23.11.2017. Wieviele Karrieren hat der Sexismus in Hollywood und anderswo zerstört, fragen das New York Magazine und die New York Times. Auch die Tabus des weiblichen Bewusstseins müssen thematisiert werden, schreibt Urlula März in der Zeit. Le Monde Afrique berichtet über Sklaverei in Libyen und prangert die Kollaboration der EU an. Was treibt den WDR eigentlich, ein großes Spektakel mit dem Antisemiten Roger Waters zu planen, fragt die Jüdische Allgemeine. Das Urteil gegen Ratko Mladic wird begrüßt - und doch lesen sich die Kommentare bitter.
Gesellschaft, 23.11.2017
Im
New York Magazine hat Rebecca Traister in ihrem wirklich lesenswerten
Essay zum Stand der
Sexismus-Debatte (
siehe auch unsere Magazinrundschau) auch darauf aufmerksam gemacht,
wieviel Talent in einer Atmosphäre ständiger sexueller Belästigung nie zur Entfaltung kommen kann. "Die Soziologin Heather McLaughlin erzählte kürzlich in einem Radiointerview von ihren Studien, die zeigten, dass etwa
die Hälfte aller Frauen in ihren späten Zwanzigern, die belästigt wurden, sich innerhalb von zwei Jahren nach einem
neuen Job umsahen. Bei denen, die schwerere Fälle von Belästigung erlebten, lag die Zahl bei rund
achtzig Prozent - viele entschieden sich sogar, ihren Beruf ganz aufzugeben und neu anzufangen, oft in weniger männerdominierten Gebieten, die dann meist
schlechter bezahlt sind."
In der
New York Times singt Wesley Morris eine Hymne auf eine Schauspielerin, die dafür ein Beispiel ist:
Annabella Sciorra, die letzten Monat Harvey Weinstein beschuldigte, sie vergewaltigt und terrorisiert zu haben, hat
nie die Karriere gemacht hat, die sie hätte machen können, obwohl sie eine der besten ist. Morris staunt: "Das Land erlebt gerade eine
sexuelle Konterrevolution. Plötzlich werden Geschichten über und Missbrauch und Belästigung geglaubt, die Täter gekippt. Doch gleichzeitig ist einer der Topfilme in diesem Land 'Daddy's Home', in dem
Mel Gibson eine Hauptrolle spielt. Er ist der Mann, dessen antisemitische und rassistische Ausfälle Teil der kulturellen Geschichte sind. Er ist der Mann, der in einer Anklage wegen häuslicher Gewalt
'nolo contendere' plädierte. Und genau dieser Mann war letzten Winter bei den Oskars für beste Regie nominiert. 'Daddy's Home' ist mehr als nur ein Filmtitel. Er benennt eine
moralische Perversion. Mit 57 Jahren ist Annabella Sciorra vier Jahre jünger als Mel Gibson und nicht annähernd in Reichweite einer Topkarriere."
In der
Zeit erinnert sich Ursula März, wie sie schwieg, als einer Kollegin vor versammelter Runde eine "krasse Obszönität" an den Kopf geworfen wurde. Sie hatte Angst, als "mutmaßlich frustrierte Vogelscheuche" dazustehen. Eine Erfahrung, die sie die Sexismus-Debatte gern umlenken lassen würde: Dass ein Mann beleidigend werden kann, "ist eine Sache. Dass erwachsene, bestens ausgebildete, wirtschaftlich abgesicherte, in einem demokratischen Rechtsstaat lebende Frauen ihn
ohne Not und manifeste Bedrohung gewähren lassen, eine ganz andere. Und fünf Jahrzehnte nach dem Beginn der neuen Frauenbewegung, knapp zwei Monate nach dem Beginn der digitalen #MeToo-Kampagne könnte es langsam an der Zeit sein, sich etwas weniger mit den Tabus des Hollywood-Geschäfts und etwas mehr mit den
Tabus des weiblichen Bewusstseins zu befassen."
Politik, 23.11.2017
Berichte darüber, dass subsaharische Flüchtlinge
in Libyen als Sklaven verkauft werden, stören die afrikanische und französische Öffentlichkeit auf. Josiane Kouagheu, Korrespondentin von
Le Monde Afrique in Yaoundé hat mit überlebenden Zeugen
gesprochen, die nach Kamerun zurückgebracht wurden. Ein Flüchtling, der seinem Bericht nach gefoltert und vergewaltigt wurde, erzählt über seine Leidensgenossen: "Drei
wurden verkauft, um auf Baustellen zu arbeiten. Ihre Eltern hatten kein Geld und konnten kein Lösegeld zahlen, da haben die Araber beschlossen, sie zu verkaufen, um Geld zu machen. Zwei sind in der Wüste gestorben. Zwei sind von den Kidnappern
ermordet worden, sie waren krank. Ich weiß nicht, wo die anderen sind. "
In einem Kommentar für
Le Monde Afrique prangert Hamidou Anne den
arabischen Rassismus in Ländern wie Mauretanien, wo es nach wie vor Sklaverei gibt, aber auch Marokko an. "Aber auch die
Europäische Union ist mit ihrer skandalösen Migrationspolitik für die Verbrechen in diesem Teil der Welt mitverantwortlich. Der Menschenrechtskommissar der UNO, Zeid Ra'ad Al-Hussein nennt die 'Kooperation' zwischen Brüssel und Libyen bei den Flüchtlingen 'unmenschlich'."
Baschar al-Assad ist nach Moskau gefahren, um Wladimir Putin seine Aufwartung zu machen und sich herzlich für die Unterstüztung seines blutigen Regimes zu bedanken. Richard Herzinger
kommentiert in der
Welt: "Erst vor wenigen Tagen verhinderte Moskau mit seinem Veto im Weltsicherheitsrat, dass die UN weiter nach den Verantwortlichen für die
Giftgasangriffe im syrischen Krieg fahnden können. So schützt der Kreml das Assad-Regime, dem die UN-Experten den Einsatz chemischer Waffen gegen die Zivilbevölkerung nachgewiesen haben, vor Strafverfolgung - und sich selbst vor der Feststellung seiner
Komplizenschaft."
Geschichte, 23.11.2017
In London soll ein
Holocaust-Museum gebaut werden (mit der Planung beauftragt ist der Architekt David Adjaye). Sehr schön,
meint Afua Hirsch im
Guardian, fragt sich aber auch, warum es eigentlich kein Museum gibt, dass
an das Empire erinnert. Und daran, dass es nicht nur "irgendwo Übersee" passierte, sondern auch das Leben auf der britischen Insel formte: "Unsere bevorzugte Lösung für diese unangenehme Wahrheit war es, nicht auf der Sklaverei rumzureiten und lieber
die Abolition zu feiern. Immerhin wird an Britanniens Rolle im Sklavenhandel in dem hervorragenden
Museum in Liverpool erinnert. Aber einige auf Sklaverei fokussierte Museen sondern das Thema vom Mainstream der britischen Geschichte ab. ... Nur wenige Briten verstehen, wie
fundamental der Sklavenhandel für das britische Empire war und in welchem Ausmaß die Geschichte des Empires die Geschichte Britanniens ist. Dass es nicht ein einziges Museum gibt, dass dem Empire gewidmet ist, der historischen Episode mit den tiefsten Auswirkungen auf die
moderne britische Identität, ist wirklich bemerkenswert."
Europa, 23.11.2017
Die
SPD sollte jetzt nicht schmollen, sondern Martin Schulz nach Brüssel zurückschicken und dann wieder
große Koalition machen, ermuntert ex-Kulturstaatsminister
Michael Naumann in der
FAZ die Genossen. "Mit einem neuen Parteivorsitzenden (es kann auch ein alter sein), mit bewährten Fachministerinnen wie Barbara Hendricks oder Andrea Nahles sollte sich die Partei klarmachen, dass
jeder Pluspunkt für die AfD, die bei einer Neuwahl verstärkt ins Parlament zöge, der störrischen Sozialdemokratie in die Schuhe geschoben würde. Es wäre ihr
endgültiges Ende. Wer im Willy-Brandt-Haus will das eigentlich verantworten?"
Grundsätzlichere Fragen an die Koalitionsverhandlungen
stellt Max Thomas Mehr in einem Kommentar für
Dlf Kultur: "Egal ob Jamaika vor oder nach Neuwahlen doch nochmal in die Pötte kommt oder eine 'Große Koalition', die schon lange keine mehr ist. Sondierungen darüber müssten heute viel weniger zwischen den Parteien, als
zwischen der Gesellschaft und den Parteien geführt werden. Denn die traditionellen Volksparteien, die in den letzten siebzig Jahren die Regierungen prägten, repräsentieren immer weniger den politischen Willen der Gesellschaft."
Viel zur Versöhnung beitragen wird das Urteil des Haager Tribunals gegen den serbischen Kriegsverbrecher
Ratko Mladić nicht, meint der bosnische Schriftsteller
Muharem Bazdulj im Interview mit der
FAZ. Das zeige schon "der Umstand, dass aus der Haft entlassene Kriegsverbrecher in ihrer Heimat jeweils
wie Helden begrüßt wurden".
Leider ist das
Selbstbild der Serben, die sich als Opfer der Geschichte sehen, immer noch weithin intakt,
schreibt aucb Erich Rathfelder in der
taz nach dem Lebenslänglich-Urteil gegen Ratko Mladic - auch darum habe Mladic das Gericht der Lüge bezichtigt. Er könne die Verbrechen nicht zugeben, "er möchte
als Held in die serbische Geschichte eingehen. Die Opposition, das andere Serbien, beschränkt sich auf
wenige Intellektuelle, auf die Belgrader Szene, auf jene, die eine solch antiquierte und primitive Geschichtsauffassung nicht teilen wollen. Sie sehen in Mladic einen Verbrecher, der die serbische Nation an den Pranger gestellt hat. Doch die Mehrheit der serbischen Bevölkerung teilt leider immer noch die Sichtweise Mladic'."
Sehr bitter liest sich der
Kommentar des
Guardian-Reporters Ed Vulliamy, der 1992 als einer der ersten über den Horror der serbischen Kriegsführung schrieb. Ja,
Srebrenica wurde in dem Urteil als
Genozid eingestuft, aber nicht die zahllosen anderen Verbrechen Mladics: "Da war die totale Zerstörung ganzer Städte und Dörfer, die 'Reinigung' von allen Nicht-Serben durch Tod oder Deportation, das Schleifen der Moscheen und katholischen Kirchen, die
Lager für Frauen, die die ganze Nacht über vergewaltigt wurden, Nacht für Nacht. Und alles weitere. Nichts davon ist offenbar Genozid. Mladic wurde hier freigesprochen. Da stellt sich die Frage:
Was ist es dann?"
Der ehemalige französische Premierminister
Manuel Valls attackiert
laut huffpo.fr den postkolonialen und rechtsextremen Komiker
Dieudonné, der am Sonntag eine Vorstellung in Marseille geben konnte. Bei einer Feier des jüdischen Senders
Radio J sagte Valls: "Als ich erfahren habe, dass Tausende Menschen ihm am Ende seiner Vorstellung Standing Ovations gegeben haben, musste ich reagieren, denn es gibt ein ernstes Problem in diesem Land... Wer heute zu seinen Vorstellungen geht,
weiß genau,
was er tut... Dieudonné hat den Geist vieler Jugendlicher geprägt, nicht nur aus den armen Vierteln, auch aus der Mittelschicht. Mit (dem Rechtsextremen Alain) Soral hat er eine Synthese zwischen dem
traditionellen Antisemitismus und dem Antisemitismus der Jugendlichen aus den Banlieues geschaffen, die meist maghrebinischer und, man muss es aussprechen, muslimischer Herkunft sind."
Religion, 23.11.2017
Ronald D. Gerste
hat für die
NZZ das von konservativen Evangelikalen gegründete und mit allen High-Tech-Schikanen ausgerüstete
neue Bibel-Museum in
Washington besucht, das sich zunächst recht neutral gibt und dann doch das eine oder andere auslässt: "Gerade die
Gewalt im Namen des Herrn auf diesem Kontinent hätte man sich thematisiert gewünscht; umso mehr, als das dem neuen Museum nächstgelegene Haus der Smithsonian Institution, das Museum of the American Indian, so
erbärmlich wenig auf den Genozid an den Ureinwohnern eingeht, der allzu oft unter dem Motto der 'Christianisierung' oder der 'Zivilisierung' stattfand."
Medien, 23.11.2017
Der
WDR will nächstes Jahr ein Konzert mit
Roger Waters, einem der bekanntesten antiisraelischen Rockmusiker und Anhänger der Israel-Boykott-Bewegung BDS veranstalten. Michael Wuliger
nimmt das in der
Jüdischen Allgemeinen zum Anlass, näher auf die Politik des Senders zu blicken. "Da wird, wie bei der Dokumentation 'Auserwählt und ausgegrenzt'
Judenhass klein- und weggeredet. Bei offen antisemitischen Passagen einer Doku über den Rechtspopulisten Geert Wilders ein paar Monate zuvor war man in Köln weniger penibel gewesen. Und jetzt Roger Waters... Bei einem privaten Medienunternehmen wäre das bereits Skandal genug. Der
WDR aber wird
aus Rundfunkbeiträgen finanziert. Juden müssen diese Hetze also auch noch mitbezahlen."
Internet, 23.11.2017
Staunend wandelt SZ-Autor Bernd Graff durch die Ausstellung "Open Codes" im
Karlsruher ZKM, noch mehr aber staunt er über dessen Chef
Peter Weibel: "'
Gott ist der erste Programmierer. Er erschuf den Code', sagt Weibel etwa beim Wuseln durch das Digital-Areal und dann: 'Der Mensch ist nur ein
lästiges Peripheriegerät.' Das sagt er einfach so. "