07.11.2017. Auch die kollektive Verblendung der katalanischen Separatisten verdankt sich einem Lügengespinst à la Trump und Brexit, schreibt Javier Cercas in Libération. Die SZ erklärt, warum Männer solche Schwierigkeiten haben, über ihre Missbrauchserfahrungen zu reden. Charlie Hebdo erhebt Klage wegen neuer Morddrohungen, die nach dem Tariq-Ramadan-Cover der letzten Woche laut wurden, berichtet Le Monde. In den neuen Ländern ist die AfD besonders stark, weil es keine Auseinandersetzung mit der Geschichte gab, sagt der Historiker Volkhard Knigge in Zeit online.
Europa, 07.11.2017
Die
Hälfte der Katalanen leben in Verblendung,
schreibt Javier Cercas, der sich selbst als Katalane sieht, in einem zornigen Artikel in
Libération. Und er zögert nicht, mit Blick auf die Separatisten von einem "
Staatsstreich" zu sprechen. Verantwortlich seien viele regional-nationalistische Personen, Politiker, Journalisten, Wirtschaftswissenschaftler, "mit Namen und Vornamen", die - angeblich mit Wohlwollen eines gewissen
Wladimir Putin - Lügen über die
rosige Zukunft Kataloniens in der Unabhängigkeit verbreitet hätten. "Diese Massenlügen könnten glatt die Lügen relativieren, die zum Sieg Trumps oder des Brexit geführt haben, und genau so ist das Problem Kataloniens für Europa zu betrachten, als der letzte, vielleicht
schwerste Peitschenschlag des nationalistischen Populismus, der auch zu Trump und dem Brexit führte."
Charles Grant vom Centre for European Reform
erklärt in
politico.eu, warum er Macrons Modell einer EU, in der
bestimmte Länder vorangehen, für das plausibelste hält: "Eine
flexiblere EU ist schwerer zu zerbrechen und funktioniert auf längere Sicht besser. Marcon hat recht, wenn er sagt, dass Regierungen, die Integration fürchten, ambitioniertere Länder nicht hindern sollten. Diese
ambitioniertere Gruppe muss für jene an der Peripherie nur die Tür offen lassen, damit sie sich später anschließen können - wenn sie die Kriterien für den inneren Kreis erfüllen."
Außerdem: Für die
FAZ liest Joseph Croitoru ein Buch des tschechischen Unternehmers und Politikers
Andrej Babis, in dem dieser unter anderem die deutsche Flüchtlingspolitik kritisiert.
Politik, 07.11.2017
Derzeit studieren
laut New Yorker 380 Journalisten die
Paradise Papers, und keiner hat Zeit, mal einen Kommentar zu schreiben. Was sich aus zahlreichen Berichten und Berichtchen herauskristallisiert ist, dass in Europa
Steueroasen geduldet werden und dazu beitragen, riesige Beträge an Steuern zu vermeiden. All die Politiker, die über Steuerhinterziehung klagen, müssten jetzt eigentlich erklären, warum sie die entsprechenden Schlupflöcher in ihren Ländern nicht stopfen. Steueroasen auf den
britischen Insel Jersey erlauben es
Apple, seine Steuerquote bei Gewinnen außerhalb der USA weiter auf nur drei bis sieben Prozent zu halten, so die
Süddeutsche in einer Übersicht.
Nike drückte seine globale Steuerrate durch ein
Schlupfloch in den Niederlanden von 35 Prozent auf 13 Prozent. Irland und Luxemburg sind seit langem bekannte Steueroasen. "Steuervermeidung ist ein Reichensport", lernt der Ökonom Gabriel Zucmann daraus, wie er im
Gespräch mit der SZ erklärt: "Allein Deutschland entgehen
17 Milliarden Euro pro Jahr an Steuereinnahmen, weil internationale Konzerne ihre Gewinne in Steuerparadiese verschieben. Insgesamt verliert
die EU umgerechnet
ein Fünftel ihrer Einnahmen aus Unternehmensteuern, rechnet Zucman vor. Das entspreche 60 Milliarden Euro im Jahr. Deutschland ist
besonders betroffen. Von allen untersuchten Ländern verliert die Bundesrepublik am meisten Geld durch Steueroasen. Die Einnahmen aus Körperschaftsteuer könnten 32 Prozent höher liegen als bislang."
Wissenschaft, 07.11.2017
Wir müssten viel mehr tun, um den Klimawandel aufzuhalten, meint die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Elizabeth Kolbert. Doch in den USA, die den weltweit zweitgrößten Ausstoß an Kohlenstoffen haben, kann die Mehrheit von der Dramatik der Lage nicht überzeugt werden, gibt sie im Interview mit der SZ zu: "Viele Leute in meinem Land scheinen allen Tatsachen gegenüber vollkommen immun zu sein, selbst wenn ihr eigenes Haus von einem Hurrikan zerstört wird. Wir müssen gerade in den USA lernen, dass Unvernunft und Ignoranz plötzlich nahezu unbegrenzten Einfluss haben können. Für mich als Journalistin ist das eine so deprimierende wie beängstigende Erfahrung; das ganze Ethos unseres Berufsstandes fußt ja auf der Annahme, dass die Leute bessere Entscheidungen treffen, wenn man ihnen mehr Informationen zur Verfügung stellt. Trotzdem gibt es meines Erachtens keine Alternative als zu hoffen, dass die Wahrheit irgendwann ans Licht kommt."
Gesellschaft, 07.11.2017
Wenn
Männer oder Jungen missbraucht werden, ist es ihnen oft kaum möglich, das einzugestehen, erklärt Thomas Schlingmann vom Verein "Tauwetter" im
Interview mit
sueddeutsche.de. Zu stark kollidiert die Missbrauchserfahrung mit dem herrschenden Männlichkeitsbild: "Bei Männern beobachten wir zum Beispiel oft, dass sie gegengeschlechtlicher Missbrauch als Kind oder Jugendlicher
umdeuten zum 'ersten heterosexuellen Abenteuer', also zu einvernehmlichen Sex. Das passt besser zur Männerrolle in der Gesellschaft. Gleichgeschlechtlicher Missbrauch führt häufig zu der Frage:
Bin ich etwa schwul? Diese Frage mag auf den ersten Blick seltsam wirken, ist es aber gar nicht. Zum Beispiel wissen viele Menschen nicht, dass Jungen wie Männer auch in Situationen von sexueller Gewalt Erektionen oder Ejakulationen haben können. Sie interpretieren das dann oft selbst als Zeichen, dass es ihnen
doch irgendwie gefällt - verstärkt vom Täter oder der Täterin, die sagen: Siehst Du! Dabei
stimmt das nicht."
Während
laut Express neue Vorwürfe gegen
Tariq Ramadan laut wurden, sieht sich die Redaktion des satirischen Wochenblatts
Charlie Hebdo nach seiner Ramadan-Karikatur von letzter Woche (unser
Resümee) massiven Morddrohungen ausgesetzt,
berichtet Le Monde: "Der Anwalt des Blattes, Richard Malka, hat auf Nachfrage von
Le Monde gesat, es handle sich vor allem um 'verbale Gewalt', aber einige Äußerungen seien
präzise genug, um ernst genommen zu werden. Er sei besorgt über die anhaltenden Drohungen gegen die Redaktion drei Jahre nach dem Attentat, bei dem acht ihrer Mitglieder umgebracht wurden. 'Wer schreibt, schreitet selten
zur Aktion. Aber Worte gehen Taten stets voraus, sie schaffen
ein Klima."
Auch Ronan Farrow legt nach und
präsentiert im
New Yorker neue Vorwürfe gegen
Harvey Weinstein.
Medien, 07.11.2017
Medienjournalistin Ulrike Simon
liest für das Werbefachblatt
Horizont einen Bericht der Demoskopin
Renate Köcher über die
Zahlungsbereitschaft des Publikums für journalistische Angebote. Weit her sei es damit leider nicht: "Lediglich ein Viertel derer, die sich im Internet über Politik informieren, ist bereit, für journalistische Angebote im Internet Geld auszugeben oder tut dies bereits. Zwei Drittel
lehnen das grundsätzlich ab. Schließlich ergaben die Befragungen des Instituts, dass 59 Prozent der über 16-Jährigen und selbst 43 Prozent derer, die sich regelmäßig im Netz politisch informieren, nicht ahnen, welche Folgen
Werbeblocker für die Betreiber von Webseiten haben."
Geschichte, 07.11.2017
Das
Jahr 1917 ist für Wladimir Putin kein bequemes Datum,
sagt der Historiker
Juri Piwowarow im Gespräch mit Klaus-Helge Donath von der
taz: "Kremlnahe Historiker sehen in der
Februarrevolution 1917 eine Verschwörung, an der das Bürgertum, die russischen Generäle, die Intellektuellen und Freimaurer beteiligt waren. Die
Oktoberrevolution erscheint unterdessen wie eine bolschewistisch-deutsche Verschwörung. Jedoch wird den Bolschewiki zugutegehalten, dass sie das Imperium bei erstbester Gelegenheit wiedererrichteten. Sie erwiesen sich als '
gosudarstweniki': Leute, die trotz Umsturzes den Erhalt und die Größe des Staates über alles stellten. Die Hauptschuld am Zusammenbruch trifft somit Bürgertum und liberale Kräfte. Das stimmt so natürlich nicht."
In der
SZ beschreibt der Historiker
Gerd Koenen die "überspannte Selbsteinschätzungen" deutscher Politiker, die erst die
Oktoberrevolution während des Ersten Weltkriegs und später den Bolschewismus für sich zu nutzen hofften.
Anders als in der Bundesrepublik gab es
in der DDR nie eine Aufarbeitung der Frage, welchen Rückhalt der Nationalsozialismus in der Bevölkerung hatte. Darum kommt die
AfD im Osten besonders gut an mit ihrer Forderung, es müsse mal Schluss sein mit dem "Schuldkult", meint der Historiker
Volkhard Knigge, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, im
Interview mit
Zeit online. "Es gibt unterschiedliche Entwicklungen in beiden Teilen Deutschlands. Und im Moment müssen wir offensichtlich - weil die AfD es herausfordert - bestimmte Debatten, die in Westdeutschland schon geführt, aber zum Teil auch bereits wieder vergessen worden sind,
noch einmal führen. Man sollte sie nicht unterdrücken, sondern fördern - unterstützt durch Schulen, Gedenkstättenarbeit, politische Bildung. Und man muss deutlich machen, dass das
echte Selbstbewusstsein der Bundesrepublik als demokratischer Rechtsstaat, als offene Gesellschaft, und überhaupt deren Ansehen in der Welt, sich
aus der selbstkritischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit speist. Diese Aufarbeitung hat die Demokratie in der Bundesrepublik elementar gestärkt."
Außerdem: Die
FAZ bringt einen Vorabdruck aus dem Buch "Für Islam und Führer - Die islamische Welt und das Dritte Reich" über die
Islam-Politik der Nazis des britischen Historikers
David Motadel.
David Motadel