9punkt - Die Debattenrundschau

Wie bei einem Provinztheater

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.07.2017. Der Diesel-Skandal zeigt etwas über deutsche Mentalität, sagt die Welt, und auch Angela Merkel sieht da nicht gut aus, ergänzt die taz. In der SZ gibt Jacek Dehnel Auskunft über die politische Szenerie in seinem Land - nicht nur die PiS-Partei ist verantwortlich. In der taz versucht Tristan Garcia seinem Begriff der "Intensität" auf die Spur zu kommen. Buzzfeed erzählt, wie es mit  Soundcloud bergab ging.  In der FAZ wird umständehalber ein Zeitungsmuseum gefordert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.07.2017 finden Sie hier

Europa

Der Diesel-Skandal sagt etwas über deutsche Mentalität, schreibt Thomas Schmid in der Welt: "Das Auto war immer staatliche Chefsache, die Wendung von Gerhard Schröder als dem 'Autokanzler' brachte es auf eine griffige Formel. Die Automobilindustrie bekam Sonderkonditionen und fand im Staat immer einen hartnäckigen, geduldigen und gerne auch wegschauenden Fürsprecher - auch in Richtung EU. Es galt immer als ausgemacht: Die Autobranche ist too big to fail."

Noch prägnanter bringt es Ulrich Schulte in der taz auf  den Punkt: "Und was tat Merkel? Im Juni 2013 griff sie zum Telefon, um einen Kompromiss für strengere Kohlendioxidvorgaben zu stoppen, den alle EU-Mitgliedstaaten bereits unterschrieben hatten. Der Vorsitzende des Umweltausschusses im EU-Parlament sagte danach fassungslos: 'Das ist das Dreisteste, was ich in acht Jahren Brüssel erlebt habe.'"

Jenni Russell von der britischen Times schildert in einem Gastbeitrag der New York Times den gegenwärtigen Katzenjammer über den Brexit, der für sie vor allem wirtschaftlich bedrohlich ist: "Uns fehlen die Qualifikationen, die industrielle Basis, die Dynamik oder die Produktivität, die wir bräuchten, um als unabhängige Nation durchstarten zu können. Über Jahre sind die britischen Probleme durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union verdeckt worden. Nun werden sie schmerzhaft sichtbar." Der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan äußerte unterdessen laut Guardian die Zuversicht, dass Britannien durch ein zweites Referendum den Verbleib in der EU beschließen könne.

Und die Musikwelt rätselt, ob Mick Jaggers neuer Song "England Lost" als Kommentar zum Brexit zu verstehen ist (nähere Erläuterungen hierzu in der Presse).



Der polnische Autor Jacek Dehnel gibt in der SZ über die politische Szenerie in seinem Land Auskunft - und nicht nur die PiS, sondern auch die Bürgerplattform (PO) von Donald Tusk und die Opposition sehen dabei nicht besonders gut aus: "Die politische Szene in Polen ist starr - das Grundmodell besteht aus einem starken Führer an der Parteispitze, einem Alphamännchen mit starkem Ego, das aus Angst vor Machtverlust keine neuen Führungspersönlichkeiten heranwachsen lässt, weshalb die jüngere Generation farblos bleibt. Wie bei einem Provinztheater mit kleiner Besetzung bleiben die Akteure immer auf der Bühne, egal welchen Verlauf die Handlung nimmt."

Außerdem: Auf Twitter extrem häufig empfohlen (etwa von Garri Kasparow (hier) ist Jason Leopolds große Recherche in Buzzfeed über den Tod des Russia Today-Gründers Michail Lessin in einem Washingtoner Hotelzimmer im Jahr 2015: Der bei Putin in Ungnade gefallene Mogul ist offenbar entgegen der offiziellen Version amerikanischer Stellen, ermordet worden.
Archiv: Europa

Medien

Der pakistanische Premieminister muss aufgrund der Enthüllungen aus den "Panama Papers" zurücktreten - Thema des Tages unter anderem in der Süddeutschen zeitung, die in dem Konsortium recherchierender Journalisten eine führende Rolle spielte. Edward Snowden gratuliert auf Twitter:
"Die Umstände, die ein Zeitungsmuseum als mehr als überfällig erscheinen lassen, sind nicht mehr zu übersehen", schreibt Publizistikprofessor Jürgen Wilke in der FAZ in einem Plädoyer für ein Pressemuseum.
Archiv: Medien

Ideen

Der angesagte junge Philosoph Tristan Garcia ("Das intensive Leben") versucht im Gespräch mit Christian Werthschulte von der taz zu erklären, was er unter "Intensität" versteht, und lässt die Begriffe nur so purzeln: "Ich bin gegen philosophischen Rat für alle, kann aber meinen Mitphilosophen einen Rat geben. Ich denke, wir sollten das Vokabular der Intensität wie reine Differenz, Modulation, Oszillation weniger verwenden und wieder von Gender reden anstatt von Genderifizierung. Das ist notwendig, weil die reaktionären Denker smarter als wir geworden sind. Sie haben das Prinzip der Intensität verstanden und versprechen eine Rückkehr zu einer präintensiven Ethik von Seelenheil. Es war der große Fehler meiner Generation, diese Reaktionäre nicht ernst zu nehmen."

Es wird Zeit, dass der Globalisierungkritik ein -lob an die Seite gestellt wird, meint Zukunftsforscher Daniel Dettling in der Welt: "Vor 40 Jahren lebte mehr als die Hälfte der Menschheit (zwei Milliarden Menschen) in extremer Armut. Heute sind es noch 700 Millionen Menschen. 800 Millionen Menschen leiden an Hunger. Jährlich geht die Zahl der Armen um 70 Millionen zurück. China hat daran den größten Anteil. Innerhalb von nur einer Generation haben sich rund 700 Millionen Chinesen aus der Armut und vom Hunger befreit."

Außerdem: In der NZZ weist Rolf Dobelli die Forderung "Sei authentisch" zurück.
Archiv: Ideen

Internet

Soundcloud, der Stolz der Berliner Start-up-Szene, musste Anfang des Monats vierzig Prozent seines Personals entlassen. Ryan Mac geht für die amerikanischen Buzzfeed-News den Ursachen des Abstiegs nach, der "nach Aussagen vieler Ehemaliger Folge einer strategischen Fehlentscheidung war - der Idee, Hals über Kopf, mit den Giganten des Musik-Streamings konkurrieren zu wollen. Mit dem Start von SoundCloud Go, einem Abodienst für 9,99 Dollar im Monat im März 2016 war Soundcloud ein Spätentwickler in einem wild kompetetiven Umfeld und mit einem Angebot, das sich kaum von Spotify oder Apple Music unterschied. Es war ein Flop, und der missglückte Start und der Widerspruch zur Unternehmenskultur wogen schwer. 'Niemand geht zu Soundloud, um den Beatles-Katalog zu hören', sagt ein Investor. 'Soundcloud hat genau das getan, was seine Nutzer nicht wollten.'"
Archiv: Internet

Kulturpolitik

Die Aufarbeitung des Kolonialismus kann nicht das einzige Kriterium  für die Präsentation der Schätze im Humboldt-Forum sein, schreibt Peter von Becker im Tagesspiegel. Übrigens ist es bei weitem nicht das einzige Haus mit diesem Problem, ergänzt er mit Blick  auf das schon längere Zeit geschlossene Königliche Museum für Zentral-Afrika in Brüssel, das demnächst wiedereröffnet wird. Es "steckt eigentlich voller Raubgut. Wie auch das zuvor von Neil MacGregor geleitete Britische Museum in London. Aber auch die Historie des Commonwealth, eine reine Kolonialgeschichte, lässt sich im Museum bestenfalls kommentieren. Nicht rückgängig machen. Die Dahlemer Schätze künftig nur voller Sündenstolz in einer Art Selbstgeißelung vorzuführen, wäre mal wieder ein deutscher Sonderweg."
Archiv: Kulturpolitik