9punkt - Die Debattenrundschau

Nett und eher zurückhaltend

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.08.2017. Wenigstens Charlie Hebdo traut sich, die Verbindung von Terrorismus und Islam zu thematisieren, lobt die über den neuen Titel gebeugte FAZ. Der Tagesspiegel übersetzt den Brief einer Sozialarbeiterin an die Attentäter. Die SZ möchte die Berliner Mohrenstraße in Anton-W-Amo-Straße umbenennen und so den ersten afrikanischen Wissenschaftler in Deutschland würdigen. Mit der Digitalisierung lernen die Geisteswissenschaften den politischen Alexander von Humboldt kennen, freut sich die taz. Auch Fahrradfahrer können töten, lernt der Guardian.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.08.2017 finden Sie hier

Europa

Da trifft Charlie Hebdo mit seinem neuen Titel - zwei Leichen liegen auf der Straße, ein Lieferwagen haut ab und darüber die Legende: "Islam, religion de paix ... éternelle", Religion des ewigen Friedens" - mal ganz ohne Beleidigung auf den Punkt, und dann ist es auch nicht recht, stellt Jürg Altwegg in der FAZ fest. Allein die Tatsache, dass der rechtsextreme Politiker Robert Menard den Titel begrüßte, reichte, die Linke auf die Palme zu bringen. So forderte der Sozialist Stéphane Le Foll von Charlie Hebdo umgehend "mehr 'Verantwortungsbewusstsein'. ... Immerhin hat der lautstarke Protest gegen Charlie Hebdo dazu geführt, dass das Thema überhaupt wieder diskutiert wird. Denn bei der Berichterstattung über die Attentate in Barcelona und Cambrils fiel vor allem auf, dass ein Zusammenhang mit der Religion der Mörder als Beweggrund kaum noch erwähnt wird. Vielleicht wird er ja längst als Selbstverständlichkeit betrachtet. Aber der Eifer, mit dem jegliche Diskussion über den Islam und den Terror kritisiert, ja verhindert wird, grenzt an Weißwäscherei".

In Ripoll, dem 11.000 Einwohner großen spanischen Örtchen, aus dem die islamistischen Attentäter von Barcelona kamen, ist man fassungslos, berichtet Ralf Hutter in der taz: "Die Attentäter werden als 'sehr gut integriert' beschrieben, sie sprachen sowohl sehr gut Katalanisch als auch Spanisch, hatten vor Ort Freunde, beteiligten sich am sozialen Leben ihrer Gemeinde, spielten Fußball, mochten Autos und HipHop-Musik, waren nett und eher zurückhaltend, keine schlechten Schüler und nicht einmal besonders arm. Die Terroristen profitierten von klein auf von lokalen Freizeit- und Integrationsangeboten sowie später von einer staatlichen Hilfseinrichtung zur Integration in den Arbeitsmarkt. Die Meisten von ihnen hatten oder machten Ausbildungen im mechanischen Bereich, darunter auch der Todesfahrer Abouyaaqoub."

Der Tagesspiegel druckt auszugsweise einen Brief der Sozialarbeiterin Raquel Rull aus Ripoll, die die Attentäter kannte: "Wir wuchsen zusammen auf und durchlebten Etappen. Ich erinnere mich noch an unsere langen Gespräche im Büro. 'Raquel, ich muss mit dir sprechen...', dann zogen wir uns zurück und sprachen über die Zukunft. Pilot, Lehrer, Arzt oder Mitarbeiter bei einer NGO wolltet ihr werden. Wie konnte sich das alles in Luft auflösen? Was ist geschehen?"
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Gesellschaft

Soll die Mohrenstraße in Berlin umbenannt werden? "Ich kann alle verstehen, die in die Straße kommen und sagen: 'Das ist aber ein seltsamer Name!' Das finde ich auch - aber eine Stadt, in der jede Generation den Stadtplan umschreibt, kann ich mir auch nicht vorstellen", meint in der taz der Ethnologe Wolfgang Kaschuba, der findet, dass die Diskussion wichtiger sei als eine Umbenennung.

Unabhängig davon, ob man eine Umbenennung politisch für nötig befindet, würde sich die abstrakte "Mohrenstraße" natürlich sehr gut eignen, einen schwarzen Deutschen auszuzeichnen, der sich große Verdienste erworben hat. Anton W. Amo zum Beispiel, meint Jan Kedves in der SZ: "Er wurde 1703 im heutigen Ghana geboren, als Kind versklavt, nach Amsterdam verschleppt und an den Herzog von Braunschweig und Lüneburg-Wolfenbüttel 'verschenkt'. Der 'vererbte' ihn als 'Kammermohr' an seinen Sohn, der das menschliche Erbstück studieren ließ. Anton W. Amo promovierte 1734 in Philosophie und lehrte an den Universitäten von Halle, Wittenberg und Jena. Der erste afrikanische Wissenschaftler in Deutschland."

Fahrradfahrer haben im Straßenverkehr ganz schön zu leiden. Aber sie übersehen auch gerne, dass es eine Gruppe gibt, die noch schwächer ist als sie: Fußgänger. Gerade wurde in England eine junge Frau von einem Rad-Raser getötet. Ob man die Gesetze verschärfen muss, ist eine Frage, eine andere hat gerade ihre Antwort gefunden: Fahrräder können töten, erinnert David Shariatmadari im Guardian. "Drivers are rigorously tested and policed, precisely because it's clear how dangerous cars are. If you ride a bike, on the other hand, there is no testing and enforcement of the rules is only half-hearted, leading many of us to cut corners. Not only that: we are still too prone to the illusion that we can't really be that much of a menace to ourselves or to others. ... Even at 10mph, the ground is very hard when it hits you."
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Wissenschaft

"Die Geisteswissenschaften sind digitale Spätzünder", stellt Manfred Ronzheimer in der taz fest. Aber das ändert sich gerade, lernt er von dem Mathematiker Martin Grötschel und Präsidenten der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), der schon seit 20 Jahren von Open access träumt. "Eine vom Senat beauftragte Arbeitsgruppe, der Grötschel angehört, erarbeitet derzeit die Strukturen, damit bis zum Jahr 2020 auf 60 Prozent der wissenschaftlichen Literatur in Berlin über das Internet zugegriffen werden kann. ... Auch inhaltlich öffnen sich den Wissenschaftshistorikern neue Möglichkeiten. So verweist Ottmar Ette darauf, dass durch die digitale Auswertung der Tagebücher die kritische Haltung Alexander von Humboldts zur Sklaverei, die er in den Plantagen auf Kuba antraf, viel deutlicher werde. Auch lasse sich jetzt besser nachvollziehen, wie sich Humboldts Positionen im Lauf der Zeit verändert haben, etwa in seiner Haltung den Indianern gegenüber. Ette zu den digitalen Erkenntnisgewinnen: 'Wir entdecken jetzt den politischen Alexander von Humboldt.'"
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Religion

Im Gespräch mit Susanne Fritz vom Deutschlandfunk lehnt Necla Kelek einen Status der muslimischen Ahmadiyya-Sekte als Körperschaft des öffentlichen Rechts ab. Auch sie teile "die Welt in Frauen und Männer auf. Das heißt, die Männer entscheiden über das Leben der Frauen, Ältere über Jüngere. Sehr stark vertreten ist die Verwandschaftsehe, so dass halt die Mitglieder gleich von Anfang an in der Gemeinschaft bleiben und keine Möglichkeit haben, außerhalb dieser Gemeinschaft ein Leben anzufangen. Das wird sehr stark kontrolliert. Und sie sind missionarisch - also sie tragen den politischen Islam weiter, indem sie zum Beispiel unentwegt Moscheen bauen wollen."
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Geschichte

Reformationsforscher können aufatmen: Zwingli hat zwei Jahre in Einsiedeln gelebt und in der Bibliothek des Klosters gearbeitet, dafür gibt es jetzt einen Beweis, berichtet Thomas Ribi in der NZZ. "Es sind nur ein paar Wörter, aber sie sind wertvoll. Wertvoller als so manches dicke Buch. Letzte Woche hat Urs Leu sie entdeckt - und damit eine Leerstelle geschlossen, welche die Schweizer Reformationsforscher lange beunruhigte. In der Bibliothek des Klosters Einsiedeln fand der Zürcher Historiker in einem Kodex aus dem 9. Jahrhundert drei kurze, mit schwarzer Tinte geschriebene Randbemerkungen. Für Leu war sofort klar: Das ist Huldrych Zwinglis Handschrift!"
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