9punkt - Die Debattenrundschau

Die berühmte Trias

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.11.2017. Viel Geschichte heute: Es gibt keinen Grund, die Oktoberrevolution zu feiern, meint Arno Widmann in der FR. In der FAZ kritisiert der polnische Historiker Pawel Ukielski das neue Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel. Dass westliche Verlage wie Springer Science ihre Inhalte in China zensieren, kann auch als Propagandasieg Chinas verstanden werden, meint wiwo.de. Und wir setzen erste Links zu den explosiven "Paradise Papers".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.11.2017 finden Sie hier

Politik

Die Süddeutsche Zeitung hat wieder einmal Post aus der Steueroase bekommen und mit dem Internationalen Journalisten Konsortium ausgewertet. Online geben SZ und Guardian eine Übersicht, hier und hier, für den Hintergrund wird man sich die Zeitungen kaufen müssen. Die neuen "Paradise Papers" enthüllen Peinliches bis Skandalöses über die Queen, einen Berater von Justin Trudeau oder Donald Trumps Handelsminister Wilbur Ross, der an Reedereien beteiligt ist, die für russische Ölkonzerne tätig sind. Laut New York Times könnte das mit den gegen Russland verhängten Sanktionen kollidieren, denn die Eigentümer der Reederei stehen auf der entsprechenden Liste. Deutsche Fälle betreffen unter anderem Gerhard Schröder und den Glücksspiel-König Paul Gauselmann.

Brisant erscheinen auch die Investionen von Kreml-nahen Firmen bei Facebook und Twitter. Im Guardian schreiben Luke Harding und Jon Swaine darüber: "Zwei staatliche russische Institutionen mit engen Verbindungen zu Wladimir Putin haben substanzielle Investionen in Twitter und Facebook finanziert, und zwar über einen Geschäftspartner von Jared Kushner, enthüllen die Dokumente. Die Investionen wurden durch den russischen Technologie-Magnaten Juri Milner getätigt, der auch Anteile an einer Firma von Kushner hält, Donald Trumps Schwiegersohn und Berater im Weißen Haus." In der SZ nehmen Hannes Munzinger, Frederik Obermaier und Bastian Obermayer den undurchsichtigen Juri Milner in den Blick, der sich als ganz typischer Philanthrop und Tech-Guru aus dem Silicon Valley ausgibt.

Trotz einiger Reformen und der jüngsten Säuberungen sollte man den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman nicht mit einem Reformer verwechseln, meint Karim El-Gawhary in der taz: "Außenpolitisch gilt der Kronprinz als absoluter Abenteurer und Hardliner. Er ist der Architekt des Krieges gegen den Jemen, der zu der größten gegenwärtigen humanitären Katastrophe geführt hat. Zudem hat er einen Streit mit dem Golfstaatennachbarn Katar vom Zaun gebrochen - und gegenüber dem Iran ist er auf einen noch nie da gewesenen Konfrontationskurs eingeschwenkt.
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Geschichte

Es gibt keinen Grund, die Oktoberrevolution zu feiern, meint Arno Widmann in der FR. Von Beginn an war sie ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schreibt er etwa mit Blick auf das Frauenbataillon, das den Petersburger Winterpalais vergeblich gegen die Erstürmung verteidigen wollte, jedoch von den Bolschewiki überrannt, vergewaltigt und nach Finnland deportiert wurde: "Es gibt keinen Grund, der Sowjetunion nachzutrauern. Die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts war nicht der Zusammenbruch der Sowjetunion, sondern ihre Etablierung. Bis heute wird sie als 'gescheiterte Hoffnung' verkauft, als ein verzweifelter Versuch, dem Kapitalismus etwas entgegenzuhalten. Wer das behauptet, der zeige einen einzigen Augenblick, in dem die Sowjetunion so gehandelt hat. Die Räte, auf die sich die Revolution doch stützen sollte, wurden, so wie sie nicht der Partei gehorchten, zerschlagen, ihre Führer erschossen."

Außerdem zum Thema: Heinrich August Winkler klärt ebenfalls in der FAZ über den Unterschied zwischen bürgerlicher und proletarischer Revolution auf. Ebenfalls in der FAZ (aber im politischen Teil) legt der Historiker Manfred Hildermeier dar, dass Lenin seinen Staat von vornherein auf Terror aufbaute.

Vor fünfzig Jahren zeigten zwei Hamburger Studenten bei einer Rektorenkonferenz das berühmt gewordene Transparent mit dem Spruch "Unter den Talaren / Muff von 1000 Jahren". Jan Feddersen bestreitet in der taz Nord, dass damit in erster Linie eine Kritik an der Nazivergangenheit der Professoren gemeint war: "Tatsächlich geht aus den - protokollierten - Sitzungen der Gremien von Professoren und Studenten nicht mal in einer Nebenbemerkung hervor, dass das Publikum, die Kritisierten wie die Kritiker, irgendeinen Hintersinn in Sachen Nazi im Blick hatten. Auch wenn Gert Hinnerk Behlmer aktuell sagt, 'die Anspielung auf das 'Tausendjährige Reich' (...) war von mir gewollt, allerdings damals kaum beachtet.'"

Pawel Ukielski, Direktor des Museums des Warschauer Aufstands beklagt in der FAZ bei dem neuen Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel "ein stark ideologisiertes Narrativ, das sich auf eine neomarxistische Vision der Geschichte Europas stützt. In deren Sinne befindet sich Europa seit der Französischen Revolution auf dem Weg eines unaufhaltsamen Fortschritts mit Richtung auf eine ideale, klassenlose und der Nationen entledigte Gesellschaft. In einer solchen Erzählung gibt es praktisch keinen Raum für das, was vor der Französischen Revolution stattfand - etwa für die berühmte Trias der Grundlagen unserer Zivilisation, die griechische Philosophie, das römische Recht und den jüdisch-christlichen Geist."
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Kulturpolitik

Hin- und hergerissen betrachtet Niklas Maak in der FAZ den am Wochenende eröffnenden Louvre Abu Dhabi. Die Nonchalance, mit der Jean Nouvel Kritik an seinem Bau abbügelt, findet er so unangenehm wie die rigorose Kritik am Austausch mit einer Autokratie. Aber auch das hohle Menschheits-Pathos, das in dem Bau und im Museum beschworen wird, geht ihm auf die Nerven: "Roland Barthes hatte vor genau sechzig Jahren in einer legendären Kritik der Ausstellung 'The Great Family of Man', die zeigen wollte, wie alle Menschen auf der Welt sich im Geborenwerden, Trauern, Arbeiten und Sterben ähnlich sind, darauf hingewiesen, dass es auch interessant wäre, zu erfahren, unter welchen Bedingungen all diese so ähnlichen Menschen geboren werden (im Slum oder im Krankenhaus), arbeiten und leben. Erst diese Differenzierung, so Barthes, mache politisches Handeln möglich, weil sie die Gemachtheit und Veränderbarkeit der Lebensbedingungen offenlege, wohingegen die Betonung der Conditio Humana letztendlich eine Unveränderbarkeit und Naturgegebenheit der Verhältnisse suggeriere."
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Medien

(Via turi2) Der zu Holtzbrinck gehörende wissenschaftliche Springer Verlag zensiert seine Inhalte, um auf dem chinesischen Markt präsent zu sein. Ein Verhalten, das immer mehr westliche Medien- und Internetunternehmen an den Tag legen, notiert Niklas Dummer bei wiwo.de unter Bezug au die Sinologin Kristin Shi-Kupfer: "Aus ebensolchen Gründen hat Apple - das sich in den USA als ein Unternehmen inszeniert, dem es um Datensicherheit geht - schon vor Jahren die aus Sicht der KP unliebsamen VPN-Dienste aus dem Apple Store in China entfernt. Gerade mit seiner wachsenden Mittelschicht wird China für den Konzern ein immer wichtigerer Absatzmarkt. 'Solche Maßnahmen könnte der chinesische Propagandaapparat wiederum nutzen, um die vermeintliche Scheinheiligkeit der westlichen Demokratien offenzulegen', sagt Shi-Kupfer."
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Gesellschaft

Gleich drei Autoren der SZ gehen den Vorwürfen gegen Kevin Spacey nach, die von Vergewaltigung bis zu ungebührlichem Betragen gegenüber jungen Männern reichen. Eine ungute Rolle spielen in dem System des Missbrauchs auch die rigiden Arbeitsverträge in Hollywood: "Wie im Fall Weinstein bleibt die Frage im Raum stehen, welche Mechanismen diesen ungehemmten Machtmissbrauch über Jahrzehnte begünstigt haben könnten. Zumindest in Hollywood scheinen auch die knallharten Arbeitsverträge einen Anteil daran zu haben. Geheimhaltungsvereinbarungen sollen oft schon vorbeugend verhindern, dass Mitarbeiter an die Öffentlichkeit gehen."
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Religion

In der NZZ stellt sich Beat Stauffer hinter den Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi, der am 7. Oktober dieses Jahres vierzig Thesen zur Reform des Islam an die Tür der Berliner Dar-Assalam-Moschee heftete. Mit ihnen forderte Ourghi vor allem einen humanistischen Islam: "Damit nimmt er genaugenommen eine Umkehrung der von Vertretern muslimischer Länder aufgesetzten 'Kairoer Erklärung der Menschenrechte' vor. Während diese die universellen Menschenrechte nur insoweit akzeptiert, als sie nicht dem Koran und der Scharia widersprechen, will Ourghi Koranverse, welche modernen Grundrechten entgegenstehen, für ungültig erklären. Der Koran ist für ihn zudem nicht die letztgültige Offenbarung, sondern steht gleichberechtigt neben anderen Religionen. Schliesslich plädiert der Freiburger Islamwissenschafter auch dafür, den Propheten des Islam als Menschen zu sehen, der durchaus Fehler begangen habe und aus heutiger Sicht kritisiert werden könne."
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Europa

Jimmy Burns erzählt in politico.eu, welche kulturelle Bedeutung der Fußballclub FC Barcelona für Katalonien hat. Nicht nur wurde der Klub in einem antispanischen Moment um 1900  gegründet. Seinen Rang als regional-nationales Heiligtum gewann er 1974 unter dem niederländischen Spieler und Trainer Johan Cruyff, der Real Madrid 1974 - ein Jahr vor dem Ende der Franco-Diktatur - eine 5:0-Heimniederlage beibrachte: "In einer Zeit, in der Spanien noch von einer repressiven Diktatur beherrscht wurde, brachte Cruyff dringend benötigte soziale und kulturelle Frischluft aus seinen heimischen Niedelanden. Er widersetzte sich den spanischen Gesetzen über den ebrauch er katalanischen Sprache, gab seinem Sohn den katalanischen Namen Jordi und symbolisierte den Geist bevorstehender Befreiung in den letzten Tagen des sterbenden Diktators."

Steven Erlanger, der scheidende London-Korrespondent der New York Times, sammelt Stimmen zur Lage des Vereinigten Königreichs nach dem Brexit: "'Das Gefühl im restlichen Europa ist Bestürzung, um wie viel schlimmer kann es noch werden?', sagt Tomas Valasek, ein früherer slowakischer Diplomat, der viele Jahre in Britannien lebte und nun Carnegie Europa, eine in Brüssel basierte Forschungsinstitution leitet. 'Nach dem Brexit versucht niemand mehr zu helfen. Sie haben's aufgegeben. Niemand auf dem Kontinent gibt mehr viel auf Großbritannien. Schlimmer, die Leute denken, dass das Land Jeremy Corbyn in den Hände fallen wird und dass das noch mehr schaden wird als der Brexit selbst.'"
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