18.07.2017. Die bürgerliche Publizistik kratzt sich am Kopf: Und was wäre, wenn die sympathischen jungen Leute vom "Schwarzen Block" doch irgendwie Recht hätten? Dass "vehementer Widerstand" politische Entscheidungen verhindern kann, erkennt Jakob Augstein in Spiegel online geradezu als Beweis für Demokratie. Die Publizistin Barbara Sichtermann erklärt die Gewalt in der taz mit "Hilflosigkeit, Wut und Verzweiflung". Mit Gewalt lassen sich soziale Grundrechte verankern, hofft die Soziologin Donatella della Porta in der SZ. "Nichts als Verachtung" bekennt dagegen Peter Schneider in der Welt für solche Positionen.
Gesellschaft, 18.07.2017
In bürgerlichen Medien äußern heute viele Stimmen ihr Verständnis für die
Gewalt des "
Schwarzen Blocks".
Die Publizistin
Barbara Sichterermann bekennt ihr Verständnis im Gespräch mit Dinah Riese von der
taz in authentisch erhaltener Siebziger-Jahre-Sprache: "Gewalt komplett abzulehnen, Pazifist zu sein, ist ein ehrenwerter - und einfacher - Standpunkt, den auch viele der Protestierenden in Hamburg vertreten haben. Aber wenn ich mich in einen jungen Autonomen hineinversetze, der sieht, wie die
neoliberale Politik überall in der Welt die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher macht, und der dann
aus Hilflosigkeit,
Wut und
Verzweiflung einen Stein oder einen Brandsatz wirft - dann bleibt da irgendwo ein kleines Restverständnis."
Auch Jakob Augstein
fragt in seiner
Spiegel-online-Kolumne, ob es "der funktionierenden Demokratie einen
legitimen Ort für außerstaatliche Gewalt" gibt und finde am Ende sogar, dass die Gewalt
ein Zeichen für ihr Funktionieren sei: "Gegen vehementen Widerstand lässt sich in der offenen Gesellschaft kein staatliches Handeln durchsetzen - ganz gleich, wie rechtmäßig es ist. Das ist eben
der Unterschied zur Diktatur."
Und der Ex-Rafler
Karl-Heinz Dellwo stellt sich in der
taz mit der ganzen Autorität seines Veteranentums "
gegen das Distanzierungsverlangen .., das nun überall auftritt, weil dieses Distanzieren die Möglichkeit des Erkennens blockieren will... Im Distanzierungs- und Bekenntniszwang geht es um die
Hegemonie der Vermittlung, also um Herrschaft und die etablierte Ordnung, die allerdings zum G20-Gipfel massenhaft, nicht nur durch die Militanten, infrage gestellt wurde. Ihr G20-Gipfel ist gescheitert."
Im Interview mit der
SZ fordert schließlich die italienische Soziologin
Donatella della Porta eine neue Definition von Gewalt und die Anerkennung, dass Gipfelproteste schon
viel Gutes bewirkt haben: "Es gibt auch konkrete politische Abkommen, die auf aktivistischen Druck verabschiedet wurden, zum Schutz von Kindersoldaten oder im Waffenhandel etwa. Allgemein haben die Proteste gegen diese Art politischer Gipfel bewirkt, dass sich
soziale Grundrechte fest im politischen Denken der sogenannten Millennial-Generation verankert haben. Das wird sicherlich noch für politischen Wandel in den nächsten Jahren sorgen."
"Nichts als
Verachtung"
bekennt in der
Welt Peter Schneider für bürgerliche Sympathisanten (wobei er Christian Ströbele und Jutta Ditfurth im Sinn hat). Er würde ihnen die Lektüre der Novellen "Verbrecher aus verlorener Ehre" oder "Michael Kohlhaas" von
Schiller und Kleist empfehlen: "Der
von einer Idee getriebene Verbrecher erscheint zunächst edler und verständlicher in seinem kriminellen Tun, weil er ja nicht aus 'niedrigen Beweggründen' handelt... Er begeht die Tat exemplarisch, in einem
imaginierten höheren Auftrag, um ein ungeheures, nicht nur ihm persönlich, sondern der Menschheit angetanes Unrecht anzuzeigen. Deswegen muss er seinen symbolischen Akt im Prinzip
in unendlicher Folge wiederholen, bis sein Ziel erreicht ist - die Herstellung der Gerechtigkeit."
Außerdem: In der
FAZ erkennt die Soziologin
Barbara Kuchler soziale Gründe für die allgemeine Anerkennung der "
Ehe für alle".
Wissenschaft, 18.07.2017
Der Germanist
Michael Knoche, der bis vor kurzem die Herzogin Anna Amalia Bibliothek der Klassik-Stiftung Weimar leitete, drängt in der
FAZ auf eine stärkere Förderung von
Digitalisierung und Bestandserhaltung von Bibliotheken: "Was digitalisiert wird, sollte zugleich konservatorisch gesichert werden. Was gesichert ist, wird auch digitalisiert. Das Prinzip lautet:
Konversion nicht ohne
Konservierung. Die Verknüpfung ist auch betriebswirtschaftlich sinnvoll."
Grüne Gentechnik könnte viele Menschenleben retten. Zum Beispiel der in Freiburg angebaute "
goldene Reis", der nach genetischer Manipulation
Betacarotin enthält, eine Vorstufe von Vitamin A, die dem Vitamin-A-Mangel in armen Ländern abhelfen könnte. In einer jetzt online gestellten
Reportage für die
Zeit geht Max Rauner nun dem
"ungeheuren Vorwurf" von
123 Nobelpreisträgern nach, "dass nämlich
die Deutschen im Allgemeinen und Greenpeace im Besonderen mit daran schuld seien, dass die Reissorte aus dem Freiburger Gewächshaus in armen Ländern noch nicht auf dem Acker steht. Dass Hunderttausende Kinder
noch leben würden, wenn Europa nicht so wissenschaftsfeindlich wäre. In ihrer Anklage an Greenpeace und die Vereinten Nationen schreiben die Nobelpreisträger von einem '
Verbrechen gegen die Menschlichkeit'."
Ideen, 18.07.2017
Die
NZZ hat aus
edge.org einen Text der Wirtschaftstheoretikerin
Melanie Swan übernommen, die uns für
Blockchain-Technologie interessieren will. Was das ist? Eine "dezentralisierte Konto-Software" mit der man jegliche Art von Wert übertragen kann: "In einer tiefgreifenden Bewegung hin zur
automatisierten Wirtschaft könnten so ganze Handelszweige - etwa das Hypothekengeschäft - an auf Blockchains basierende 'smart contracts' ausgelagert werden. 'Smart contracts' sind, als Realisierung
selbsttätiger künstlicher Intelligenz, ein radikaler Innovationsschritt - etwas, das unser Denken verändert, uns innehalten lässt und angesichts dessen wir unmittelbar spüren, dass die Dinge jetzt für immer anders sein könnten." Vor diese Segnungen setzt Swan allerdings die Kryptoaufklärung der Kryptobürger.
Medien, 18.07.2017
Facebook und die
Zeitungsverlage verhandeln derzeit über einen Deal, wonach
Bezahlartikel der Zeitungen auf Facebook an den Leser gebracht werden sollen. Auf
Netzpolitik hat Julia Krüger dazu
ein paar Fragen: "Jüngst wurden nun weitere Details der laufenden Verhandlungen bekannt: Dazu zählt etwa der
Zugriff der Medienunternehmen auf die Facebook-Daten der Abonnenten. Zweck sei es, die Zielgruppen besser zu verstehen. ... Ob Nutzerinnen und Nutzer einverstanden damit sind, der BILD oder F.A.Z. ihre persönlichen Daten zukommen zu lassen, damit die Verlage einen besseren Deal mit Facebook erzielen? Das sollte man sie wohl
mal fragen."
Außerdem: In der
FAZ beleuchtet Jürg Altwegg das gespannte Verhältnis zwischen
Emmanuel Macron und den französischen Medien.
Internet, 18.07.2017
Das nennen wir Globalisierung: Wladimir Putins Partei "Einiges Russland" orientiert sich bei der Formulierung eines neuen
Internet-Überwachungsgesetz am Vorbild von Heiko Maas'
Netzwerkdurchsetzungsgesetz,
heißt es - mit Verweis auf russische Quellen - in einer Pressemitteilung der
Reporter ohne Grenzen: "Am 12. Juli reichten Abgeordnete der Duma-Fraktion 'Einiges Russland' einen Gesetzentwurf ein, der Betreibern sozialer Netzwerke hohe Strafen androht, wenn sie rechtswidrige Inhalte nicht
innerhalb von 24 Stunden löschen. In ihrer Begründung beziehen sich die Initiatoren ausdrücklich auf das Ende Juni vom deutschen Bundestag verabschiedete Netzwerkdurchsetzungsgesetz, aus dem sie
zahlreiche Punkte kopiert haben."
Religion, 18.07.2017
Hülya Gürler
verteidigt in der
taz Seyran Ates' Berliner Ibn-Rushd-Moschee: "Der neuen Gemeinde kann man nur das Allerbeste wünschen. Mehr davon muss es geben! Mehr inklusive und
progressive Gemeinden, die Frauen selbstverständlich als religiöse Autoritäten akzeptieren. Und noch anderes mehr: Wir Muslime brauchen eine kritisch-historische Auseinandersetzung mit dem Glauben, öffentliche Aussprachen unter den Mitgliedern, die Zweifel und
abweichende Meinungen Einzelner zulassen, ohne dass Gläubige gleich unter Blasphemieverdacht stehen. Die rigide Sexualnormen aufbricht, Homosexualität und den weit verbreiteten Sex vor der Ehe enttabuisiert."
Europa, 18.07.2017
Auch die
Süditaliener haben den Glauben an Europa verloren. Und das kann man gut verstehen,
meint der italienische Publizist
Mario Fortunato in der
SZ, angesichts des schäbigen Wegsehens bei der Flüchtlingskrise. Er hat einen Vorschlag: Von der EU gesponsorte
kostenlose Urlaubsreisen für die Bürger der nördlicher gelegenen EU-Länder an die Küsten von Kampanien, Kalabrien, Apulien und Sizilien: "Man kann davon ausgehen, dass sich die EU-Bürger aus dem Norden beim Bad im Mittelmeer recht bald inmitten einer Anlandung Tausender Afrikaner wiederfinden würden, zwischen Menschen, die vor Krankheit, Hungersnöten und Diktatoren geflohen sind, vielen unbegleiteten Kindern, schwangeren Frauen, Sterbenskranken und Invaliden. Ich nehme an, dass diese Erfahrung, obgleich chaotisch und vielleicht hier und da beklemmend, von
entscheidendem pädagogischen Wert wäre: Was soll man anfangen mit ihnen, die nun mal da sind, diesen tragischen Gestalten von elternlosen Kindern, schwangeren Frauen? Soll man sie
an Ort und Stelle erschießen?"
Diego Torres
schildert bei
politico.eu die Schwierigkeiten jener
Katalanen, die gegen eine Abspaltung von Spanien sind - obwohl sie die Mehrheit zu sein scheinen: "Die katalanische Gesellschaft ist in der Frage der Unabhänigigkei
gespalten. Die letzten Zahlen des von der katalanischen Regierung betriebenen Centre d'Estudis d'Opinió sehen die Unterstützer der Unabhängigkeit bei 44,3 Prozent und die der Gegner der Abspaltung von Spanien bei 48,5 Prozent. Jenseits dieser Zahlen sind es allerdings die Anhänger der Unabhängigkeit, die
Millionen von Menschen auf die Straße brachten, um ihr Anliegen zu unterstützen. Öffentliche Kundgebungen für die Einheit des Landes waren bescheiden."
Die größte
Gefahr für den Westen kommt nicht von außen, sondern von innen,
schreibt Anne Applebaum in einem leidenschaftlichen Kommentar für die
Washington Post und spielt damit auf die Untergrabung der
polnischen Justiz durch die Partei Recht und Gerechtigkeit an. Die EU, sagt sie, denke über Sanktionen gegen Polen nach: "Wenn der Westen in diesem Punkt
einig wäre, dann hätte das vielleicht einigen Einfluss in Polen. Aber
Trumps Besuch in Warschau sandte genau die umgekehrte Botschaft. Sie hat die Partei Recht und Gerechtigkeit ermutigt, sich selbst innerhalb Europas zu isolieren, im Glauben, es habe amerikanische Rückendeckung."
Tatsächlich ist das polnische Parlament gerade dabei, seine
unabhängige Justiz abzuschaffen,
schreibt Florian Hassel in der
SZ. Ein hastig verabschiedetes neues Gesetz "löst den Landesrichterrat (KRS), der als Verfassungsorgan die
Unabhängigkeit polnischer Richter wahren soll, in seiner bisherigen Form auf und unterstellt den Rat Parlament und Justizminister. Ein weiterer Gesetzentwurf sieht vor, den
Obersten Gerichtshof aufzulösen. Dadurch wird die Wahl und Ernennung aller Richter Polens der Regierungsmehrheit und dem Justizminister unterstellt. Eine zusätzliche Neuerung erlaubt dem Justizminister, alle Gerichtspräsidenten und ihre Stellvertreter zu ernennen und zu entlassen."
Außerdem: Paul Ingendaay begibt sich für die
FAZ auf eine Reise durch das Immer noch von der Vergangenheit gezeichnete Land
Litauen.