9punkt - Die Debattenrundschau

Dieses eingeübte System

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.09.2017. Der niederländische Schriftsteller Abdelkader Benali fragt in der NZZ, warum es islamistischen Hasspredigern immer wieder gelingt, junge Rekruten in Europa zu finden. Der Wahlkampf ist auch deshalb so langweilig, weil die eigentlichen Themen gemieden werden, meint Georg Diez in seiner Spiegel-online-Kolumne. Die eigentliche Brexit-Lüge war, dass der Brexit einfach werden würde, stöhnt Nick Cohen im ObserverZeit online vergleicht die netzpolitischen Wahlprogramme der Parteien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.09.2017 finden Sie hier

Europa

Vielleicht ist es ganz gut, einen externen Blick auf die gestrige Kandidatendebatte zu werfen. Fünf "Takeaways" präsentiert  Matthew Karnitschnig bei politico.eu und leitet seinen Artikel so ein: Die Debatte sei als ein "TV-Duell angekündigt worden. Danach sprechen entnervte deutsche Kommentatoren von einem 'Duett'. Das Paar sang bei den meisten Schlüsselthemen im Unisono, von Flüchtlingen bis Renten, was den 97-minütigen Austausch zu einer Herausforderung machte. Trotz des mangelnden Feuers wird die Debatte Einfluss auf den verbleibenden Wahlkampf haben." Und "Takeaway" Nummer 1: "Das Rennen um den ersten Platz ist vorbei."

Georg Diez wusste in seiner Spiegel-online-Kolumne schon vor dem "Duell", dass die eigentlich drängenden Fragen der neuen Bedingungen für Politik in einer veränderten Welt gar nicht angesprochen werden würden: "Das Alte ist die Politik der Interessensgegensätze der sozialen Marktwirtschaft, Arbeit gegen Gewerkschaft zum Beispiel, oder Kirche gegen Sex und Selbstbestimmung - aber dieses eingeübte System funktioniert nicht mehr, weil sich die Rahmenbedingungen so radikal geändert haben: Was tun Gewerkschaften, wenn das Ende der Arbeit kommt? Wie lassen sich gesellschaftliche Konflikte anders lösen als durch die Formen der Vergangenheit?"

Eine wahre Hymne auf Deutschland schreibt Christophe Bourdoiseau, Berlin-Korresondent des Parisien in der SZ: "Deutschland hat mehr als eine Million Flüchtlinge freundlich aufgenommen. Dank einer mobilisierten Zivilgesellschaft haben wir 2015 eine humanitäre Katastrophe in Europa und damit weitere wilde Camps obdachloser Migranten wie in Nordfrankreich verhindert. Viele Franzosen sind den Deutschen dankbar, dass sie die humanistischen Werte Europas verteidigt haben. Die Stadt Berlin hat 2015 so viele Flüchtige aufgenommen wie ganz Frankreich."

Freihandel hatten die Helden des Brexit versprochen, eine unmittelbare Befreiung von den Lasten Europas und Zugang zum Gemeinsamen Markt. Ihre eigentliche Lüge waren nicht die 350 Millionen Pfund, die dem maroden britische Gesundheitssystem angeblich wöchentlich zufließen würden, sondern, dass "der Brexit einfach ist", schreibt Nick Cohen in seiner Kolumne für den Observer: "Statt im versprochenen Utopia befinden wir uns jetzt in der schwächsten Verhandlungsposition seit München. Statt munter den Weg zu gehen, den wir uns auswählen wollen, sind wir dazu verdammt, im Schlamm zu waten. Im Brexit offenbart sich laut Craig Oliver, Camerons Spin Doctor, der 'Sieg der komplexen Wahrheit über einfache Lügen'. Britannien muss langsam lernen, dass man komplexe Wahrheiten nicht auf ewig verleugnen kann."

In der NZZ lehnt der Philosoph Otfried Höffe eine "negative Utopie" namens Vereinigte Staaten von Europa ab und findet statt dessen "lediglich eine Vision vertretbar, die den Unionsgedanken erstens streng und effektiv auf Subsidiarität verpflichtet, die sich zweitens für die Unionsgrenzen überschreitende Regionen offenhält und sie drittens offensiv das kosmopolitische Potenzial Europas pflegt. Sichtbar wird diese Vision in einer komplexen Bürgeridentität, die beiden Vereinfachungen Widerstand leistet: sowohl dem Abschied von der EU als auch dem Einschmelzen der Vielfalt in den homogenisierenden Vereinigten Staaten von Europa."
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Gesellschaft

Der niederländische Schriftsteller Abdelkader Benali sucht in der NZZ nach einer Erklärung, wie es islamistischen Hasspredigern immer wieder gelingt, junge, oft in Europa geborene Muslime für Anschläge zu rekrutieren. Eine große Rolle spielt seiner Ansicht nach, dass über Zweifel und Unsicherheiten zu Hause kaum gesprochen wird: "In diese Lücke springen die lachenden Imame. Sie haben mit den Jugendlichen viel gemeinsam. Oft sind sie selber als Kinder nach Europa gekommen oder gar hier geboren worden. Auch sie standen im Bann von Glanz und Überfluss des Westens, wurden vielleicht kriminell, um zu Geld zu kommen. Wer dann bekehrt wird, findet nicht zu einem moderaten, sondern zu einem fundamentalistischen Islam, in dem der Bruch mit dem Westen zur identitätsstiftenden Obsession gerät."

Die Ungleichheit selbst ist nicht das Problem, sagt der Soziologe Claus Offe im Gespräch mit Andreas Zielcke in der SZ: "Wichtiger scheint die Frage sozialer Macht zu sein. Warum sollte eine Großbank oder ein Tabakkonzern berechtigt sein, den Markt für moderne Kunst zu regieren? Oder die Stiftung eines Medien-Giganten die Gesundheitspolitik in der Dritten Welt? Von der Finanzierung von Parteien und Wahlkämpfen gar nicht zu reden. Auch das hält wenige davon ab, extremen Reichtum zu akzeptieren, ja zu bewundern. Amerika hat eine seiner Galionsfiguren zum Präsidenten gewählt."
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Überwachung

Auf Zeit online vergleicht Patrick Beuth die netzpolitischen Wahlprogramme der Parteien. Beim Thema Überwachung unterscheiden sich CDU und SPD nicht, lernen wir: "Um einen Überwachungsgesetzentwurf zu finden, den Union oder SPD im Bundestag abgelehnt haben, muss man zurück ins Jahr 2005 gehen. Eine Ende der Serie ist nicht absehbar, aber zumindest gibt es in diesem Punkt mal echte Alternativen. ... Grüne, Linke und die FDP sprechen sich explizit gegen jede anlasslose Datensammlung aus, die FDP hält allenfalls das seinerzeit von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger vorgeschlagene Alternativkonzept 'Quick Freeze' für denkbar. Dabei muss eine Strafverfolgungsbehörde zunächst einen konkreten Verdacht haben und kann dann das vorübergehende Speichern von Daten eines Anschlusses anordnen. Ob sie darauf dann auch zugreifen darf, würde jedes Mal ein Gericht entscheiden. "

Aktivisten haben in den USA erreicht, dass Behörden Daten über allenthalben gespeicherte Autokennzeichen freigeben müssen, die ein totales Bewegungsprofil der Bürger ergeben, berichtet Constanze Kurz in ihrer FAZ-Kolumne. Aber das kann nur ein Anfang sein: "Die Puzzlesteine heißen Videoüberwachung mit automatisierter Gesichtserkennung, Funkzellenauswertung oder Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten, Reiseinformationen und Geldtransaktionen. Viele Teile fehlen nicht mehr, um das Puzzle einer permanenten Überwachung zu vervollständigen."
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Medien

Hüstel - nun expandieren die Sender aber tatsächlich in Bereiche, die mit Nähe zu Sendungen nichts mehr zu tun haben: Die Medienkolumne Altpapier, deren stolzer Name sich einst aus der digitalen Herkunft in der seligen Netzeitung ableitete, wandert vom Evangelischen Pressedienst zum öffentlich-rechtlichen Sender MDR, berichtet Markus Ehrenberg im Tagesspiegel: "Das kommt etwas überraschend. Inhaltlich soll die Kolumne, die morgendlich einen Blick auf die Medienberichterstattung in der Republik wirft, auch unter dem öffentlich-rechtlichen Dach aber nicht verändert werden."

Außerdem: Marc Felix Serrao wirft für die NZZ einen Blick in die neue Zeitschrift Cato, die ab nächsten Freitag alle zwei Monate rechtskonservativen Autoren eine Stimme geben will.
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