9punkt - Die Debattenrundschau

Von Anfang an Träumer und Fantasten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.10.2017. Eine ganze Flut von Artikeln befasst sich mit der Affäre Harvey Weinstein. In der New York Times spricht erstmals Quentin Tarantino, der immer schon alles wusste und nie etwas sagte. Und Lupita Nyong'o schildert sehr eindrücklich, wie Weinstein sie sexuell unter Druck setzte. Erst wenn Frauen in Hollywood mehr Macht haben, werden sich die Verhältnisse ändern, glaubt Barbara Schweizerhof in Zeit online. In der NZZ porträtiert Alena Wagnerová den nächsten europäischen Populisten:  Andrej Babiš. Im Guardian fürchtet der Politologe Francesc Badia i Dalmases eine bewusste Eskalation des Konflikts um Katalonien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.10.2017 finden Sie hier

Gesellschaft

Jeder hat es gewusst, schreibt Jürgen Schmieder in der SZ kopfschüttelnd über die "Heuchler" in Hollywood und ihren scheinheiligen Umgang mit Harvey Weinstein im Speziellen und Sexismus im Allgemeinen: "Erst wenn es so viel Dreck gibt, dass er nicht mehr unter einen Teppich passt, wird der Schmutzfink angeklagt. Und dann sagen viele, dass sie nichts gewusst hätten von all dem Dreck, der oftmals jahrzehntelang unter den Teppich gekehrt worden ist. Wer die Augen schließt und sich die Ohren zuhält, der darf nachher behaupten, dass er nichts gesehen oder gehört hat." Und: "Kaum jemand erklärt, dass er nie wieder mit Weinstein zu tun haben möchte." In der New York Times bekennt jetzt auch Quentin Tarantino, er habe es seit Jahrzehnten gewusst, wenn auch nicht in diesem Ausmaße: "Ich habe die Ereignisse einfach marginalisiert, alles was ich jetzt sage, klingt wie eine miese Entschuldigung."

Sehr beeindruckend liest sich im Gegensatz dazu Lupita Nyong'os New York Times-Artikel unter dem Titel "Speaking out about Harvey Weinstein." Sie schildert in sehr anschaulichen Szenen, wie Weinstein sie als Debütantin massiv unter Druck setzte, ihm zu Willen zu sein. "He said he had dated Famous Actress X and Y and look where that had gotten them. I was silent for a while before I mustered up the courage to politely decline his offer... 'I just want to know that we are good,' I said. 'I don't know about your career, but you'll be fine,' he said. It felt like both a threat and a reassurance at the same time; of what, I couldn't be sure."
 
Die Art und Weise, wie wir als Gesellschaft über sexuelle Gewalt sprechen, trägt zu frauenfeindlichen Strukturen bei und lässt Männer aus der Verantwortung, konstatiert Julian Dörr auf SZ-online: "Die Formulierung 'Gewalt gegen Frauen' macht sexuelle Übergriffe und Diskriminierung zu einem Frauenproblem. Ein Problem, das Männer nichts angeht und aus dem sie sich besser raushalten. Das ist falsch. Denn sexuelle Gewalt ist sehr wohl ein Männerproblem. Weil Gewalt gegen Frauen meist Gewalt von Männern ist. Weil überhaupt Gewalt meist von Männern ausgeht."

Zeigt die Täter an, fordert Christine Dankbar in der Berliner Zeitung mit Blick auf die #MeToo-Kampagne: "Die Frauen treten ins Licht, bekennen, dass auch sie Opfer wurden, schildern die Situation, in der dies geschah. Und bewahren Stillschweigen über die Identität der Täter. Damit aber stehen die Frauen im FoKus der Aufmerksamkeit. Als Opfer. Also passiert doch jetzt genau das, was sie vermeiden wollten und weswegen sie oft jahrelang schwiegen."

Erst wenn mehr Frauen Machtpositionen in der Filmbranche haben und sich das weibliche Rollenbild ändert, werden die dringend notwendigen Veränderungen stattfinden, glaubt Barbara Schweizerhof auf Zeitonline, denn bisher gelte: "Im Jargon der Filmleute ist die von Jennifer Lawrence erwähnte fuckability der zentrale Maßstab dafür, welche Schauspielerin besetzt werden soll. Und es wundert deshalb wenig, dass im Denken der Macher  folgende Logik gilt: Wer anders als der Produzent könnte diese 'Qualität' abschätzen? Am besten noch, in dem er das 'Produkt' selbst anfasst und, mit Verlaub, 'testet'?"
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Ideen

Eines der wichtigsten Bücher des Jahres hat der amerikanische Journalist Kurt Andersen geschrieben: "Fantasyland - How America Went Haywire". Wir zitierten vor Wochen aus einem Vorabdruck (unser Resümee). Andersen stellt sich die Frage nach dem Verlust der Kriterien für Wahr und Unwahr in Amerika - und erkennt im Interview mit Sebastian Moll in Zeit online auf einige amerikanische Besonderheiten: "Die Tatsache, dass dieses Land von Leuten gegründet wurde, die an das Unwahrscheinliche glaubten, spielt eine enorme Rolle - gleich, ob das die Puritaner waren oder andere Kult-Anhänger oder einfach nur Leute, die über Nacht reich werden wollten. Amerika war schon immer das Land, in dem man ein Vermögen machen konnte und gleichzeitig alles glauben durfte, was man wollte. Das ist vielleicht der zentrale Aspekt der amerikanischen Identität. Leute, die nach Amerika kamen, waren von Anfang an Träumer und Fantasten."

Urs Haffner analysiert in der NZZ den Begriff der "Gehirnwäsche", der durch Mao in den Westen kam und im Kalten Krieg Karriere machte: "'Gehirnwäsche' suggeriert, wer im Namen Gottes, einer Idee oder eines Führers Unschuldige und sich selbst töte, sei eben ferngesteuert. Die Genese des Terroristen wird zugleich mystifiziert und vereinfacht: als genüge ein falscher Prediger, um Radikalkonvertiten hervorzubringen. Die Billigkeit der Erklärung zeigt sich nicht zuletzt darin, dass auch ehemalige IS-Mitkämpfer sie sich zunutze machen: Ihr Gehirn sei gewaschen beziehungsweise verschmutzt worden. Maos unheimliches Geschenk entlastet das Denken auf wohlfeile Weise."
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Medien

Heute tagen die Ministerpräsidenten der Länder über die Zukunft der Öffentlich-Rechtlichen und deren Sparvorschläge: Pro-Sieben-Sat-1-Vorstand Conrad Albert wiederholt im Interview mit Caspar Busse von der SZ seine Forderung, etwas von den Gebühren der Öffentlich-Rechtlichen abzubekommen: "Der Inhalt zählt! Daher sind wir davon überzeugt, dass relevante Inhalte gefördert und finanziert werden sollten - und zwar unabhängig davon, wer sie sendet oder produziert - und nicht einzelne Sender oder Institutionen."
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Politik

"Weniger vielfältig" wird es in Québec zugehen, schreibt Jörg Michel in der taz, weil dort die Burka verboten wird: "Auch nach über zwei Jahren kontroverser Debatte bleibt das Gesetz hoch umstritten. Premierminister Justin Trudeau etwa gilt als Gegner der Neuregelung. Denn in Kanada sind Multikulturalismus und Religionsfreiheit in der Verfassung verankert."
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Geschichte

Die taz stellt heute einigen prominenten Linken zwei Fragen aus Anlass von hundert Jahren Oktoberrevolution: "1. Gehört der Kommunismus auf den Müllhaufen der Geschichte - oder ist noch etwas recycelbar? 2. Welche Revolution wird die nächste sein?" Die Antwort des britischen Autors Tariq Ali auf Frage 1 gibt Aufschluss über den Geisteszustand der britischen Linken: "Echte demokratische Organisationen wie die Räte in der Frühzeit der Sowjetunion bleiben eine gute Idee. Ebenso von genialen Architekten entworfene Wohnungen für Arbeiter und Arme, Widerstand gegen imperialistische Kriege und Kolonialismus, das Recht auf nationale Selbstbestimmung und der Schutz der Natur (sogar heute verfügt Russland noch über mehr natürliche geschützte Lebensräume als andere Länder). Die Rote Armee brach dem deutschen Faschismus das Rückgrat und 1917 war Blaupause der chinesischen, vietnamesischen und kubanischen Revolution. Also ja, es gab Gutes. "

Gaga auch das Statement des FAZ-Redakteurs Dietmar Dath: "Mehr als jedes andere Wort in unserem politischen Vokabular ist der Kommunismus die radikale Negation des herrschenden Regimes, welches Ausbeutung und Ungleichheit zelebriert. Die Kommunismen, die im Schwarzen Loch von 1989-1991 verschwunden sind, beinhalten die heroische Wiederherstellung von Gemeinschaften ohne Eigentum, kommunale indigene Gesellschaften, Realsozialismus mit seinen Errungenschaften und Verbrechen. Sie beinhalten die lange Geschichte antifaschistischen Widerstands, egalitären Mystizismus, die dialektische Abschaffung des Kapitalismus durch seine inneren Dynamik und die unerforschten, unausbeutbaren Reserven des Widerstands, die sich der Kapitalismus nicht aneignen kann."

Illusionsloser ist der Blick des Hongkonger Politologen Willy Lam, der im Interview mit Felix Lee über den gerade stattfindenen Parteitag der KP Chinas unter Xi Jinping spricht: "Chinas heutiges politisches System hat natürlich nichts mit dem kommunistischen Gedanken im marxschen Sinne zu tun, sondern lehnt sich eher am Leninismus-Stalinismus der Sowjetunion an. Auch dort hatte der KGB einen Polizeistaat errichtet, der die totale Kontrolle über das Land vorsah. Das heutige China entwickelt sich in diese Richtung. Xis ausgerufene Antikorruptionskampagne dient auch nicht nur dazu, korrupte Parteikader zu entlarven, sondern sich seiner Widersacher zu entledigen."

In seiner am 18. Oktober im Schloss Bellevue gehaltenen und heute in der Welt abgedruckten Gedenkrede zum 40. Todestag von Hanns Martin Schleyer fordert Stefan Aust die vollständige Offenlegung der Stammheim-Akten inklusive der geheimgehaltenen Abhörprotokolle: "diejenigen, die bei der Fahndung versagten, sollten nicht den Deckel über ihre Versäumnisse schlagen, sondern offen dazu stehen. Nur wenn klar wird, was schiefgegangen ist bei dem Versuch, einen Menschen aus der Geiselhaft zu befreien, kann daraus gelernt werden. Vertuschen ist die Grundlage des nächsten Versagens. Der Spruch des Geheimdienstkoordinators aus dem Kanzleramt zum Schreddern der NSU-Akten, ausgesprochen vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages, darf niemals zur Maxime behördlichen Handelns werden: 'Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die Regierungshandeln unterminieren.'"

Außerdem:In einem größeren Essay sucht tazler Stefan Reinecke Aufschluss über die Frage, ob heute ein gewaltsamer Umsturz wie 1917 noch möglich sei.
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Europa

Alena Wagnerová porträtiert in der NZZ den Unternehmer und Politiker Andrej Babiš, der mit der Ankündigung, Tschechien wie ein Unternehmen regieren zu wollen, die Wahlen am Sonntag gewinnen könnte (allerdings würde er eine Koalition brauchen): "Babiš unterscheidet sich von den Führern anderer populistischer Parteien in Europa durch die Kumulierung von wirtschaftlicher, politischer und medialer Macht in einer Hand. Er besitzt unter anderem die zwei auflagestärksten tschechischen Tageszeitungen und einen Fernsehsender. Dabei ist es die gleiche Masche, die er beim Stimmenfang benutzt: mit 'alternativen Fakten', einfachen Parolen und Emotionalisierung die Lage im Land als katastrophal zu bezeichnen und sich selbst als den Macher darzustellen, der Tschechien aus der gegenwärtigen Misere zum guten Leben führen würde."

Der Politologe Francesc Badia i Dalmases kritisiert im Guardian sowohl die "Die-Hard"-Sezessionisten Kataloniens als auch die massive Polizeireaktion der Zentralregierung, die den extremeren Sezessionisten nur in die Hände spiele: "Eine Strategie für kommende Proteste nach dem Modell des Majdan in Kiew existiert bereits seit Monaten, man spricht gar schon von der 'Ulsterisierung' des Konflikts. Ein manipulatives Video unter dem Titel 'Help Catalonia', das einem Video der Majdan-Krise gleicht, ist der neueste Beleg für den Wunsch, den Konflikt zu eskalieren und internationalisieren."
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