst seine Verschwörungstheorie, wonach der abgetretene Präsident Hollande Macrons Widersacher aus dem Weg habe räumen lassen. Ein Geheimbüro im Elysée soll die Vorwahlen der Sozialisten gefälscht haben zugunsten des dezidiert linken Präsidentschaftskandidaten Benoît Hamon, der für viele Franzosen unwählbar war. Das Geheimbüro soll auch die Scheinbeschäftigungsaffäre lanciert haben, über die der Konservative François Fillon stolperte. All das behauptet Onfray ohne Belege."
Archiv: Gesellschaft

Überwachung

Die anlasslose Vorratsdatenspeicherung ist zwar sicher noch nicht vom Tisch, aber das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) entschied letzte Woche, dass der Provider Spacenet keine Daten speichern muss, berichtet Anna Biselli in Netzpolitik. "Der Gerichtshof hatte der pauschalen Vorratsdatenspeicherung eine Absage erteilt: Der betroffene Personenkreis müsse beschränkt sein, so dass ein Zusammenhang mit der Verfolgung schwerer Straftaten beziehungsweise der Abwehr schwerwiegender Gefahren für die öffentliche Sicherheit besteht." Mehr zum Thema bei Zeit online.
Archiv: Überwachung

Medien

Neulich hatte FAZ-Feuilletonist Patrick Bahners nach der Ausstrahlung des Films "Auserwählt und ausgegrenzt" und der gegen den Film besetzten Fernsehdebatte beklagt, dass man sich nicht mal gegen Israel äußern könne, ohne dass man gleich mit dem Fluch des "A-Worts" belegt werde: "Dieser Meinungskampf ist ein asymmetrischer Konflikt. Nichts müssen Amtsträger in Deutschland so sehr fürchten wie das A-Wort." (Unser Resümee.) Darauf antwortet Michael Wuliger in der Jüdischen Allgemeinen: "Wenn Patrick Bahners .. so gereizt auf das 'A-Wort' reagiert, dann wohl deshalb, weil die Benennung dessen, was ist, als das, was es ist, bei ihm einen Nerv trifft. Sich mit dem sachlichen Gehalt des Antisemitismusvorwurfs inhaltlich auseinanderzusetzen, kann oder will er nicht... Was Bahners umtreibt, ist nicht, dass 'Israelkritik' in Deutschland nicht möglich wäre; ihn stört, dass ihr widersprochen wird."
Archiv: Medien

Europa

Die Demonstration gegen den alljährlich stattfindenden antisemitischen "Al-Quds-Tag" in Berlin war zwar winzig, aber immerhin hatten einige Politiker mit dazu aufgerufen, schreibt Regina Mönch in der FAZ und erzählt, was ihr widerfuhr: "Die Autorin dieses Beitrags wurde von der Polizei ... bald aufgefordert, sich hinter weit entfernte Sperrgitter zurückzuziehen, andernfalls bestehe Gefahr, die Quds-Demonstranten könnten sich provoziert fühlen. Bürgersteig also für den Hass reserviert. Vor allem mein kleines Israel-Papierfähnchen musste weg. Hätte ich mich nicht gefügt, wäre ich abgeführt worden."

Die "Ehe für alle" war längst überfällig, sagt der schwule Aktivist Eduard Stapel im Interview mit Andreas Hergeth von der taz. Die Bevölkerung hatte das Thema sozusagen schon abgehakt. Sie "geht seit Jahren davon aus, dass die Heirat längst da ist - die Allgemeinheit redet ja immer von Homo-Ehe. Und dass das jetzt doch so viele Jahre bis zum letzten Schritt, bis zu vollständigen Gleichstellung, gedauert hat, das haben die meisten doch gar nicht mitbekommen."

Jörg Seewald atmet auf. Mehrfach hatte er sich in der FAZ mit dem Standpunkt der Filmindustrie zu Wort gemeldet, die das europäische Publikum möglichst weiter beim Filmegucken behindern wollen, weil sie Rechte lieber national als europäisch verkauft: "Die Kulturpolitiker im EU-Parlament haben dafür gestimmt, dass Online-Rechte weiter länderweise verkauft werden. Das hilft Produzenten und Urhebern", kann er nun frohlocken. Aber das Publikum kann sich trösten: "Der Kulturausschuss des EU-Parlaments hat empfohlen, dass öffentlich-rechtliche Sender nur zu hundert Prozent eigenfinanzierte Filme und Serien länderübergreifend online stellen und verwerten. Dazu gehören etwa 'Tatorte', die ZDF-Montagsfilme und die meisten Vorabendserien." Und darauf sind doch alle scharf!

Camille Stuckel liest für Le Monde Laurence Monnots Buch "Têtes de Turques - Erdogan et la condition féminine" über die Lage der Frauen in der Türkei. Das Ergebnis ist paradox: Die Türkei hat eine sehr fortschrittliche Gesetzgebung, die Türkinnen durften zehn Jahre vor den Französinnnen wählen. Aber der Laizismus ist zum Buchstaben abgesunken, und Tayyip Erdogan führt eine natalistische Politik, singt das Loblied auf die Mütter und möchte, dass jede Frau mindestens drei Kinder zur Welt bringt. "Und je mehr sich das Regime verhärtet, desto mehr tritt das Wort das Präsidenten an die Stelle des Gesetzes. 'Im Kontext eines autokratischen Regimes wird eine Äußerung, die anderswo als persönliche Meinung gedeutet würde, zur Fatwa.' Wenn Erdogan Abtreibung, die seit 1983 legal ist, als 'Mord' bezeichnet, hört ein großer Teil der öffentlichen Krankenhäuser auf, sie zu praktizieren."
Archiv: Europa