9punkt - Die Debattenrundschau

Die wertvollste Reparation

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.09.2017. Immer weniger Ärztinnen trauen sich in Deutschland Abtreibungen durchzuführen - weil sie von "Lebensschützerinnen" massiv belästigt werden, berichtet die taz. In der Welt fragt Constantin Schreiber, ob Kinder an deutschen Schulen nicht einen gemeinsamen Religionsunterricht haben sollten. Der Guardian findet eine der Ursachen für den auch in der amerikanischen Linken weit verbreiteten Hass auf Hillary Clinton: Rassismus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.09.2017 finden Sie hier

Gesellschaft

AbteibungsgegnerInnen verklagen Frauenarztpraxen, die etwa auf ihren Webseiten mitteilen, dass sie Abtreibungen durchführen - denn laut deutschem Gesetz ist "Werbung" für den Schwangerschaftsabbruch verboten. In einem Fall führt das jetzt dazu, dass eine Staatsanwaltschaft Anklage gegen eine Ärztin erhob, berichten Dinah Riese und Eiken Bruhn in der taz. Die Folgen liegen auf der Hand: "Viele ÄrztInnen seien heute abgeschreckt von der Aussicht, mit Anzeigen der LebensschützerInnen überzogen zu werden - und führten die Abbrüche lieber gar nicht erst durch, sagt Christian Albring, Präsident des Berufsverbands der Frauenärzte in Deutschland. Frauen sind durch das Werbeverbot bei der Arztwahl zudem von ihren ÄrztInnen oder Beratungsstellen abhängig. Recherchieren sie selbst im Netz, landen sie fast zwangsläufig auf den Seiten der AbtreibungsgegnerInnen."

Gerade jüngere Ärzte lehnen es heute ab, Abtreibungen durchzuführen, erläutert Eiken Bruhn in einem Kommentar: "Ihnen fehlt die politische Überzeugung älterer Kolleg*innen, die noch für das Recht auf Abtreibung demonstriert haben. Selbstredend wird das Thema nicht in der Ausbildung gelehrt - Straftaten gehören nicht ins Curriculum."

In der Zeit sucht Tobias Haberkorn nach Gründen für die Unsichtbarkeit von Armut im deutschen Wahlkampf. Möglicherweise sind wir - auch dank des Unterschichten-Fernsehens - längst zu sehr an die "Ästhetik der Abgehängten" gewöhnt, glaubt er: So gut wie nie höre man dagegen "von den gesellschaftlichen oder politischen Zusammenhängen, die eine solche Armut erzeugen oder von ihr profitieren. Man betrachtet eine Reihe bedauerlicher Einzelfälle, aber nie ein politisches Problem. Die Reaktion der meisten Menschen auf diese Bilder geht von Empathie über Fremdscham zur Eigenmotivation: So tief will man selbst niemals fallen. Dass sich die Abgehängten und die Abstiegsbedrohten in einem politischen Projekt, ja vielleicht sogar in einer politisch formierten 'Klasse' zusammenfinden könnten, ist in diesem Setting nicht vorgesehen."

Nach dem nicht repräsentativen Besuch von zwei Schulen mit hohem Anteil muslimischer Schüler in Berlin und Nordrhein-Westfalen, in denen er nach Geschlechtern getrennte Klassen, Gebetsräume und "Judenhass" erlebt hat, denkt Constantin Schreiber in der Welt über neue schulische Inhalte wie Toleranzklassen und gemischten Religionsunterricht nach: "Schulpolitisch wird ja eher der Ansatz vertreten, Schüler nach Religion sozusagen zu trennen. Stichwort muslimischer Religionsunterricht. Dann sollen Muslime, Christen, Atheisten und Angehöriger anderer Religionsgruppen separat etwas über Glauben, Werte und Ethik lernen. Aber wäre es nicht richtig, dass sie gemeinsam in EINEM Unterricht diese Themen behandeln? So wie die muslimischen Schüler dann auf Inhalte treffen, die ihnen einen Perspektivwechsel abverlangen, so kommt auch die andere Seite in Kontakt mit neuen Sichtweisen."
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Europa

Nach der polnischen Forderung deutscher Reparationszahlungen befürchtet Gerhard Gnauck in der Welt neben innenpolitischen Ablenkungsmanövern -  bis heute fehlen etwa Beweise für die Behauptung einer Fremdeinwirkung beim Absturz des polnischen Regierungsflugzeugs in Smolensk - einen bevorstehende Polexit: "Kommen die Reparationsforderungen jetzt, weil der Streit mit der EU um Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit seinem Höhepunkt entgegengeht? Irgendwann könnte dieser Streit für Warschau finanzielle Folgen haben - da ist es schlau, beizeiten eine Gegenrechnung aufzumachen. Eine noch schlimmere Befürchtung aber ist diese: Die Strategen des Regierungslagers richten sich langfristig auf einen Polexit und/oder weitere Zerfallserscheinungen in der EU ein. Die große Mehrheit der Polen ist unverändert für die Mitgliedschaft; deshalb muss man mit den EU-Partnern möglichst viele Konflikte inszenieren und Pulverdampf produzieren."
 
Juristisch haben die Forderungen keinen Bestand, meint Stefan Ulrich in der SZ, moralisch steht Deutschland hingegen in Polens Schuld - wenn auch anders als Jaroslaw Kaczynski sich das vorstellen mag. Deutschland müsse sich für die Freiheit Polens einsetzen und keine Geschäfte mehr mit Russland auf dem Rücken der Polen machen, erklärt Ulrich. Zudem sei Polens Freiheit nicht nur von außen bedroht: "Die größte Gefahr kommt gerade von der Regierung selbst. Diese zertrümmert den Rechtsstaat, beseitigt die Gewaltenteilung und bekämpft die Meinungsvielfalt, als wolle sie das Werk der kommunistischen Herrscher fortführen. Gerade aufgrund der Geschichte darf Berlin nicht wegsehen, wenn die Polen heute wieder entmündigt werden sollen, und sei es von ihrer eigenen Regierung. Die Bundesregierung braucht keine Milliarden an Kriegsentschädigung zu zahlen. Aber sie muss in der EU darauf dringen, die Exzesse der Pis-Regierung zu beenden. Das ist die wertvollste Reparation, die Deutschland an Polen leisten kann."
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Politik

Hillary Clinton hat ein Buch über ihre Wahlniederlage geschrieben, und es wird von linken und liberalen amerikanischen Medien mit dem Hass aufgenommen, der Clinton immer wieder begegnet, bemerkt Hadley Freeman im Guardian. Hinter diesem Hass steht nicht nur Sexismus, sondern auch Rassismus, führt sie aus. Clinton sei eine furchtbare Kandidatin gewesen, werde oft zur Begründung der Ablehnung gesagt, und so "ignoriert man die Tatsache, dass sie die qualifizierteste Kandidatin einer ganzen Generation war und mehr Stimmen bekam als je ein anderer Kandidat mit Ausnahme Barack Obamas im Jahr 2008. Was diese Leute wirklich meinen ist: 'Nur weiße Wähler zählen.' Es ist eine unbequeme Wahrheit (um das Wort eines anderen unterlegenen Kandidaten aufzugreifen, der einst die Mehrheit der Stimmen erhielt, den man hinterher aber nicht aufforderte zu schweigen), aber die einzigen Wähler, die Clinton als ungenügend ansahen, waren weiß, Frauen inklusive. Dem gegenüber stimmten 95 Prozent der schwarzen und 70 Prozent der Latino-Frauen für sie."

Aung San Suu Kyi muss den Nobelpreis behalten, ruft Ingrid Müller im Tagesspiegel, denn sie ist Birmas "Türöffner zur Welt". (Unser Resümee) Nur wegen des Nobelpreises habe man den Widerstand Suu Kyis gegen die Junta und das ganze Land im Blick gehabt, meint Müller. Die Aberkennung würde deshalb nicht nur Suu Kyi, sondern das ganze Land schwächen: "Statt solcher Symbole ist Realpolitik gefordert, damit sich die Region nicht zu einem Unruheherd nach Vorlage des Palästinenserkonflikts entwickelt. Mehr als ein Drittel der Rohingya ist geflohen, jeden Tag gibt es neue Gräuel. Aus diesem Konflikt droht über Birma hinaus ein entsetzlicher Kampf Muslime gegen Nicht-Muslime zu werden, den nationalistische Politiker ausnutzen. Es ist höchste Zeit, dass die Asean, der Verbund der südostasiatischen Staaten, aktiv wird."
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Medien

In der Welt staunt Christian Meier über die Steigerungsrate vor allem bei den Gehältern der ARD-Intendanten (unser Resümee): "Als vor rund sieben Jahren die erste Transparenzwelle durch die ARD-Führungsetage schwappte, sahen die Gehälter noch ganz anders aus. Die damalige WDR-Chefin Monika Piel kam im Jahr 2009 auf ein Grundgehalt von 308.000 Euro." Der jetzige WDR-Chef Tom Buhrow verdient 399.000 Euro. "Zwischen diesen sieben Jahren liegt demnach ein Sprung von 22 Prozent."
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Internet

Gibt es einen Gender Pay Gap bei Google? Einige ehemalige und aktuelle weibliche Google-Angestellte verklagen den Konzern, weil er Frauen schlechter bezahle und systematisch in unterlegene Positionen stecke, berichtet Sam Levin, der Silicon-Valley-Korrespondent des Guardian: "Dieser neue Prozess könnte weitreichende Folgen haben, vor allem vor dem Hintergrund, dass Google öffentlich behauptet hatte, die schlechtere Bezahlung von Frauen beendet zu haben." Levin erinnert auch an die Debatte um den von Google gefeuerten Techniker James Damore (unsere Resümees), "der ein kritisches Memo über Affirmative Action" geschrieben hat.

Christina Felschen greift in Zeit online noch eine andere für Google peinliche Geschichte auf - die Entlassung eines Google-kritischen Forschers aus dem maßgeblich von Google geförderten Thinktank New America Foundation (unsere Resümees). In der Einflussnahme sind die Internetkonzerne immer ungenierter - und mittlerweile die größten Lobbyisten in Amerika, so Felschen: "Die fünf großen amerikanischen Technikunternehmen - Facebook, Apple, Microsoft, Amazon und allen voran Google - gaben schon 2015 zusammen 49 Millionen US-Dollar für Lobbyarbeit aus, mehr als doppelt so viel wie die fünf größten Banken. Allein in Obamas Amtszeit kamen Google-Mitarbeiter zu 427 Besuchen ins Weiße Haus, wie die Campaign for Accountability exemplarisch dokumentiert hat."

Johannes Steiling stellt in Netzpolitik eine Studie der Yale Universität vor, die sich mit der Frage beschäftigt hat, wie sinnvoll es ist, wenn "Fake News" von Facebook auch als "falsch" gekennzeichnet werden. Die Forscher kamen zu dem Ergebnis, dass "die Verbesserung, die durch die Kennzeichnung erzielt werde" sehr marginal sei: "Besonders problematisch sei dies, weil so viele Falschmeldungen auf Facebook kursieren würden, dass die Faktenprüfer kaum hinterher kommen würden. Ein Großteil der Fake News könne daher nicht gekennzeichnet werden. Somit sei zu befürchten, dass die negativen Aspekte der Kennzeichnung die positiven deutlich überwiegen." Facebook zweifelte die Studie an, weil sie "methodische Mängel aufweise".
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Geschichte

Michael Wuliger schildert in der Jüdischen Allgemeinen, wie sehr ihn die RAF vor vierzig Jahren anwiderte, wie wenig er sich aber zu Mitleid mit Hanns-Martin Schleyer, einem einstigen SS-Mann, der in der Tschechoslowakei an Arisierungen mitgewirkt hatte, durchringen konnte: "Und ich bin bis heute froh, dass mir, nachdem die Terroristen ihre Geisel am 18. Oktober 1977 ermordet hatten, erspart blieb, mich bei einer der zahlreichen Trauerbekundungen zu Ehren des Toten zu einer Schweigeminute vom Platz erheben zu müssen. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte. So oder so hätte es sich falsch angefühlt."
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