9punkt - Die Debattenrundschau

Ganz ungeschoren

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.06.2017. Dass die Homo-Ehe nun beschlossen ist, stößt nicht auf einhellige Begeisterung: Die FAZ erinnert daran, dass die Ehe geschützt war, weil sie Kinder hervorbringt. In der NZZ erklärt Monika Maron ihre Schwierigkeit mit dem Begriff der "links". In Frankreich wird gerätselt und gelacht: Emmanuel Macron hat per Twitter sein offizielles Porträt veröffentlicht, das nun in allen Schulen und Behörden hängen wird. Aber was ist da genau drauf? Und wen kümmert es, dass deutsche Bürger von NSA und GCHQ ausspioniert werden? Die Regierung jedenfalls nicht, meint Constanze Kurz in Netzpolitik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.06.2017 finden Sie hier

Ideen

"Links bin ich schon lange nicht mehr", schreibt in der NZZ eine resignierte Monika Maron, die am liebsten den Grünen Boris Palmer als eine Art deutschen Macron als Bundeskanzler sähe. Nicht, dass ihre Meinungen sich so stark geändert hätten, aber der Maßstab für derartige Zuschreibungen: "Nehmen wir zum Beispiel den Vorwurf der Islamophobie, die unbedingt zum Rechtssein gehört. Ich habe also eine krankhafte Angst vor dem Islam, sagen die Zeitungen und das Fernsehen. Die Wahrheit ist, dass ich vor dem Islam wirklich Angst habe. Aber warum ist das krankhaft und nicht vernünftig? Die gleichen Zeitungen, die mir meine verachtenswerte Gesinnung attestieren, berichten täglich von blutrünstigen Verbrechen, die im Namen dieser Religion begangen werden, wobei sie natürlich betonen, dass das nicht an der Religion, sondern nur an deren Missbrauch liegt. Missbraucht wurde in der Menschengeschichte fast alles. Während für meine Kritiker der Missbrauch des Nationalen aber nur den Schluss zulässt, dass man den Nationalstaat abschaffen müsse, bleibt der missbrauchte Islam ganz ungeschoren."

Es hilft nichts. Kenan Malik hat neulich in der New York Times "kulturelle Aneignung" verteidigt (unser Resümee). Aber "kulturelle Aneignung" ist einfach nicht zu rechtfertigen, antwortet K. Tempest Bradford bei npr.org: "Die Autorin Maisha Z. Johnson macht einen exzellenten Anfangspunkt, indem sie kulturelle Aneignung nicht als einen individuellen Akt definiert, sondern als das Verhalten eines Individuums 'innerhalb einer Machtdynamik, in der Mitglieder einer dominanten Kultur Elemente einer Kultur übernehmen, die von dieser dominanten Gruppe systematisch unterdrückt wird'. Darum sind Aneignung und Austausch zwei unterschiedliche Dinge, so Johnson. In einem Austausch schwingt keine Machtungleichheit mit. Aber wenn Künstler sich etwas aneigenen, dann profitieren sie von dem, was sie nehmen, während die unterdrückte Gruppe nichts bekommt."
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Europa

Na, das ging ja schnell. Die Homo-Ehe ist beschlossen, meldet die FAZ (und Merkel hat dagegen gestimmt).

Reinhard Müller erinnert in der FAZ daran, dass das Bundesverfassungsgericht Lebenspartnerschaften und die "Ehe für alle" strikt voneinander abgegrenzt hat - so dass für die "Ehe für alle" eigentlich mit Zweidrittelmehrheit die Verfassung geändert werden müsste: "Noch bei Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes wurde allenthalben betont, der Ehe werde doch überhaupt nichts genommen. Das Verfassungsgericht befand, der Ehe drohten 'keine Einbußen durch ein Institut, das sich an Personen wendet, die miteinander keine Ehe eingehen können'." Schließlich sei "die Ehe die einzige Verbindung, die darauf gerichtet ist, auf natürliche Weise Kinder hervorzubringen. Dass viele Ehen, ungewollt oder gewollt, kinderlos bleiben, ändert nichts an der Schutzwürdigkeit dieses Instituts."

Ebenfalls zum Thema: Stefan Niggemeier erzählt in den Uebermedien, wie aus der "Homo-Ehe" die leichter zu schluckende "Ehe für alle" wurde.

Pascale Fautrier und Claus Josten sind in der FAZ irgendwie unzufrieden mit Emmanuel Macron und der Art, wie er an die Regierung kam. Sie mäkeln an den Parlamentswahlen und vergleichen Macron erst mit Louis-Philippes Minister François Guizot und dann - klares Indiz, dass die von der FAZ nicht vorgestellten Kritiker von links kommen - mit Louis Napoléon: "Die royale Inszenierung im Louvre am Abend des Wahlsieges im Mai erinnert sehr an den Neffen seines kaiserlichen Vorgängers, Napoléon III., der von der jetzt übrig gebliebenen kleinen Linksopposition in der Nationalversammlung gern mit Macron assoziiert wird." Unmittelbar danach folgt das französische Totschlagargument des "Neoliberalismus": "Sicherlich war Macron der Kandidat der Patronats-Vereinigung 'MEDEF', die ihn früh öffentlich unterstützt hatte."

Emmanuel Macron hat unterdessen über Twitter sein offizielles Porträt lanciert...


... und gleich eine Welle von Parodien ausgelöst, die von huffpo.fr genüsslich vorgeführt werden, zum Beispiel diese:


Die auf dem Schreibtisch verstreuten Gegenstände des smartphone-gerechten Porträts, das die nächsten fünf Jahre in allen französischen Schulen und Behörden hängen wird, geben viel Anlass zu Spekulationen. Zum Beispiel liegen da drei Bände der in Frankreich höchst renommierten Klassikerbibliothek "La Pléiade". Laut Didier Péron und Julien Gester in Libération hat das Boulevardblatt Gala herausgefunden, "dass es sich um 'Rot und Schwarz' von Stendhal, 'Uns nährt die Erde' von André Gide und die Kriegserinnerungen von Charles De Gaulle handelt. Wir wollen aber auch die Hypothese nicht ausschließen, dass dort die Erinnerungen des Herzogs von Saint-Simon aus Versailles, 'Ubu roi' von Alfred Jarry und die Werke des Marquis de Sade liegen."
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Politik

In Hongkong wehrt sich eine immer kritischere Gesellschaft gegen alle Versuche der chinesischen Regierung, das bei der Übergabe durch die Briten für fünfzig Jahre garantierte "basic law" einzuschränken. Im Westen dagegen bleibt man überwiegend stumm, kritisiert in der NZZ Nina Belz. Der Grund: "Während die Investitionen ausländischer Firmen in China zurückgehen, haben jene aus dem Reich der Mitte in Europa 2016 einen Rekordwert erreicht und sind im Vergleich zum Vorjahr um 77 Prozent gewachsen. Noch halten sich die neuen Eigentümer und Teilhaber im Hintergrund. Doch das Fundament, auf dem Chinas Machtanspruch steht, wird immer breiter. Die Abhängigkeit vieler Länder von Chinas riesigem Markt und seinen Konsumenten ist schon jetzt so groß, dass die öffentliche Kritik des Westens an der Politik Pekings beinahe verstummt ist."

Liu Xiaobo könnte davon gerade ein Lied singen. Die chinesische Regierung wird eine Ausreise des an Krebs erkrankten Dissidenten und Nobelpreisträgers, für den sich keine westliche Regierung stark machen wollte, nicht gestatten, meldet Reuters - angeblich erlaubt seine Krankheit keinen Transport. Stern.de berichtet über eine Petition von 154 Nobelpreisträgern für Liu Xiaobo.
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Stichwörter: Liu Xiaobo, China, Hongkong, Reue

Überwachung

Die große Koalition macht sich nicht die geringsten Sorgen über Massenüberwachung und das Ausspionieren deutscher Bürger durch den NSA, GCHQ oder andere ausländische Spionageorganisationen. Das lernte Constanze Kurz von Netzpolitik bei der gestrigen Plenardebatte im Bundestag über die Ergebnisse des NSA-BND-Unterschungsausschusses. Auch die Opposition reagierte eher mau. Als einziger kam offenbar Christian Ströbele in seiner Rede zum Punkt: Er ortete die politische Verantwortung für die Massenüberwachung im Bundeskanzleramt und erwähnte "explizit die 'Operation Eikonal'. Ströbele betonte, dass im Ausschuss klar herauskam, dass diese Kabeloperation 'Eikonal' dem Kanzleramt bekannt war. Mindestens zwischen 2004 und 2008 lief sie als geheime Kooperation zwischen BND und NSA. Ziel war das Anzapfen von Daten der Deutschen Telekom. Ausgespäht wurde dabei übrigens nicht nur an der Erfassungsstelle in Frankfurt am Main, sondern zusätzlich auch über Leitungen der Telekom Austria. Politisch verantwortlich für 'Eikonal' sind zwei Männer, die auch heute noch Spitzenämter innehaben: Innenminister Thomas de Maizière, der ab 2005 Chef des Bundeskanzleramts und Beauftragter für die Geheimdienste des Bundes war, sowie sein Vorgänger Frank-Walter Steinmeier, der heutige Bundespräsident."
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Internet

In der FR erklärt der Jurist Horst Meier noch einmal deutlich, wo der Fehler im neuen Netzwerkdurchsetzungsgesetz liegt: Es legt die Beantwortung der Frage, ob eine Straftat vorliegt, in die Hände privater Unternehmen. Hätte zum Beispiel Jan Böhmermanns Erdogan-Gedicht auf Facebook überlebt? "Wie sollten z. B. Facebook-Mitarbeiter in Stunden oder Tagen prüfen können, wofür Staatsanwälte Monate und Gerichte in den Instanzen Jahre brauchen? Nehmen wir nur das 'Schmähgedicht' von Jan Böhmermann. Ein Werk, das nicht nur Herrn Erdogan, sondern viele andere hellauf empörte, befanden Staatsanwälte in Mainz nicht einmal einer Anklage wert."
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