29.09.2017. Buzzfeed.com stellt eine Studie vor, die eine starke Relation zwischen Berichterstattung und Wahlerfolgen der AfD behauptet. Der Economist bespricht Anne Applebaums Buch über Stalins Krieg gegen die Ukraine. Die SZ bringt Autorenstimmen zum katalanischen Referendum. Der Populismus ist ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, meint Timothy Garton Ash ebenfalls in der SZ. Die Jüdische Allgemeine konstatiert: der neue Antisemitismus von rechts und links ist im Stadium des Wahns angekommen.
Europa, 29.09.2017
Die
SZ hat spanische Schriftsteller zum
Referendum in Katalonien befragt. Das Referendum sei illegal, meint etwa
Juan Cruz, denn Katalonien lebe weder unter den Bedingungen einer Diktatur noch werde es von Spanien ausgeplündert. "Spanien hat alles Katalanische immer wie einen
Tumor betrachtet", erklärt hingegen
Albert Sanchez Pinol: "Spanien ist tot. Nicht die Separatisten haben es umgebracht, sondern seine eigenen Eliten. Seine politische Arroganz, seine moralische, geistige, emotionale Inflexibilität. Wenn sich ein Minister in Madrid zu Katalonien äußert, hören wir immer noch die Adligen und Konquistadoren durch." Und Thomas Urban blickt auf die historischen Wurzeln des Konflikts.
Die EU muss schlichten,
ruft derweil Ulrich Ladurner auf
Zeitonline. Der völkerrechtliche Anspruch auf
Selbstbestimmungsrecht im Falle einer Unterdrückung oder Kolonisierung sei hier nicht gegeben, erklärt er. Außerdem: "Sollte Katalonien unabhängig werden, wird es
nicht mit einer Mitgliedschaft in der EU rechnen können. Der neue Staat wird sich ganz hinten anstellen müssen. Sollte es, wie es aktuell der Fall wäre, im Konflikt mit Spanien scheiden, dann werden andere EU-Mitglieder (Spanien) ein Veto gegen eine Mitgliedschaft des neuen Staates einlegen." Madrid sollte den Katalanen jedoch ein Angebot machen, meint Ladurner. Bei allem Verständnis für die Katalanen - das Referendum ist eine "Schnapsidee", schreibt Jakob Strobel y Serra in der
FAZ.
Der
neue Antisemitismus ist "endgültig im Stadium des Wahns" angekommen,
diagnostiziert Michael Wuliger in der
Jüdischen Allgemeinen. Viktor Orban macht Wahlkampf mit Verschwörungsthoerien über George Soros. In der triumphierenden Labour-Partei geißelt man die "Rothschild-Zionisten". "Und in Deutschland haben wir
Oskar Lafontaine. Die Galionsfigur der Linkspartei trat Anfang des Monats zusammen mit anderen intellektuellen Größen wie Didi Hallervorden und Ken Jebsen bei einer Demonstration in Ramstein auf und erklärte in einer umjubelten Rede: 'Wir haben nach wie vor eine
unsichtbare Regierung, die die Geschicke dieser Welt bestimmt.'"
Erst kam ein als langweilig beklagter
Wahlkampf, dann das wie immer vorher unterschätzte Ergebnis für die
AfD, dann die
hysterische Debatte nach der Wahl. Richard Herzinger
stellt nun in der
Welt einen wichtigen Punkt klar: "
Merkel zum Sündenbock zu machen, zeugt von einer
umgekehrten Autoritätsgläubigkeit und lenkt bequem von der beunruhigenden Tatsache ab, dass keine politische Kraft, kein intellektueller Aufklärer, keine zivilgesellschaftliche Initiative bislang eine schlüssige Antwort parat hat, wie der Aufstieg der Rechtsnationalisten zu stoppen sei."
Geschichte, 29.09.2017

Der
Economist bespricht Anne Applebaums neues
Buch "Red Famine - Stalin's War on Ukraine", in dem die Autorin den Hungermord an Millionen Menschen, meist Ukrainern, auch als eine Kampagne definiert,
Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukraine zu brechen. Systematisch wurde die Bevölkerung ausgehungert und an der Flucht gehindert: "Stalin war nicht nur informiert über das Massensterben (das etwa 13 Prozent der ukranischen Bevölkerung vernichtete). Er unterdrückte das Wissen darüber (inklusive Bevölkerungsdaten) aktiv, um die Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft und und den Zugriff der Kommunsitischen Partei auf das Land voranzutreiben - Applebaum beschreibt diese Kampagne als eine 'Revolution, die
tiefer und schockierender ist als die bolschewistische Revolution selbst'."
Gesellschaft, 29.09.2017
Populismus hat nicht nur wirtschaftliche, sondern vor allem kulturelle Ursachen,
stellt der Historiker
Timothy Garton Ash fest und diagnostiziert eine "Ungleichheit der
Aufmerksamkeit", die mit einer "Ungleichheit des Respekts" einhergehe: "Wie Tim Wu in 'The Attention Merchants' betont, ist Aufmerksamkeit eine der wichtigsten
Währungen im Zeitalter des Internets. Nun, wie viel Aufmerksamkeit widmeten die liberalen Medien bis vor Kurzem den 'abgehängten' Regionen und sozialen Gruppen? Wie viele informierte und mitfühlende Reportagen wurden über den Rust Belt in der New York Times oder über postindustrielle Teile Englands im
Guardian veröffentlicht? Und zwar ehe die populistische Schockwelle Tausende Großstadtreporter auf ihre
kühnen Safaris ins dunkelste Michigan oder ins County Durham katapultierte."
503 türkische Lehrkräfte unterrichten
laut die
Welt türkischstämmige Jugendliche an deutschen Schulen - entsandt vom türkischen Bildungsministerium. Die Berliner SPD-Bildungspolitikerin
Maja Lasic fürchtet, dass die Schüler im Türkischunterricht
religös und politisch beeinflusst werden,
erklärt Susanne Vieth-Etnus im
Tagesspiegel: "Der türkische Lehrplan, nach dem in Berlin rund 3.000 und bundesweit geschätzt mehr als 30.000 Kinder unterrichtet werden, steigt gleich damit ein, dass die Bedeutung von '
nationalen und religiösen Feiertagen' hervorgehoben wird. Weiter wird wie selbstverständlich vermittelt, dass Gott alles erschaffen habe.
Bekenntinsneutralität sieht anders aus. An anderer Stelle sollen die Schüler einen eigenen Gebetstext erstellen."
Internet, 29.09.2017
Die EU will die Unterdrückung
illegaler Inhalte im Internet per "
Uploadfilter" automatisieren,
berichtet Tomas Rudl bei
netzpolitik.org: "Damit will die EU-Kommission gegen Hassrede, Aufrufen zu Gewalt oder Terrorismus, aber auch gegen Urheberrechtsverletzungen im Internet vorgehen." Die Filter sollen technisch bewerkstelligen, dass ein einmal als illegal erkannter Inhalt nicht wieder hochgeladen werden könne, erläutert Rudl: Zugleich mahne die Kommission "bei den Betreibern Sicherheitsvorkehrungen ein, um übermäßige Entfernung von Inhalten ('
over-blocking' und 'over-removal') zu vermeiden. Dabei gibt sich die Kommission
technikgläubig und fordert ein, dass die Filter den Kontext der jeweiligen Nachrichten erkennen sollen - etwa bei satirischen, aufklärenden oder dokumentierenden Inhalten."
Die Meldung, dass
Twitter demnächst 280 Zeichen pro Tweet zulassen will, ist für deutsche Nutzer zwar willkommen,
schreibt Marcel Weiß auf
neunetz.com, aber für den stagnierenden Dienst nicht ausreichend - dabei ist Twitter so wichtig: "Twitter ist das
Nervenzentrum der westlichen Öffentlichkeit. Nicht, weil sich alle Welt auf Twitter informiert; das passiert immer noch auf Facebook. Sondern weil Journalisten,
Meinungsmacher und Multiplikatoren zu einer sehr großen Zahl auf Twitter aktiv sind und ihre eigene Meinungsbildung, Wahrnehmung der Welt und anfängliche Recherchen und Inspirationen sich zu einem signifikanten Teil über Twitter formen. (Deshalb wird Twitter von Journalisten gemeinhin überbewertet.)"
Medien, 29.09.2017
(Via
turi2) Wieder einmal wurde bewiesen, wie wichtig die Medien für das Funktionieren von Demokratie sind! "Die Berichterstattung im Vorfeld der Bundestagswahl hat die
Umfragewerte der AfD steigen lassen. Das ist das Ergebnis einer gemeinsamen Untersuchung von
BuzzFeed News und dem Lehrstuhl für Political Data Science an der Hochschule für Politik München",
schreibt Macus Engert bei
buzzfeed.com und zitiert den Wahlforscher
Simon Hegelich: "Hätten die Medien mehrere Wochen lang gar nicht über die AfD berichtet, wären die Umfragewerte unseren Berechnungen zufolge fünf Punkte niedriger. Wird
viel über die AfD berichtet, steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Umfragewerte steigen." Allerdings schränkt Hegelich dann auch gleich wieder ein: "Hätten die Medien einfach nicht mehr über die AfD berichtet, wären sie
ihrem Auftrag sicherlich nicht nachgekommen. Vielmehr muss man sich fragen, wieso die Berichterstattung, obwohl sie ja meist negativ ist, einen positiven Effekt auf Leute hat."
Außerdem: Bei
Spiegel online kritisiert die Medienjournalistin Ulrike Simon die leicht hysterische Debatte zwischen
Zeitungen und
Öffentlich-Rechtlichen. In der
FAZ stellt Stephan Löwenstein das von Red-Bull-Besitzer
Dietrich Mateschitz gesponsorte
Internetmagazin Addendum vor.