9punkt - Die Debattenrundschau

35 Mal Sport und 11 Mal Tatort

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.07.2017. Zehntausende Hongkonger protestieren, auch für Liu Xiaobo - aber die Zeichen für Hongkong stehen nicht gut, fürchtet die taz. Im Standard schwärmt Karl-Markus Gauß von Moldawien. In der NZZ verzweifelt Michail Schischkin an Russland. In der Welt antwortet Richard Herzinger auf Seymour Hershs Behauptung, dass Baschar al-Assad nicht für das Giftgas in Chan Scheichun verantwortlich sei.  Im Observer fordert Kenan Malik die Linke auf, ihren Kulturalismus aufzugeben.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.07.2017 finden Sie hier

Politik

Zehntausende Hongkonger protestierten gegen den Besuch des Staatspräsidenten Xi Jinping zum Jahrestag der Übernahme  der Stadt vor zwanzig Jahren - sie forderten auch die Freilassung des im Krankenhaus festgehaltenen Liu Xiaobo, berichtet Felix Lee in der taz. Xi stattete währenddessen mit Vorliebe Polizeieinheiten und Garnisonen der Volksbefreiungsarmee Besuche ab. Für Hongkong stehen die Zeichen nicht gut: "Schon jetzt fürchten viele Hongkonger, von den Volksrepublik-Chinesen überrannt zu werden. 10-Millionen-Städte wie Shenzhen direkt auf der anderen Seite der Grenze und Guangzhou, rund 100 Kilometer weiter, sind jetzt schon dabei, Hongkong als führende Wirtschaftsmetropole den Rang abzulaufen."

Richard Herzinger antwortet in der Welt auf Seymour Hershs ebenfalls in der Welt vorgebrachte Behauptung, dass die Giftgasattacke von Chan Scheichun nicht von Baschar al-Assad zu verantworten sei (unser Resümee): "Beim Hinweis auf verbleibende Unklarheiten über Umstände und Ablauf des Angriffs auf die nordwestsyrische Stadt unterschlagen die Kritiker einer 'Dämonisierung' und 'Vorverurteilung' Assads und Putins gern, dass es Russland war, das durch sein Veto eine umfassende Untersuchung der Vorgänge durch die UN verhindert hat. Die Blockade der Faktenfindung schuf den Raum, in dem 'alternative Wahrheiten' als scheinbar gleichrangig nebeneinander kursieren können."

In seinem Blog al-bab-com stellt der ehemalige Guardian-Korrespondent Brian Whitaker die Seriosität von Hershs Recherche in Zweifel und verweist auf Ergebnisse der "Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons", die den Einsatz von Sarin in Chan Scheichun nun zweifelsfrei nachgewiesen hat.
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Ideen

"Wir müssen die Begriffe 'Rasse' und 'Kultur' neu denken!", ruft Kenan Malik im Observer. Der Begriff der Rasse sei nach der Nazizeit zwar offiziell obsolet, aber er sei schlicht von dem der Kultur ersetzt worden, und zwar - in fataler Symmetrie - von rechts und von links: "Die so genannte 'Neue Rechte', die in den Siebzigern hochkam, ersetzte bewusst den Begriff der Rasse durch den der Kultur. Jede Nation, jedes Volk, so argumentierten ihre Protagonisten, hat ihre eigene Kultur, die gegen Fremde zu schützen sei. Auch die Linke hat 'Kultur' zum Schlüsselbegriff ihrer Version von Identitätspolitik gemacht. Minderheitengruppen - Afroamerikaner, Aborigenes, Muslime oder Schwule - werden als Träger unterschiedlicher Kulturen, Identitäten und Denkweisen gesehen. Um Rassismus und Unterdrückung zu bekämpfen, argumentieren viele, muss die Identität jeder dieser Gruppen verteidigt werden - ein Spiegelbild des Arguments der Neuen Rechten."
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Gesellschaft

Jeder, der an die sechzig ist und in seinem Leben ein bisschen gelesen hat, kennt diesen Horror. Thomas Schmid erzählt in der Welt, wie er 200 Bücher - alles gute Ware, die ihm etwas bedeutete - an einen Antiquar verkaufen wollte: "Zwölf Bücher - darunter Erstausgaben und einst antiquarisch Wertvolles - hat er ausgewählt. Es tue ihm leid, sagt er mit antrainierter Routine, aber mehr könne er nicht gebrauchen. Und er weist auf die übervollen Regale, in denen ich manches Buch, das auch ich verkaufen wollte, wiedererkenne. Der Antiquar geht an seine Kasse und zieht einen zerknitterten Zehn-Euro-Schein hervor. Ob das in Ordnung sei? Nein, sage ich, nicke aber und nehme das Geld entgegen."

Außerdem: In der SZ verteidigt Johann Schloemann die Ehe für alle, während er gleichzeitig eine Enthöhlung der Ehe diagnostiziert, die aber schon vor Jahrhunderten begonnen habe. In der Berliner Zeitung ärgert sich Alina Bronsky über den Begriff "Cappuccino-Mütter".
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Stichwörter: Antiquariate, Ehe für Alle

Internet

Trotz seines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes hat Heiko Maas das Internet offenbar noch nicht genug reguliert. Nun will er auch noch eine Behörde zur Überwachung von Algorithmen, schreibt Fabian Reinbold bei Spiegel online. Heute wolle der Minister seine Pläne verkünden: "Laut seinem Redemanuskript, das dem Spiegel vorliegt, fordert er 'eine behördliche Kontrolle, um die Funktionsweise, Grundlagen und Folgen von Algorithmen überprüfen zu können'. Die Aufgabe könne eine von der Bundesregierung zu gründende Digitalagentur übernehmen."
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Urheberrecht

In Kanada hat der oberste Gerichtshof entschieden, Google müsse eine Seite aus seinen Suchergebnissen entfernen, die wegen einer Copyright-Verletzung in Kanada illegal sei, berichtet der Globe and Mail. Doch soll die Seite nicht nur in Kanada aus den Suchergebnissen entfernt werden, sondern weltweit. Die Unterhaltungsindustrie jubelt. Auf BoingBoing fragt Cory Doctorow, ob sie noch alle Tassen im Schrank haben: "The entertainment industry has historically been a staunch defender of free speech, albeit one with a huge, copyright-shaped blind-spot. This is some next-level self-serving bullshit from that quarter: if Canadian courts can decide which search results get served in Saudi Arabia, why shouldn't a Saudi court get to decide what's shown in Canada?"
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Medien

Schon am Samstag machte dieses Interview mit der FAS Wind (unser Resümee). Pro-Sieben-Sat1-Vorstand Conrad Albert will etwas von den Fernsehgebühren ab: "Schon heute entdecken Sie, der Quotenorientierung geschuldet, gerade in der Prime Time oft wenig Differenzen zwischen Privaten und Öffentlich-Rechtlichen. Schalten Sie nur mal am Sonntagabend das ZDF ein...  Auch Private senden relevante Public-Service-Inhalte, beispielsweise Infotainment-Formate, preisgekrönte Filme zu gesellschaftlich relevanten Themen, Reportagen und Dokumentationen. Unter den 50 meistgesehenen Sendungen in ARD und ZDF rangiert 2016 dagegen 35 Mal Sport und 11 Mal 'Tatort'."

Außerdem: Jan Feddersen fragt sich in der taz noch mal, was die FAZ getrieben hat, einen schwulenfeindlichen Text, und dann auch noch unter Pseudonym, zu veröffentlichen (unser Resümee).
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Wissenschaft

Allen, die Sexualität für eine Konstruktion halten, aber auch jenen, die Homosexualität "widernatürlich" finden, schreibt Christian Stöcker in seiner Spiegel-online-Kolumne ins Stammbuch: "Für Homosexualität - und für Bisexualität - gilt das gleiche wie für Linkshändigkeit: Sie ist angeboren. Möglicherweise gibt es Menschen mit einer homo- oder bisexuellen genetischen Disposition, die aufgrund von Umwelteinflüssen ein Hetero-Leben führen, aber in einem Punkt sind sich die einschlägig forschenden Wissenschaftler einig: Die Gene - und vielleicht pränatale Hormone - spielen eine zentrale Rolle für die sexuelle Orientierung. "
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Stichwörter: Sexualität, Homosexualität

Europa

Paul Taylor findet in politico.eu eine gute Formel, um das Phänomen Emmanuel Macron zu beschreiben: "In dieser Ära des illiberalen Autoritarismus, schafft Macron eine paradoxe Marke: den liberalen starken Mann. Der junge zentristische Präsident, dessen Wahlerfolg die alte politische Klasse hinweggefegt und ihm im Parlament eine absolute Mehrheit gegeben hat, macht sich die Verfassung der Fünften Republik, die sich Charles De Gaulle auf den Leib geschneidert hatte, voll zu eigen."

Alle reden immer von Europa, als würden sie den Kontinent in- und auswendig kennen. Aber was wissen wir in Deutschland zum Beispiel schon von Estland oder Moldawien, ein Land, das trotz seiner korrupten Regierung durchaus eine Reise wert ist, ermuntert Karl-Markus Gauß im Interview mit dem Standard: "Wenn man sich in Chisinau, der Hauptstadt, ein bisschen länger umschaut, begegnet man einer ungemein lebendigen und kulturell vielseitig interessierten, politisch renitenten Gesellschaft. Es ist herrlich, in einem der zahllosen Gastgärten oder Parks zu sitzen und zu sehen und zu hören, wie sich die Jungen über die alten Gegensätze im alltäglichen Verhalten hinwegsetzen: Da schmachten sich ein Bursche und ein Mädchen inniglich an, und sie wirbt um ihn mit Kosewörtern, an denen die russische Sprache bekanntlich so reich ist, und er antwortet auf Rumänisch, wie man es sich zärtlicher kaum vorstellen kann. Die Moldawier sind in ihrer alltäglichen Kultur viel weiter entwickelt als ihr Staat in seiner politischen."

Paul Ingendaay berichtet  in der FAZ über die vergiftete Stimmung in Spanien, wo die Katalonier am 1. Oktober ein neues, von der Zentralregierung nicht anerkanntes Referendum für die Unabhängigkeit abhalten wollen. Madrid ist mit verantwortlich für die Lage, so Ingendaay: "Spanien hat seit Jahren auf Zeit gespielt. Natürlich fordert Madrid mit Recht Respekt vor der Verfassung. Aber die Magna Carta als Knüppel, mit dem man den Aufmüpfigen eins überbrät, ist auf die Dauer kein Weg. Irgendwann muss man miteinander reden und nach Kompromissen suchen."

In der NZZ kann der Schriftsteller Michail Schischkin nur mit Verzweiflung auf Russland blicken. Die Gegenwart ist finster und für die Zukunft sieht er schwarz, trotz der mutmachenden Demonstrationen gegen Putins Regime in der jüngsten Zeit: "Russland ist ein Gefängnisland mit einem spezifischen Rechtsverständnis. Ein Viertel der russischen Bevölkerung war inhaftiert. Wer selbst kein Häftling war, ist unter ehemaligen Häftlingen aufgewachsen. Was das Gefängnis nicht geschafft hat, hat die Armee vollendet. Der Gaunerjargon, die kriminelle Subkultur, die normative Kraft der 'Gefängnismoral' beeinflussen die moderne russische Gesellschaft nicht nur, sie sind zu ihrem Fundament geworden."
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Überwachung

In dieser Rubrik steht sonst nie etwas Positives, aber heute! Während in den europäischen Nationalstaaten die Geheimdienste bei unserer Kommunikation legal immer mehr mitsehen -lesen und -hören dürfen, will das EU-Parlament die verschlüsselte Kommunikation schützen, berichten Thomas Kirchner und Hakan Tanriverdi in der SZ: "Die entscheidenden Sätze lauten: 'Wenn die Daten elektronischer Kommunikation verschlüsselt werden, sind Entschlüsselung, Reverse-Engineering-Technik oder die Überwachung solcher Kommunikation verboten.' Und: 'Die Mitgliedstaaten dürfen die Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste zu nichts verpflichten, was die Sicherheit und die Verschlüsselung ihrer Netze und Dienstleistungen schwächen würde.' Diese Formulierung hat Marju Lauristin, estnische Sozialdemokratin und Berichterstatterin des Parlaments im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, in ihrem Vorschlag für eine neue E-Privacy-Verordnung gewählt. 'Das ist eine echte Kampfansage an die EU-Staaten', sagt der grüne EU-Abgeordnete Jan Albrecht."
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Religion

Ein liberaler Islam, der dennoch "authentisch" ist? Gibt's doch schon lange, meint Katajun Amirpur, Professorin für Islamische Studien an der Universität Hamburg, in der SZ. "Tatsache ist: Viele islamische Intellektuelle sind überzeugt, dass Reform vonnöten ist. In den islamischen Ländern wie auch in der Diaspora debattieren Muslime über den Islam in der modernen Welt. Sie ringen um eine moderne Interpretation der Quellen und um einen kritischen Zugang zur eigenen Tradition. Sicher geht die Anhängerschaft dieser Reformer nicht in die Millionen. Ganz sicher aber lebt die absolute Mehrheit der Muslime diese moderne Auffassung ohnehin - ohne jede theologische Begründung."

Ob man dem nun folgt oder nicht: Es ist doch erstaunlich, dass sie nur über die Kämpfe für einen modernen Islam im Iran, in Ägypten oder in Südafrika spricht, aber kein Wort dazu sagt, dass in Deutschland Seyran Ates jetzt unter verstärktem Polizeischutz steht, weil sie seit der Gründung der liberalen Ibn-Rushd-Goethe-Moschee mit Morddrohungen überhäuft wird, wie der Tagesspiegel berichtet. "Einer der Mitbegründer der liberalen Moschee ist Abdel-Hakim Ourghi, Islamwissenschaftler und Leiter islamische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. 'Was läuft schief bei den Muslimen, eine andere Sichtweise über den Islam nicht zuzulassen. Der Islam ist eine plurale Religion. Zur Diversität gehört auch das liberale Denken', sagte Ourghi dem Tagesspiegel. In Deutschland habe sich jedoch ein sehr konservativer Islam etabliert. Und konservative Muslime hätten Angst vor Reformen."
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