9punkt - Die Debattenrundschau

Die Anhänger des Gerüchts

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.12.2017. Politico.eu erklärt, warum Italien das einzige europäische Land ist, in dem die jungen Wähler europaskeptischer sind als die älteren. Das Niemanlab hat herausgefunden, dass News in den Timelines der meisten Facebook-Nutzer eine wesentlich geringere Rolle spielen, als sich die Medien wünschen mögen. Die FAZ stellt den katalanischen  Autor Eduardo Mendoza vor, der einige Selbsttäuschungen der Katalanen aufdeckt. Und: Nichts ist laut Sonja Margolina in der NZZ trauriger als Sex in Russland.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.12.2017 finden Sie hier

Europa

Die Freilassung der deutschen Journalistin Mesale Tolu (wenn auch unter Konditionen) kommentiert Ali Celikkan in der taz: "Erdogans Regierung ist sich des breiten Widerstands in der Öffentlichkeit - sowohl innerhalb der Türkei als auch außerhalb - sehr wohl bewusst, und das scheint ihr Angst zu machen. So lässt sich erklären, dass sie nun jene freizulassen beginnt, die sie wissentlich zu Unrecht ins Gefängnis gesteckt hatte, einige früher als andere."

Italien ist das einzige europäische Land, in dem die jungen Wähler europaskeptischer sind als die älteren, schreibt Naomi O'Leary in einem interessanten Hintergrundtext für politico.eu: "Das Unbehagen der jungen Wähler hat seinen Ursprung im Gefühl, dass Italien die Kosten für das Wohlergehen des Blocks bezahlt. Starke Mehrheiten unter den Jungen sagen, die Flüchtlingskrise zeige, dass man nicht auf die EU zählen könne, um mit den größten Herausforderungen italiens klarzukommen. Das zeige, dass sich die EU nur um sich selbst schere." Ein Aspekt gleicht aber laut O'Leary den anderen Ländern in Europa: Die Jungen sind in der Minderheit, und da "sie weniger oft zur Wahl gehen, werden sie von den Politikern weniger umworben, was ihr Interesse an Politik weiter mindert."

Paul Ingendaay liest für die FAZ das Buch "Qué está pasando en Cataluña" (Was gerade in Katalonien geschieht) des katalanischen, aber auch sehr Katalonien-kritischen Autors Eduardo Mendoza (dem auch die spanische Seite nicht behagt). Mendoza entzaubert offenbar einige narzisstische Selbsttäuschungen der Katalanen: "In Mendozas Augen ist die katalanische Gesellschaft geschlossen, traditionell und sehr auf das Eigene bedacht. Mit dem Zustrom von Einwanderern aus dem übrigen Spanien, besonders aus armen Regionen wie Andalusien oder die Extremadura, in den fünfziger und sechziger Jahren war diese Eigenständigkeit gefährdet. Selbst der Katholizismus erschien bei den Immigranten aus dem übrigen Spanien mit ihrem lauten Auftreten in einer anderen Spielart: bunter, festlicher, heidnischer und mit einer antiklerikalen Note."

Wenig Reaktionen der von Jörg Metes bei den Ruhrbaronen (hier) und Thierry Chervel im Perlentaucher (hier) gestellten Necla-Kelek-Hasser. Sie hatten eine Aussage Keleks über die islamische Auffassung von Sexualität zu einem rassistischen Vorurteil Keleks gegenüber muslimischen Männern umgebogen. Die wenigen Reaktionen resümiert Daniel Fallenstein bei den Ruhrbaronen. Der CDU-Politiker Ruprecht Polenz sagt auf Facebook: "Ich kritisiere die Aussagen von Kelek. Da ist nichts Gerüchthaftes dran." Jakob Augstein schreibt auf Twitter: "Und jetzt mal Spaß beiseite: ich habe Keleks irre Ansichten zum Islam in 2 Kolumnen auf SPON zitiert, exakt mit den Worten, die auch in Ihrem Text vorkommen. Frau Kelek spielt nämlich in der dt Öffentlichkeit die Rolle der 'selfhating' Muslima." Augstein hatte Keleks Aussage so paraphrasiert: "Dumm und dauergeil, so ist er, der Muslim." Und auf Facebook behauptete er gar, Kelek habe "erklärt, dass der Islam Sex mit Tieren lehrt". Fallenstein kommentiert: "Für die Anhänger des Gerüchts bleibt die gefühlte Wahrheit wichtiger als die Fakten." In diesem Facebook-Thread halten auch Hilal Sezgin und Daniel Bax an ihren Behauptungen fest.

Außerdem: In der FAZ erzählt Stephan Stach, wie sich der geschasste Direktor des Danziger Weltkriegsmuseums, Pawel Machcewicz, gegen die polnische Regierung wehrt.
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Gesellschaft

Sonja Margolina schildert in der NZZ das traurige Sexleben in der Sowjetunion, das sich auch im heutigen Russland nicht so grundlegend geändert hat. Eine der Ursachen ist der Männermangel - nach dem Krieg war er besonders groß, aber auch jetzt kommen nur 784 Männer auf tausend Frauen: "Tatsächlich hatten die demografischen Disproportionen, die durch eine viel niedrigere Lebenserwartung der Männer verstärkt wurden, keinen geringen Einfluss auf das Sexualverhalten. Frauen mussten miteinander um die wenigen Männer konkurrieren. Männer hatten indes eine relativ breite Wahl."
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Internet

Shan Wang berichtet im Niemanlab über ein sehr interessantes Experiment, das sie durchgeführt hat um herauszufinden, wieviele Nachrichten von Medien Facebook-Nutzer tatsächlich rezipieren. Dafür hat sie sich von über 400 zufälligen Nutzern Screenshots der ersten zehn Posts ihrer Timeline zusenden lassen. Ergebnis: "Die Hälfte der Personen in unserer Studie sahen überhaupt keine News in ihren zehn ersten Posts, selbst wenn man eine sehr großzügige Definition von 'News' zugrundelegt (von Promi-Klatsch über Sportergebnisse über alle Medien hinweg. Unser Zählung umfasste alle News, die von den Verlagen selbst, oder anderen Seiten oder Individuen gepostet wurden und gesponsorten Inhalt). Und die nächsten 23 Prozent sahen nur eine News in ihrer Timeline."
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Stichwörter: Facebook

Geschichte

Im Interview mit der FR sprechen Aleida und Jan Assmann über das Holocaust-Mahnmal und wie sich das Erinnern und - mit Blick auf AfD-Mann Björn Höcke, der es ein "Denkmal der Schande" nannte - das Sprechen über den Holocaust verändert hat: "Der Begriff der 'Schande' gehört ins Vokabular der 'Ehre' und ist in post-heroischen Zeiten seit längerem aus unserem aktiven Wortschatz verschwunden. Wir benutzen nach drei Generationen auch nicht mehr den Begriff der 'Schuld', sondern verwenden zukunftsfähige Begriffe wie 'historische Verantwortung', 'Anerkennung der Opfer' und 'Empathie'. Das Wort 'Schande' drückte die Emotionen der ersten und zweiten Weltkriegs-Generation aus. Es spricht damit sehr alte Muster an. Solche Muster können über längere Zeit schweigend ruhen, gewissermaßen in der Latenz verborgen, aber dann doch in neuem Zusammenhang wieder aufgerufen werden und ihre Wirkung entfalten."

Im Kampf gegen den Kommunismus waren sich die Polen weitgehend einig. Doch seit 1989  fehlt dieser Kitt eines gemeinsamen Feindes, meint die Stettiner Literaturwissenschafterin und Schriftstellerin Inga Iwasiów im Interview mit der NZZ. Gleichzeitig mussten die Polen Kratzer am lieb gewordenen Bild des ewigen Opfers akzeptieren: "Als Gesellschaft sind wir in zweierlei Hinsicht durch eine Schocktherapie gegangen: einmal im Zusammenhang mit der Diskussion über Jedwabne, also über die Teilnahme der Polen am Holocaust; und zum Zweiten hinsichtlich der Diskussion über Wolhynien, also über die Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs, die aus dem feindlichen polnisch-ukrainischen Verhältnis resultierten, aber mehr Leben von Polen als von Ukrainern forderten. Wir lebten lange in der Gewissheit, dass wir während des Zweiten Weltkriegs nur Opfer waren, dass wir ein Recht auf Nostalgie, verbunden mit unseren verlorenen Ostgebieten, haben. ... Dieses Trauma, nicht nur Opfer zu sein, müssen wir erst einmal bewältigen."
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Medien

Mathias Döpfner wiederholt im Gespräch mit Stefan Koldehoff vom Deutschlandfunk im Streit um die Online-Texte der Öffentlich-Rechtlichen sein Argument, "dass die Angebote der Öffentlich-Rechtlichen es den Privaten unmöglich machen, Geld für ihre Angebote zu nehmen. Und dieses Geld ist wichtig, um Qualitätsjournalismus zu finanzieren. Die öffentlich-rechlichen Sender sind ja auch nicht kostenlos, die haben ja ein sehr hohes Gebührenvolumen von mehr als acht Milliarden Euro pro Jahr, die der Gebührenzahler bezahlt." Mit anderen Worten: Wenn die Sender ihre Texte reduzieren, können auch die Zeitungen ihre frei zugänglichen Texte reduzieren, und der Leser muss bezahlen. (Das Dumme ist nur, das sich die meisten Zeitungstexte schon jetzt hinter Zahlschranken verstecken!)
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Politik

Mit wenig Sympathie liest Richard Herzinger in der Welt eine  außenpolitische Grundsatzrede Sigmar Gabriels, die sich auf den vermeintlich kalt analytischen Blick Herfried Münklers stützt, um eine zugleich defätistische und interessengeleitete Außenpolitik zu begründen: "Er folgt dabei dem Trend zu einem vermeintlichen neuen 'Realismus', der uns weismachen will, nur wenn wir in der Außenpolitik ähnlich ungehemmt von störender 'Moral' eigene Interessen verfolgten, wie dies autoritäre Mächte tun, könnten wir in der Arena der Weltpolitik mit diesen mithalten. Der Appell für die subtile Angleichung der Strategie des Westens an das Denken und die Methoden seiner Feinde wird dann verkauft als Blick 'auf die Welt, wie sie eben ist'."

Im SZ-Interview mit Andreas Zielcke erklärt der Völkerrechtler Christian Tomuschat, warum seiner Meinung nach die  Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch Donald Trump völkerrechtswidrig ist: "Trump unterscheidet nicht zwischen den beiden Teilen der Stadt, die mit dem Waffenstillstand nach dem Unabhängigkeitskrieg 1949 voneinander getrennt wurden. West-Jerusalem ist seitdem von Israel beherrscht, Ost-Jerusalem war zunächst von jordanischen Truppen besetzt, wurde von Israel aber 1967 erobert. Das sind die beiden Ereignisse, die für die völkerrechtliche Beurteilung des Status von Jerusalem noch immer ausschlaggebend sind."
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