9punkt - Die Debattenrundschau

Schwarz und Weiß verflochten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.09.2017. Google will laut FAZ den Verlagen bei ihren Bezahlinhalten helfen, indem es Nutzerdaten an sie weitergibt.  In der Stuttgarter Zeitung verteidigt Günther Oettinger sein europäisches Leistungsschutzrecht für Zeitungen. In der FAZ erzählt Peter Schneider, warum er den Rechtfertigungen seines Freunds Gerhard Schröder über sein Verhältnis zu Putin nicht glaubt. Peter Sloterdijk erwartet in der NZZ eine Fortdauer der Lethargokratie. Die New York Review of Books publiziert den letzten Text Liu Xiaobos, eine kleine Liebeserklärung an seine Frau Liu Xia.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.09.2017 finden Sie hier

Politik

Die New York Review of Books veröffentlicht den letzten Text Liu Xiaobos, ein Vorwort Liu Xias Fotobuch "Accompanying Liu Xiaobo", das demnächst erscheinen soll. Es ist eine Liebeserklärung: "Bis zu diesem Tag ist mein größtes Bedauern, dass ich nicht ihre erste Ausstellung 'Gedichte, Gemälde, Fotos - Schwarz und Weiß verflochten' arrangieren konnte  - die drei Künste der kleinen Xia in einer vereint." Das Buch sammelt Arbeiten, die Liu Xia offenbar in ihrem Hausarrest angefertigt hat - Schwarzweißfotos von Skulpturen aus Alufolie, einige sind hier zu sehen.
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Ideen

Kenan Malik, selbst ein Kritiker des Multikulturalismus, mag Mark Lilla in dessen Kritik der Identitätspolitik nicht folgen. Die Schwarzen in Amerika, schreibt Malik im Observer, hatten in den Sechzigern gar keine andere Wahl als eigene schwarze Gruppen zu gründen, um sich auch gegen eine oft gleichgültige Linke in Amerika Gehör zu verschaffen: "Darum ist Lillas Feier der New-Deal-Linken so fadenscheinig. Roosevelts Wohltaten, argumentiert Lilla, schafften eine Linke, die mit 'Vertrauen, Hoffnung, Stolz und einem Geist der Selbstaufopferung' erfüllt war. Außer dass es nicht ganz so gewesen ist. Es war auch eine Linke, die sich mit den Jim-Crow-Gesetzen, der Segregation und den Lynchmorden abfand."
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Gesellschaft

Uff, eine Debatte über deutsche Identität - diesmal nicht auf der rechten, sondern auf der liberalen Seite, berichtet Christiane Peitz im Tagesspiegel. Am Sonntag diskutierten in Berlin die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan, die Politikerin Sawsan Chebli und der Historiker Michael Wolffsohn unter anderem über die Frage, wie sich Einwanderer integrieren sollen, wenn viele Deutsche jedem eine Identität zugestehen, nur sich selbst nicht. "Foroutans 'Angebot', wie sie sagt, lautet schlicht Solidarität, hergeleitet aus dem Marxismus und der Soziallehre. Für Sawsan Chebli ... kann hingegen aus der gelungenen Aufarbeitung des Nationalsozialismus ein positives Narrativ für die deutsche Zuwanderungsgesellschaft erwachsen." Michael Wolffsohn hängte seine Forderungen sehr viel tiefer und verabschiedete die Vorstellung von einem "kollektiven Wir-Gefühl" gleich ganz: "Mehr als ein zivilisiertes Miteinander von Altdeutschen und Neudeutschen, wie er es nennt, könne es nicht geben."

Für die SZ liest Johan Schloeman das Debattenbuch "Der tiefe Riss" der Journalistinnen Susanne Garsoffky und Britta Sembach über den Konflikt zwischen Eltern und Kinderlosen und gewinnt den Eindruck, "dass dieser Konflikt in vielen Themen des gegenwärtigen Bundestagswahlkampfs spukt und schwelt, dass aber alle Parteien sich tunlichst hüten, ihn zur Sprache zu bringen".
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Medien

(Via turi2). Google wirbt weiter um das Wohlwollen der Zeitungsverlage. Nun will der Konzern den Verlagen helfen, Bezahlinhalte zu verkaufen - die Daten der Nutzer will Google dafür an die Verlage weiterreichen, berichtet Jan Hauser auf den Wirtschaftsseiten der FAZ: "Google (will) mit seinen Daten Verlagen ermöglichen, die Zahlungsbereitschaft der Nutzer zu erfahren und den Bestellvorgang zu erleichtern. Wenn der Internetkonzern Informationen über den Nutzer wie die E-Mail-Adresse oder die Kreditkarte etwa durch ein Google-Konto kennt, sollen auch Verlage dies nutzen können. Dann müssten interessierte Nutzer weniger Daten eingeben und würden den Bezahlvorgang schneller abschließen."

(Via dwdl.de) Günther Oettinger, ehemaliger Digitalkommissar der EU (und jetzt für Finanzen zuständig) setzt sich im Interview mit Markus Grabitz von der Stuttgarter Zeitung weiter für die von ihm ersonnene europäische Linksteuer für Aggregatoren ein, die die Zeitungen schützen soll:  "Diese Plattformen verdienen auch damit gutes Geld, dass sie Artikel der Online-Ausgaben von Zeitungen in einem Anreißer zusammenfassen. Sie selbst investieren allerdings wenig in die Qualitätssicherung der Medien, in die Ausbildung von Journalisten und in Vollzeitarbeitsplätze. Hier gibt es große Mitnahmeeffekte. Daher setze ich mich dafür ein, dass Verleger und auch die Journalisten einen Teil des Werbeaufkommens von den sozialen Medien erhalten sollten." Außerdem will Oettinger das "geistige Eigentum" stärken und schlägt sich im Territorialstreit zwischen Zeitungen und Öffentlich-Rechtlichen, die beide das Internet für sich beanspruchen, auf die Seite der Zeitungen."
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Europa

Ohje, am nächsten Sonntag ist Wahl. Die SPD wird verlieren, und das ist gut so, meint Jan Feddersen in der taz: "Diese Partei wird ohnehin schwächer werden, und das wird sie erst recht, buhlte sie weiterhin um Teilhabe an einer Koalition mit der Union. Wenn sie weiter dem Glaubenssatz ihres früheren Vorsitzenden Franz Müntefering folgt - 'Opposition ist Mist!' -, wird sie sich 2021 hinter der AfD wiederfinden: marginalisierter denn je."

Totale Langeweile, das ist für Peter Sloterdijk das Kennzeichen der Merkel-Kanzlerschaft. Und mit ihrem "lethargokratischem" Regierungsstil wird sie auch die vierte Wahl gewinnen, prophezeit er in der NZZ. Während Sloterdijk sich für Merkel nicht erwärmen kann, gibt er doch zu, dass die Langeweile - jedenfalls in den Augen einiger Politikwissenschaftler - auch ihre Vorzüge hat, vor allem wenn es darum geht, die europäischen Nachbarn zu beruhigen: "Aus dieser Sicht ist Angela Merkel als ein historischer Glücksfall zu bewerten. In ihrer Persönlichkeit ist schlechterdings nichts zu finden, was einer nationalen Neurose entgegenkäme. Sie bildet die Verkörperung einer Megalomanie-freien Suche nach dem Kompromiss zwischen den deutschen Interessen und den nachbarschaftlichen Rücksichten - sie ist anti Berlusconi, anti Putin, anti Erdogan, anti Kaczynski, anti Orban, anti Trump in einer Person."

Peter Schneider schreibt in der FAZ über seine Freundschaft mit Gerhard Schröder, dessen Liebe zu Putin, die jetzt mit einem weiteren Aufsichtsratposten belohnt wird, allerdings ein Stolperstein ist. Schröder argumentiere im freundschaftlichen Disput so, dass Russland so wie einst Deutschland Zeit brauche, um zur Demokratie zu kommen und dass Putin der Mann sei, diesen Prozess ins Werk zu setzen. Augenwischerei, so Schneider: "Dafür spricht so gut wie nichts. Im Inneren hat Putin die Anfänge von Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung bis auf wenige Reste aufgelöst, die Nichtregierungsorganisationen unterdrückt, der Entrechtung und Enteignung der Landbevölkerung durch vom Staat gestützte Immobiliengesellschaften zugesehen, die Kriminalisierung der Homosexualität verschärft. Statt die staatlichen Archive über den Gulag offen zu halten, hat er die Rehabilitierung Stalins in Russland befördert."
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Geschichte

In der NZZ zeichnet Gunnar Heinsohn den Weg der RAF-Terroristen und ihrer Sympathisanten nach, die sich von Antifaschisten in stramme Antisemiten und vom Revolutionären in Karrieristen und schließlich in ganz gewöhnliche Spießer verwandelten: "Die studentischen Operationen im Westen lassen sich als durchaus originelle Antworten auf das stetige Verschwinden der proletarischen Massen verstehen, von denen die Bewegung eigentlich ausgehen sollte. ... Durchaus blutig im verbalen Revolutionsduktus, aber weitgehend gewaltlos operieren dagegen Studenten, die sich dem Proletariatsschwund dadurch entgegenstemmen, dass sie die Universitäten verlassen und selbst zu Arbeitern werden. Die davon Beglückten sehen das nicht gerne; denn die akademischen Arbeiter-Darsteller greifen flugs nach Gewerkschaftsposten und verstellen so den Originalen die attraktivsten Aufstiegsmöglichkeiten."
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