9punkt - Die Debattenrundschau

Genau diese eine Differenz

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.07.2017. Das Bundesverfassungsgericht möchte keine Kopftuchträgerinnen als Richterinnen sehen - die taz protestiert. Der Brexit ist immer gut für witzige Meldungen: Nun nennt Dominic Cummings, der Erfinder des Slogans "vote leave, take control" den Brexit eine "dumme Idee", hat der Independent herausgefunden. China entwickelt eine Überwachung der Bürger per Gesichtserkennung, die den schlimmsten Science-Fiction-Fantasien gleichkommt, berichtet Netzpolitik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.07.2017 finden Sie hier

Europa

Das Bundesverfassungsgericht möchte kein Kopftuch auf der Richterbank sehen und hat den Eilantrag einer Kopftuch tragenden Rechtsreferendarin abgelehnt, berichtet Christian Rath in der taz: "Die Bürger müssten darauf vertrauen können, 'vor einem unabhängigen und unparteilichen Richter zu stehen, der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber allen Verfahrensbeteiligten bietet.' Dies gelte auch für Rechtsreferendare. Das 'Einbringen religiöser Bezüge' könne den 'in Neutralität zu erfüllenden staatlichen Auftrag der Rechtspflege' beeinträchtigen."

Im Kommentar zu diesem Meldung nennt Rath das Urteil "nicht im Ansatz überzeugend": Das Argument der Neutralität enthalte "die Unterstellung, dass (als solche erkennbare) Muslime ihre Arbeit möglicherweise nicht mit der notwendigen Unabhängigkeit und Unbefangenheit verrichten. Und es befeuert entsprechende Vorurteile in der Bevölkerung". Rath macht darauf aufmerksam, dass hier der Zweite Senat des Gerichts urteilte - der Erste Senat urteilt in der Regel kopftuchfreundlich.

In der FAZ tadelt Patrick Bahners die Richter: "Die Annahme, besonders fromme Individuen täten sich besonders schwer mit neutraler Anwendung des Rechts, ist normativ und empirisch bodenlos."

Es vergeht kein Tag ohne erstaunliche Brexit-Meldungen. Heute berichtet Rob Merrick im Independent: "Dominic Cummings, der Direktor der Vote Leave-Kampagne, hat das Referendum (auf Twitter d.Red.) als 'dumme Idee' bezeichnet, man hätte zuvor anderes ausprobieren sollen, um wieder Einfluss in Brüssel zu gewinnen. Er warnte auch, das sich der Brexit zu einem 'garantierten Debakel' entwickeln werde, wenn Whitehall nicht erfolgreich verhandle." Das witzigste: Cummings ist der Erfinder des Slogans "vote leave, take control" und des auf Bussen als Werbung angebrachten Versprechens, dass der Brexit dem britischen Gesundheitssystem 350 Millionen Pfund pro Woche bringen werde.

Die Scharia hilft, Frauen zu befreien, erklärt James Fergusson im Spectator, der Scharia-Räte in ganz Großbritannien besucht und zu seiner Überraschung herausgefunden hat, dass diese Räte auch Scheidungen gegen gewalttätige Ehemänner aussprechen, so dass man behaupten kann, dass die Scharia in diesem Fall die "Frauen befreit": "Diese Frauen hatten keine andere Ausflucht. Maulana Ejaz, ein Geistlicher aus Drewsbury, der den Scharia-Rat führt, schätzt, dass in Nordengland etwa 60 Prozent der muslimischen Ehen nicht nach englischem Gesetz registriert sind - was die englische Justiz natürlich handlungsunfähig macht, wenn es darum geht solche Scheidungen  auszusprechen."

Leidenschaftlich wendet sich Karl Schlögel in der Welt gegen die "Russophilen", die es in Deutschland in allen Lagern von ganz rechts, über CDU und Wirtschaftsleute bis hin zur PDS gibt: "Putin-Freunde von Schröder über Krone-Schmalz bis Stoiber wollen uns weismachen, dass Kritik an Putin Russenfeindschaft, vielleicht sogar ein Wiederaufleben von Russenhass, Rassismus, Untermenschen-Ideologie sei. Ich bin zu lange in diesem großen und wunderbaren Land unterwegs, als dass mich das einschüchtern könnte. Das ist nichts anderes als 'Verblüffungsrhetorik' (Hermann Lübbe)... Die Unterstellung ist immer dieselbe: Wer Putin angreift, greift Russland an."
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Medien

"Ich weiß, da ist ein Video hier oben auf der Seite. Tut mir leid. Es ist wahrscheinlich auf Autoplay eingestellt und wird loskrähen, ob Sie es wollen oder nicht (ich nehme an, Sie wollen nicht)." So witzig und mutig beginnt Zach Schonfeld  in Newsweek seinen Artikel über den neuesten, auch in Deutschland schon praktizierten Werbehype: "Mein Arbeitgeber sagt, dass das Video da sein muss, weil Video-Werbung entscheidend für das Geschäftsmodell dieser Firma sei, so wie sie auch für alle anderen digitalen Medienhäuser entscheidend ist. Banner-Anzeigen laufen nicht mehr und die von rasenden Managern präsentierte Lösung ist Video. Noch mehr Video. Sehr viel Video."

Außerdem: Stefan Niggemeier schildert bei Uebermedien die "bizarren Verhandlungen ums TV-Duell" zwischen Vertretern der öffentlich-rechtlichen und privaten Sender einerseits und Abgesandten der Kanzlerin Angela Merkel.
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Überwachung

Die schlimmsten Dystopien werden wahr: In China kann man nicht mehr bei Rot über die Straße zu gehen, ohne zu fürchten, dass eine Gesichtserkennungssoftware den Fehltritt erkennt und ahnden hilft, schreibt Tomas Rudl bei Netzpolitik, der sich auf eine nicht online stehende Reportage im Wall Street Journal bezieht: "Zum Einsatz kommt die Technik sowohl in privaten als auch in öffentlichen Einrichtungen; mal lokal, mal vernetzt mit einer zentralisierten staatlichen Datenbank, die Bilder sämtlicher chinesischer Bürger enthält. Von immer zuverlässiger funktionierender künstlicher Intelligenz ausgewertet werden außerdem die Bilder, welche die 700 Millionen chinesischen Internetnutzer auf sozialen Plattformen wie Weibo posten." Und es kommt noch schlimmer: "Bis 2020 will China ein 'Social Credit'-System errichten, das jedem Bürger einen Score zuweist - je nachdem, wie man sich in der Öffentlichkeit oder am Arbeitsplatz verhält."
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Internet

Der Code wird langsam zum Gesetz, warnt Adrian Lobe in der SZ. Er sieht das Problem aber nicht bei Staaten liegen, die Algorithmen einsetzen (wie oben beschrieben China), sondern bei den Internetfirmen wie Facebook und Google: "Die Sammelwut der Internetkonzerne, die immer mehr über das Verhalten der Bürger erfahren, verdichtet sich zu einer Art staatlich geführtem Register. Google und Co. werden jedoch nicht etwa staatsähnlich dadurch, dass sie ein Staatsgebiet oder Staatsvolk aufweisen, sondern zumindest mittelbar Staatsgewalt ausüben, indem sie Herrschaftswissen aggregieren und per Code rechtsverbindliche Normen für Milliarden Nutzer statuieren."

Adrian Daub erzählt in der NZZ, wie Schlafviertel in Kalifornien durch Navigations-Apps plötzlich Teil des täglichen Berufsverkehrs-Wahnsinns werden.
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Ideen

Der Regenbogen der LGBT-Bewegung und Multikulti-Linken kann auch dazu dienen, entscheidende Fragen zu verwischen, meint Perlentaucher Thierry Chervel in einem Artikel für die Welt: "Die universalen Fragen aber stellen sich losgelöst von den Differenzen: In allen Kulturen gibt es homosexuelle Männer, und so gut wie überall werden sie unterdrückt. Auch die Frauenfrage stellt sich jenseits aller Differenzen auf der ganzen Welt. Die Frage der Frauenrechte ist identisch mit der Frage der Menschenrechte. Man kann sich fragen, ob die ultrahippen Differenzdiskurse nicht dazu sind, genau diese eine Differenz - die zwischen dem Status der Männer und der Frauen - zu begraben."
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