9punkt - Die Debattenrundschau

Leider hatte Caligula keine politische Erfahrung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.08.2017. In der FAZ fürchtet der Autor Dmitry Glukhovsky, dass Putin den Druck auf Russland erhöht, weil ihm jetzt das Geld ausgeht. Die FAS ahnt: Im chinesischen Zeitalter wird nicht zensiert, sondern zu kleinen Modifikationen angehalten. In der FR erinnert Stella Gaitanon an die große Tragödie des Südsudan. In der taz lernt Gabriele Goettle mit jugendlichen Flüchtlingen, richtig Deutsch zu lernen. Und die New York Times tröstet Amerika: Auch Rom hat seine verrückten Caesaren überstanden überstanden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.08.2017 finden Sie hier

Europa

In Russland gibt es kein unabhängiges Parlament mehr und keine unabhängige Justiz. Die Medien sind gleichgestellt, und auch der Film hängt als Kunstform mit der größten Verbreitung von staatlichen Zuwendungen ab. Warum aber hat der russische Staat jetzt einen so vieldeutigen Künstler wie Kirill Serebrennikow verhaftet, einen Theaterregisseur, dessen Einfluss äußerst begrenzt ist? Weil Putin die Wirtschaft durch Korruption ruiniert hat und ihm jetzt das Geld ausgeht, meint in der FAZ der russische Science-Fiction-Autor Dmitry Glukhovsky. Er kann die Elite nicht mehr einfach kaufen. Die politische Elite spüre den Druck schon länger, jetzt sei eben auch die Kulturelite dran: "Der Fall Serebrennikow fordert sie im Grunde auf, einen der beiden von der russischen Intelligenzija längst ausgetretenen Pfade zu wählen: die Klappe zu halten oder stiften zu gehen." Auch der seit 2014 Jahren in Berlin lebende russische Journalist Nikolai Klimeniouk meint in der FAS: "Es geht um Kontrolle über den gesamten Kulturbetrieb."

Der Observer meldete gestern, dass sich Labour zu einer Haltung zum Brexit durchgerungen hat: Die Partei will jetzt doch einen weichen Brexit, also im Binnenmarkt bleiben. Im Guardian kann Zoe William das nur begrüßen: "In laying out a forthright and practical alternative to the Tories' cliff-edge transition, Labour has effectively restored Brexit to the grasp of parliamentary politics, one in which MPs can vote as their reason and consciences determine. Where previously the plan swung like a pendulum between Tory factions, announced categorically one day and briefed against the next, it is now fixed. In seeking clarity for its own position, Labour has surely forced clarity from the government."
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Politik

Für das Literaturprogramm "Refugees Worldwide" des  Literaturfestivals schreibt die Sudanesin Stella Gaitanon in einem von der FR übernommen Artikel über die Lage im Südsudan, der nach seiner Unabhängigkeit prompt in den Bürgerkrieg fiel und nun seine Menschen zurück in den Sudan treibt: "Die Mehrheit ging vor allem deshalb in den Sudan, weil ihnen dort Umwelt, Kultur und Sprache vertraut waren. In jener Zeit veröffentlichte die sudanesische Regierung eine Erklärung, die den Anschein erweckte, dass sie die historischen Beziehungen zwischen dem Süden und dem Norden anerkennen würde. Es hieß, man werde die Grenzen öffnen. Doch bald mussten sie feststellen, dass diese Erklärung ihre Nichtanerkennung als Flüchtlinge einschloss. Auch der wirtschaftliche Zusammenbruch des Südsudan, als Folge des Krieges und des gefallenen Ölpreises, ließ dieses Asyl als verheißungsvolle Option erscheinen. Heute allerdings sehen viele junge Leute ihren Aufenthalt im Sudan nur als vorübergehend an und denken darüber nach, ihr Schicksal endgültig herauszufordern und das Mittelmeer zu überqueren."

Auch das große Rom musste einst festellen, dass sein Führer nicht ganz richtig tickte, erinnert Nicholas Kristof in der New York Times: "Er war reizend, hitzköpfig und energiegeladen, er schlief nur drei Stunden und er hatte etwas Volkstümliches. Seine ersten Monate als Caesar sprühten vor Hoffnung. Caligula redete erst einmal alles schlecht, was sein Vorgänger getan hatte. Caligula machte auch auch populäre Versprechen wie eine Steuerreform. Er verhieß große Projekte, neue Infrastruktur, er wollte einen Kanal bauen durch den Isthmus von Korinth. Aber, ach, leider hatte Caligula keine politische Erfahrung und er erwies sich extrem unfähig, die Dinge geregelt zu bekommen. Seine persönlichen Extravaganzen machten schließlich eine Steuererhöhung nötig..." Aber, meint Krstof hoffnungsvoll, Rom hat das überstanden (Wenn auch nicht Caligulas Mutter).

Hannes Stein lernt in Charles MacKays Klassiker "Extraordinary Popular Delusions and The Madness of Crowds" immerhin, dass Massenwahn in allen Zeiten der Geschichte auftrat. Trost kann er in dem Buch dennoch nicht finden: "Bleibt die Frage, was man gegen den Irrsinn tun kann. Wie macht man einem Bekloppten klar, dass er bekloppt ist? Leider ist die Antwort, die Charles MacKay in seinem Klassiker aus dem Jahre 1841 gab, wenig beruhigend. Er schrieb: 'Menschen, so wurde mit Recht gesagt, denken in Herden; und wir werden sehen, dass sie auch in Herden verrückt werden, während sie nur langsam wieder zu Sinnen kommen - einer nach dem anderen.'"

In der FR liest Arno Widmann Steve Phillips' Polit-Analyse "Brown is the New White" und meint, dass die amerikanischen Demokraten mehr auf Minderheiten setzen sollten: "Die Demokratische Partei begeht einen verhängnisvollen Fehler, wenn sie versucht, angeblichen Wechselwählern, die von Obama zu Trump überliefen, nachzulaufen. Sie muss ihr gewaltiges Reservoir, das sie in den Stimmen der Farbigen hat, mobilisieren."
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Wissenschaft

Wie eine Stichflamme loderte in der vergangenen Woche kurz das Skandalon um die Cambridge University Press auf, von der Peking die Streichung bestimmter Artikel für die chinesischen Zugänge verlangte (unser Resümee). Mark Siemons sieht darin in der FAS einen Vorboten für das chinesische Zeitalter. Peking, bemerkt er, hat nicht einfach selbst die Artikel gelöscht: "China wünscht sich ein Cambridge und einen Westen, die so aussehen wie bisher, wie der allseits respektierte, bewunderte, weltweit für Normen und Prinzipien sorgende Universalismus, der von ihnen ausgeht - einzig mit der winzig kleinen Modifikation, dass alles, was mit der Herrschaft der neuen Macht im Widerspruch steht, daraus getilgt wird. Und dass der frühere Westen selbst sein Einverständnis dazu gibt."
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Medien

"Zwangsgebühren" und "Staatsfunk" - alles ideologische Kampfbegriffe, mit denen die Öffentlich-rechtlichen denunziert werden sollen, meinte Brigitte Baetz neulich im Dlf (unser Resümee). Ach was, antworten darauf Rainer Hank und Georg Meck in der FAS. Sie beschreiben nur die Realität: "Niemand behauptet, der öffentlich-rechtliche Rundfunk verbreite offizielle, gar offiziell angeordnete Regierungspropaganda. Das ist auch gar nicht nötig, sagt der Mainzer Historiker Andreas Rödder: 'Der heutige grün inspirierte großkoalitionäre Konsens in Deutschland, christlich-moralisch überhöht durch Kardinal Marx und Bischof Bedford-Strohm, wird von ARD und ZDF in ganzer Breite medial verbreitet.' Diese ihren Hall selbst verstärkende Echokammer ist gemeint, wenn von Staatsfunk die Rede ist."

Christian Meier geht in der Welt den Vorwürfen nach, die Hannoveraner Verlagsgruppe Madsack soll eine Firmengeschichte zurückhalten, die ein ungutes Licht in der NS-Zeit auf sie werfe.
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Gesellschaft

Heute ist in der taz Gabriele-Goettle-Tag. Diesmal hört sie der Lehrerin Marta Huhnholt zu, die in Bremen unbegleitete jugendliche Flüchtlinge unterrichtet. Am allerwichtigsten, sagt sie, ist der Spracherwerb: "Es muss eben das Minimum erlernt werden. Das Wie ist dabei gar nicht so wichtig. Man kann ja auf verschiedene Weise lernen. Aber nur mit der Reflexbildung kommt man bei Sprachen nicht wirklich weiter. Das ist zu wenig. Man braucht eine Methode. Es gibt Menschen - sicher kennt ihr solche auch -, die sind 20 bis 30 Jahre oder länger in Deutschland und können immer noch kein Deutsch, weil sie nie analytisch über die Sprache nachgedacht haben, sich niemals mit der Syntax der deutschen Sprache auseinandergesetzt haben."
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Stichwörter: Deutsche Sprache