9punkt - Die Debattenrundschau

Hingabe an die Wirklichkeit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.11.2017. Fünfzig Autoren und Autorinnen, darunter Philip Roth und Elif Shafak rufen den chinesischen Präsidenten Xi Jinping auf, endlich Liu Xia freizulassen. Wer uns als "Staatsfunk" bezeichnet, ist ein Rechtspopulist, sagen Journalisten der öffentlich-rechtlichen Sender. Mathias Döpfner präzisiert in einer Antwort, dass er nur weniger Texte der Sender im Netz will, damit die Zeitungen ihr kostenloses Online-Angebot ebenfalls einschränken können. Der Guardian staunt über britische Schulen, die den Mädchen Hosen, wenn auch nicht das Kopftuch verbieten. Und überall Debatten über sexuelle Belästigung und die Folgen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.11.2017 finden Sie hier

Politik

(Via Guardian) Fünfzig AutorInnen, darunter Philip Roth und Elif Shafak, aber keine deutschen, rufen in einer Erklärung des amerikanischen Pen-Clubs den chinesischen Präsidenten Xi Jinping auf, die chinesische Künstlerin Liu Xia endlich freizulassen: "Wir forden Sie auf, alle verbleibenden Restriktionen gegen Liu Xia aufzuheben und ihre Freiheit der Rede, ihre Freiheit, sich mit anderen Menschen zu treffen, ihre Reisefeheit zu gewährleisten. Liux Xia muss seit Jahren große Leiden ausstehen, nur weil sie die Ehefrau eines Mannes ist, den China als Dissidenten ansah. Ihr Gesundheitszustand ist schlecht, sie ist von jenen isoliert, die sich um sie sorgen und sie trauert tief um den Verlust ihres Manns."

In der SZ blickt der Globalhistoriker Jürgen Osterhammel nach China und sieht dort, wie Regierungsberater den "sanften Aufstieg" Chinas mit Philosophen aus der "letzten Glanzzeit des kaiserlichen China" begründen: "Die drei großen Kaiser der Qing-Zeit, die das Reich in lückenloser Folge zwischen 1661 und 1796 regierten, werden nicht länger als 'feudale Fremdherrscher' gebrandmarkt, sondern genießen beinahe kritiklose Verehrung als tatkräftige Kriegsherren und effiziente Administratoren. Vieles spricht aus der Sicht der historischen Forschung für eine solche Einschätzung: Unter den Kaisern Kangxi, Yongzheng und Qianlong, die als blutrünstige Despoten ziemlich missverstanden würden, expandierte das Reich, sicherte ab etwa 1680 den inneren Frieden und ermöglichte im Osten und Süden des Landes einen durchschnittlichen Wohlstand, der nicht wesentlich unter dem des damaligen Westeuropa gelegen haben dürfte."
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Gesellschaft

In letzter Zeit ist viel vom Insektensterben die Rede. Verantwortlich gemacht wird dafür meist die moderne Landwirtschaft. Ludger Weß sieht es bei den Salonkolumnisten anders: Die Hauptursache sei längst bekannt und liege in der "nächtlichen Beleuchtung unserer Straßen": "Abhilfe könnten Lampen schaffen, die die Spektren ausblenden, auf die Insekten am stärksten reagieren. Die Umstellung auf eher gelblich leuchtende Natriumdampflampen würde das nächtliche Gemetzel zwar nicht vollständig beenden, aber doch erheblich reduzieren. Stattdessen modernisieren wir unsere Straßenbeleuchtung, um Energie zu sparen, mit Lampen, die Insekten noch zuverlässiger anlocken."

Immer mehr Männer treten hervor, die Kevin Spacey beschuldigen, sie sexuell belästigt zu haben. Anschuldigungen wurden auch gegen Dustin Hoffman laut. Dürfen wir ihre Filme jetzt noch sehen, fragen sich die Feuilletonisten. In der SZ holt sich Luise Checchin Rat bei Roland Barthes und lernt: "Es ist legitim - und äußerst aufschlussreich - zwischen einem Kunstwerk und der Person zu unterscheiden, die das Kunstwerk produziert hat." Aber die Kultur in den kreativen Branchen müsse doch verändert werden, fordert sie: "Wenn endlich annähernd so viele Frauen wie Männer in den entscheidenden Positionen des Filmgeschäft säßen, wenn es kein Allmachtsdenken und keinen blinden Geniekult mehr gäbe, dann hätten potenzielle Täter es um einiges schwerer."

In der Welt ist Iris Alanyali unwohl angesichts von Forderungen, die an Berufsverbote grenzen: "Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Integrität des Künstlers und seiner Kunst ist alt. Sind Thomas Manns Novellen peinlich, weil Thomas Mann von kleinen Jungs träumte? Ist Brechts Beitrag zur Theatergeschichte weniger wert, weil er neben seiner Ehefrau einen halben Harem unterhielt? Sind Dickens' Geschichten verlogen, weil er seine Familie terrorisierte? Wir sind ja nicht die Justiz, die gerechte Strafe über Kevin Spacey verhängen soll, wir sind der Pöbel, der aufschreien darf und mit dem Finger auf den 58-Jährigen zeigen".

In Britannien haben Vorwürfe wegen sexueller Übergriffe das Parlament erreicht, von k.o.-Tropfen und Vergewaltigung ist sogar die Rede, berichtet Cathrin Kahlweit in der SZ. "Dass diese Debatte nun in London mit einer ungeahnten Intensität losgebrochen ist, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass Machtmissbrauch in Form von sexuellem Missbrauch bislang nicht sanktioniert wurde und, wie Parlamentsmitarbeiter in diversen Medien beklagen, rund um das Parlament eine 'Atmosphäre von Gefahr und Anzüglichkeiten' herrsche."

Mehr Gleichberechtigung? Da können wir von Polen und Frankreich lernen, meint Petra Kohse, die für die Berliner Zeitung eine europäische Studie zu "Frauen in Kultur und Medien" gelesen hat. "Erst das französische Gleichstellungs- und Staatsbürgerschaftsgesetz, das Anfang diesen Jahres erlassen wurde, gewährleistet, dass alle Positionen, die vom Kulturministerium finanziert werden, ab jetzt zu 40 Prozent mit Frauen besetzt werden. Und auch Schweden erzielt mit seinem offiziellen GMGA-Programm (Gender Mainstreaming in Government Agencies) beeindruckende Ergebnisse. Sechs Länder hat die Studie durch Auswertung von Daten aus 2008 und 2015 mit Deutschland verglichen: Frankreich, Italien, die Niederlande, Polen, Schweden und das Vereinigte Königreich." In Deutschland liegt der Frauenanteil bei mageren 20 Prozent.

Kopftuch ist an britischen Schulen in der Regel kein Problem. Aber Hosen für Mädchen? Das geht an der Gordon's School in Woking nur, wenn sie vorgeben, sich über ihre geschlechtliche Identität unsicher zu sein. Da wird selbst einer Guardian-Kommentatorin leicht unwohl: "Is it really necessary for a young woman to question her gender identity in order to wear trousers? And what sort of message does this send out to pupils?", fragt sich die Juristin Anna Macey. "At the same time an increasing number of academies are imposing ever more old-fashioned uniforms, which also prevent girls from wearing trousers. Women in all walks of life choose to wear trousers. Any rule preventing women wearing trousers would be recognised as unacceptable, and most importantly as unlawful, direct sex discrimination."

Und: Im Tagesspiegel singt Joachim Huber ein Loblied auf den alten weißen Mann.
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Medien

(Via turi2) Der Begriff "Staatsfunk" oder auch "Staatspresse" für die Online-Aktivitäten der öffentlich-rechtlichen Sender hat die KollegInnnen aus den Sendern offenbar hart getroffen. Die "Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Redakteursausschüsse" (AGRA) veröffentlicht jetzt eine "Frankfurter Erklärung": "Liebe Kolleginnen und Kollegen in den Zeitungsredaktionen, wir fühlen uns diskreditiert, wenn Sie uns als Staatsfunk bezeichnen und uns damit unterstellen, dass wir uns politisch steuern lassen. Das ist komplett abwegig. Wir fragen uns, warum Sie mit solchen Äußerungen unsere Arbeit verunglimpfen und sich damit selbst in die Nähe von Rechtspopulisten stellen." 

Mathias Döpfner, Vorsitzender des Verbands der Zeitungsverleger, präzisiert seinen Standpunkt  in einer Erklärung, die auch in der Welt veröffentlicht ist: Er möchte, dass die Sender der ARD (das ZDF nimmt er ausdrücklich aus) ihre Textangebote im Netz einschränken, damit auch die Zeitungen ihre kostenlosen Online-Angebote einschränken und von den Lesern Abogebühren verlangen können: "Unsere Forderung ist ganz einfach: Die Online-Angebote der ARD sollten so aussehen wie die des ZDF. Das heißt: im Wesentlichen auf Video und Audio-Angeboten basierend, der Textanteil deutlich unter 30 Prozent. Die ARD lehnt dies ab und gefährdet damit die Arbeitsplätze Tausender Journalistinnen und Journalistenvon Zeitungen in Deutschland." Döpfner gibt in dem Text entgegen optimistischen Reden der Branche in den letzten Jahren zu, dass die Online-Angebote der Zeitungen defizitär sind.

FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld, der sich zu den Angegriffenen zählen kann, konstatiert: "Wer Kritik übt, zumal grundsätzliche, wird mit der AfD in einen Topf geworfen."

Stefan Niggemeier spießt in seinen Uebermedien an den Äußerungen Döpfners auf, dass Döpfner den Begriff "Staatspresse" für die Online-Angebote der Verlage als Beschreibung des Ist-Zustands und nicht als Krisenszenario  für die Zukunft gebraucht hat.

In einem offenen Brief bitten die Chefredakteure der größten europäischen und amerikanischen Qualitätspresse die EU-Kommission darum, nach dem Mord an der maltesischen Bloggerin Daphne Caruana Galizia die Unabhängigkeit der Medien auf Malta zu überprüfen: "Den Mördern von Daphne darf es nicht gelingen, ihr offenkundiges Ziel zu erreichen: dass Daphnes Nachforschungen, welche die Korruption auf der höchsten Ebene Maltas betreffen, zum Stillstand gebracht werden."
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Ideen

Vor einigen Tagen kritisierte der NZZ-Redakteur René Scheu die Ideologie des Multikulturalismus (unser Resümee). Heute antwortet der Philosoph Dieter Thomä mit dem Vorwurf, Scheu betreibe "eine Halbierung und Verstümmelung der Aufklärung, indem er die 'Progressiven' oder 'Kulturrelativisten' der Gruppe der 'Barbaren' zuschlägt und die Fähigkeit, 'die eigene Identität zu transzendieren', peinlich von Selbstkritik freihält."

Außerdem: Dietmar Dath fragt in der FAZ auf einer ganzen Seite: "Wie links und internationalistisch ist die soziale Frage noch?"
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Wissenschaft

Im Gespräch mit Arno Widmann von der FR empfiehlt der Wissenschaftsautor Stefan Klein besonders gläubigen Menschen, naturwissenschaftliche Erkenntnisse anzunehmen: "Sind nicht die würdigsten Gebete die, in denen einfach die Hingabe an die Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht wird? Da nimmt der Beter sich ganz zurück und verlangt nicht von einer höheren Macht, dass die auf seine kleinen Wünsche hört oder ihn tröstet. Naturerkenntnis bringt einem, entschuldigen Sie bitte das altmodische Wort, Demut bei."

Der Wissenschaftsverlag Springer hat seine chinesische Webseite zensiert, meldet in der SZ Kai Strittmatter. "Wie der Verlag am Mittwoch mitteilte, habe er in Übereinstimmung mit 'lokalen Regularien' wissenschaftliche Artikel so blockiert, dass sie von China aus nicht mehr einsehbar sind. Es handle sich dabei allerdings um 'weniger als ein Prozent' des Verlagsangebots. Die Financial Times hatte die Zensurmaßnahme aufgedeckt und mehr als eintausend Artikel gezählt, die nun blockiert sind. Die betroffenen Akademiker waren vom Verlag selbst nicht informiert worden, viele China-Wissenschaftler reagierten mit Protest."
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