9punkt - Die Debattenrundschau

Sie half vielen Flüchtlingen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.07.2017. In der taz setzt Liao Yiwu seine Hoffnung auf Angela Merkel, um Liu Xiaobo doch noch nach Deutschland zu holen. Am besten wehren sich Medien gegen Plattformen, indem sie eine Plattform gründen, meint Publizistikprofessor Otfried Jarren in der NZZ. In Frankreich war der Kolonialismus eine Sache der Republik, erklärt der Historiker Pascal Blanchard in slate.fr. SZ und politico.eu gehen ungarischen Verschwörungstheorien über George Soros auf den Grund.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.07.2017 finden Sie hier

Politik

China will Liu Xiaobo nach wie vor nicht zum Sterben ins Ausland fliegen lassen, berichtet Felix Lee in der taz. Die Behörden beharren auf Transportunfähigkeit, obwohl ausländische Ärzte vom Gegenteil überzeugt sind (unser Resümee). seine medizinische Versorgung in der  Stadt Shenyang sei aber gut. "Am Wochenende durften erstmals zwei Brüder von Liu zu ihm in der Krankenstation kommen. Außer seiner Frau Liu Xia, die seit 2010 ohne rechtliche Grundlage unter Hausarrest steht, konnte ihn zuvor niemand besuchen, nicht einmal seinen Anwälten war dies gestattet. Seinen Brüdern gegenüber bekräftigte der Kranke den Wunsch, gemeinsam mit seiner Frau Liu Xia zur Behandlung ins Ausland ausgeflogen zu werden."  Die Bundesregierung pocht auf ein "Zeichen der Humanität".

Die taz bringt außerdem einen Auszug aus dem Tagebuch Liao Yiwus vom 16. Juni. Lange bevor die Öffentlichkeit von Lius Erkrankung erfuhr, telefonierte er mit einem Neffen von Liu Xiaobo und Liu Xia: "Bitte, wende dich dringend an Frau Merkel, im Namen von ihnen beiden. Bitte sie, bei ihrem Gespräch mit Xi Jinping klipp und klar zu fordern, dass Liu Xiaobo nach Deutschland kommt, um behandelt, nein, um gerettet zu werden. Du sagtest Tante einmal, dass unter den gegenwärtigen Politikern Frau Merkel die menschlichste und die mit dem meisten Mitgefühl ist. Sie hatte einst dir geholfen. Sie half vielen Flüchtlingen, selbst wenn dies ihr große Probleme gemacht hatte."

Melinda Gates möchte in einem Essay für die Welt sicherstellen, dass junge Frauen Zugang zu Verhütungsmitteln bekommen, damit sie ihre Zuklunft gestalten können: "60 Prozent der jungen Frauen weltweit, die nicht schwanger werden möchten, nutzen dennoch keine Verhütungsmittel. Diese sind für die Frauen entweder nicht erhältlich, nicht bezahlbar, oder es gibt niemanden, der ihnen erklärt, wie die Mittel funktionieren. Das ist nicht akzeptabel. Jede fünfte junge Frau auf der Welt wird vor ihrem 18. Geburtstag Mutter. Das hat oft tragische Konsequenzen." Das Stichwort Religion fällt in Gates Text nicht.
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Religion

Streit über Moscheen und die Höhe von Minaretten gibt es nicht nur in der Schweiz, sondern auch im Iran. In Zahedan, einer Stadt im Dreiländereck Iran, Afghanistan, Pakistan, die zu den wenigen Städten mit sunnitischer Mehrheit im Iran gehört, dürfen die Türme der neuen sunnitischen Moschee nur halb so hoch werden, wie ursprünglich geplant, berichtet in der NZZ Philipp Breu, der die Stadt besucht hat. Die meisten Sunniten fühlen sich hier sehr viel wohler als in Teheran, erfährt er: "Um interkonfessionellem Ärger vorzubeugen, hatte die Regierung ... ein Gesetz erlassen, das den Bau von sunnitischen Sakralgebäuden in mehrheitlich schiitischen Bezirken einer Stadt verbietet und umgekehrt. Das hat zur Folge, dass Sunniten in ausschließlich schiitisch geprägten Städten wie Teheran gar keine sunnitischen Gotteshäuser besuchen können - oder sich heimlich Alternativen suchen müssen. Sunnitische Portale im Internet verweisen auf neun sunnitische Moscheen in Teheran. Allesamt Hinterhofmoscheen, die nicht ausgeschildert sind."

Im Interview mit Zeit online schildert der Berliner Imam Taha Sabri seine Busreise mit sunnitischen Imamen zu Orten islamistischen Terrors in Europa: Berlin, Brüssel-Maelbeek, Saint-Étienne-du-Rouvray, Paris, Toulouse, Nizza. Auch wenn er versteht, dass man nicht immer Lust hat, sich von den Terroristen abzugrenzen - es ist notwendig, meint er: "Ich kenne diese Stimmen, die sich nicht ständig wieder äußern wollen auch aus meiner Gemeinde und verstehe die Müdigkeit meiner Glaubensbrüder. Man muss jedoch auch anerkennen, dass diese Terroristen mit ihren Gewaltakten Bilder über meinen Islam in der Welt verbreiten: Islam ist Terrorismus, Islam ist Blut, Islam ist Gewalt. Wir müssen beweisen, dass wir noch stärkere Bilder erzeugen können. Natürlich hat die faschistische Ideologie und deren paar Koranverse ohne Kontext nichts mit meiner Religion zu tun. Aber am Ende benutzt sie meine Religion und ich bin ihr diesen Protest schuldig, um sie vom Islamismus zu befreien."
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Internet

In der SZ lobt Bernd Graff einen vom Munich Center for Internet Research (MCIR) ausgeschriebenen Wettbewerb zur automatisierten Identifizierung von Robotern in sozialen Medien (Bots), die die Diskussion und damit auch die Politik beeinflussen: "Dabei wird es immer schwerer, Bots von Menschen zu unterscheiden. Denn sie agieren inzwischen unter echt anmutenden Fake-Profilen und geben immer besser vor, aktive und interessierte Bürger zu sein. Sie wandeln sich also immer mehr vom beauftragten Agenten, der mechanisch Jobs abspult, hin zum selbsthandelnden Akteur. Ja, es gibt mittlerweile Botnetze, in denen Skripte untereinander sogar Kontroversen austragen, um nicht als Algorithmen enttarnt zu werden."
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Geschichte

In Frankreich war der Kolonialismus vor allem eine Sache der Republik, und zwar sowohl der Rechten als auch der Linken seit der Dritten Republik, erklärt der Historiker Pascal Blanchard im Gespräch mit Marina Bellot in slate.fr: "Sich in der Welt auszudehnen, stellt sich als Wert zugleich in die Kontinuität der Französischen Revolution, als auch in die Macht-Argumentation für den Nationalismus. Für die Linke ist die Konstruktion des Kolonialreichs in der Idee der zivilisatorischen Mission begründet: wir ziehen los, um den Völkern im Dunkel das Licht zu bringen. Die Rechte muss erklären, inwiefern die Ausdehnung der Grenzen der Nation der Nation dient. Hier ist es vor allem das Potenzial zur Großmacht."
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Europa

In der SZ schildert Alex Rühle die neueste Verschwörungstheorie Viktor Orbans. Der kennt angeblich den "mächtigen Strippenzieher" hinter der Einwanderungswelle, die laut Orban die europäische Identät zu zerstören droht: "George Soros! Der aus Ungarn stammende US-Milliardär habe die EU-Kommission damit beauftragt, eine Million Migranten pro Jahr nach Europa zu schaffen, sagte Orbán am vergangenen Freitag im Staatsrundfunk. Soros wolle eine allmächtige Einwanderungsbehörde schaffen, die die Nationalstaaten aller Mitspracherechte beraube."

Außerdem hat Orban eine große Plakatkampagne gegen George Soros lanciert, berichtet neben Rühle auch Connor Murphy bei politico.eu: "Große Plakate des Philanthropen sind überall in Ungarn aufgetaucht. Ein lächelnder Soros wird zu dem Slogan 'lasst uns nicht zulassen, dass er als letzter lacht' präsentiert. die Oberzeile des Plakats sagt: '99 Prozent lehnen illegale Einwanderung ab.' Die Regierung hat geschätzt 5,7 Milliarden Forint (19 Millionen Euro) für die Kampagne ausgegeben."
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Medien

Große Aufregung bei amerikanischen Medien: Die News Media Alliance, die 2.000 Medien in den USA und Kanada repräsentiert, wird beim amerikanischen Kongress vorstellig, damit die Medien entgegen bisherigen Kartellbestimmungen kollektiv mit Google und Facebook verhandeln können (unsere Meldung gestern). Der Guardian meint allerdings, dass "es schwierig werden wird, den Kongress zu eine Ausnahme zu bewegen". Währenddessen "sagt Campbell Brown, der Chef für die Medienpartnerschaften bei Facebook, dass Facebook 'sich verpflichtet fühle, Qualitätsjournalismus auf Facebook gedeihen zu lassen. Wir machen Fortschritte bei unserer Arbeit mit Verlegern und haben noch mehr Arbeit vor uns.'"

In der NZZ greift der Publizistikprofessor Otfried Jarren dagegen eine alte, aber immer noch kfrei und überall ins Netzluge und nie umgesetzte Idee auf: Journalistische Medien sollten eine eigene (jedoch öffentlich finanzierte) Plattform gründen und ihre Artikel dort markenübergreifend anbieten: "Dort könnten Angebote gebündelt bereitgestellt werden. Man kann also wie gewohnt einzelne Angebote integral abonnieren und nutzen. Aber - und das macht den Charme von Plattformen aus - man kann zudem Angebote anderer Anbieter selektiv beziehen. Wer sich für bestimmte Themen, Ereignisse oder Autorinnen interessiert, der könnte sich diese Angebote selektiv herunterladen und zusenden lassen. Eine Software würde Einzelnutzung gegen Entgelt ermöglichen. Auch Blogger könnten auf der Plattform sein."

Und in der FAZ polemisiert Michael Hanfeld gegen Rundfunkräte, die wollen, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen ungehindert frei und überall ins Netz ausbreiten sollen, wohin nach Hanfeld seltsamer Weise vor allem die Zeitungen zu gehören scheinen.
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Gesellschaft

Auch Im Zeitalter der "Ehe für alle" behalten Christopher Street Days und die schwule Subkultur ihren Sinn, meint Jan Feddersen iin der taz: "Didier Eribon, dessen nicht ins Deutsche übersetzte Texte zur Homosexuellenfrage alle besser sind als sein bei heterosexuellen Linken so beliebtes 'Rückkehr aus Reims', antwortete einmal auf die Frage, ob die schwule Kneipenkultur noch wichtig sei, jedes Lokal, in dem fraglos und offen schwule Männer und lesbische Frauen gehen können, in dem sie nicht die Minderheit sind und sein können, wie sie zu sein beanspruchen, sei es."

In der FAZ untersucht Ulrich Sander katholische Proteste gegen die "Ehe für alle". Noch viel empörter seien die Bischöfe allerdings gewesen, "als 1953 die Rechtsfigur des männlichen Familienoberhauptes abgeschafft wurde".

Im Interview mit Zeit online fordert der Rechtswissenschaftler Gregor Thüsing ein Recht auf Offline im Arbeitsrecht: "Es geht darum, zu erarbeiten, welche geringfügigen Störungen der Freizeit wir hinnehmen wollen, was also zulässig sein kann und was eben eine Zumutung ist. Es sind ja ganz unterschiedliche Situationen, auf die ein Arbeitszeitrecht eingehen muss. Es gibt kurze Unterbrechungen, die vielleicht sogar im Interesse beider Seiten liegen, die nicht belasten. Man liest lieber Samstagsabend noch eine Email und beantwortet sie kurz, wenn diese am Montag eine Stunde Meeting überflüssig macht. Andererseits gibt es Situationen, da ist es dem Arbeitnehmer gar nicht so recht, gestört zu werden."

Systemtheoretiker Niels Werber liest für den Aufmacher des FAZ-Feuilletons das Buch "Das metrische Wir" des Soziologen Steffen Mau, der die Macht der Algorithmen auf uns untersucht: " Seine These ist, dass unsere Gesellschaft einer neuen Form der 'sozialen Rangbildung' unterworfen wird, die allein auf einer 'Hierarchisierung und Klassifikation' quantifizierender Daten aufbaut." Während sich die soziale Rangbildung früher auf Talent und Verdienst begründete?
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