9punkt - Die Debattenrundschau

Catchy headline drüber, fertig

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.12.2017. Bei t-online weist Lamya Kaddor den Vorwurf von sich, sie habe Necla Keleks Zitat verfälscht. Die SZ eruiert, wann Heimatgefühle giftig werden. In der FR spricht der Historiker Philipp Blom über das Taumeln in der Gegenwart. In der taz inspiziert Pussy-Riot-Aktivistin Mascha Alechina den russischen Gulag. Und zum unaufhaltsam näher rückenden Heiligabend empfiehlt Helene Hegemann in der NZZ mal einen Potlatsch.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.12.2017 finden Sie hier

Ideen

Auf T-Online reagiert Lamya Kaddor auf die Vorwürfe von Thierry Chervel im Perlentaucher und Jörg Metes bei den Ruhrbaronen, Necla Kelek mit einem gefälschten Zitat über die Sodomie muslimischer Männer desavouiert zu haben. Kaddor nennt dies ihrerseits "absurd und bösartig" und fragt, warum niemand mit ihr gesprochen hat. Sie bleibt bei ihrer Darstellung und zitiert zur Bekräftigung aus dem Buch "Himmelsreise", um das es in dem ZDF-Gespräch ging. Kelek nimmt darin die Sexualisierung der Sprache in den Blick, in der mit Worten alles "gefickt" werde, die Mutter, das Auto, der Staat: "Im unmittelbar anschließenden Absatz verweist Kelek auf eine Veröffentlichung des Psychotherapeuten Halis Cicek aus Berlin-Kreuzberg. Demnach hätten vier von fünf Migranten aus der ländlichen Türkei ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit Tieren gemacht und hielten dies für 'selbstverständlich'. Kelek spricht also ganz eindeutig über Sodomie als reale Handlung im muslimischen Kontext. Es geht ihr nicht nur um eine abstrakte Überlegung, einen theoretischen Diskurs über eine irgendwie geartete muslimische Sexualmoral oder ein Menschenbild im Islam."

Gegen die Zumutungen der Moderne reagieren die Deutschen mit einer Beschwörung der Heimat, stellt Gustav Seibt in der SZ fest, das geht sein dem 19. Jahrhundert so, als in den Städten die Industrialisierung tobte und die Literatur sich nach der Dorfgemeinschaft sehnte: "Die Heimat ist also größer als die Familie und kleiner als das Vaterland. Damit beschreibt sie eine Sphäre von 'Gemeinschaft' vor dem Abstraktum der modernen 'Gesellschaft', eine weitere spezifisch deutsche Unterscheidung. 'Heimat' wird so zu einer eigentümlich vorpolitischen Sphäre, die mit allerlei Gefühls- und Erinnerungswerten aufgeladen wird. Dieser zunächst so unpolitisch wirkende Raum aber ist eben doch politisierbar, und dann können gute Gefühle giftig werden. Wer die Nation der Staatsbürger organisch aus Heimat und Gemeinschaft erwachsen lässt, überträgt die Forderung nach Vertrautheit und Homogenität auf ein politisches Großgebilde. Völkisches Denken orientiert sich an den kleinen Gemeinschaften auf dem Land, nicht an Städten. Das Vaterland, 'la patrie', wird dann zum familiären "Land der Väter", das sich nicht verändern soll."
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Politik

Im taz-Interview mit Jens Uthoff spricht die Pussy-Riot-Aktivistin Mascha Alechina über die Apathie der russischen Gesellschaft, ihre Zeit im Arbeitslager, in dem sie Uniformen für Polizei und Militär nähen musste, und das zynische Haftsystem in Russland: "Was wir heute in Russland haben, ist ein Erbe des Gulag. Wie ein Staat mit Häftlingen umgeht, spiegelt immer auch, wie die Regierung und der Staat mit ihren Bürgern umgehen. Das Gulag-System existierte, wenn auch in unterschiedlicher Ausformung, über 70 Jahre. Das, was dort in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren geschah, unterscheidet sich natürlich je nach Epoche stark voneinander. Und heute ist es wieder anders. Aber die Struktur hat sich nicht geändert."

Weiteres: Ebenfalls in der taz resümiert Erich Rathfelder die Arbeit des zu Ende gehenden UN-Tribunals zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien: "Trotz mancher Fehlurteile bleibt das Gericht wichtig für eine Region, in der immer noch nationalistisch gefärbte Geschichtsinterpretationen herrschen." Auf Zeit Online plädiert Daniel Barenboim an Israelis und Palästinenser, sich Jerusalem zu teilen. Andrea Köhler begibt sich für die NZZ ins Reichenparadies nach Palm Beach, wo Donald Trump seine Residenz Mar-a-Lago zum Winter White House ummodelt
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Gesellschaft

Im taz-Interview mit Peter Unfried erklärt die Schriftstellerin und Schauspielagentin Heike-Melba Fendel noch einmal, was ihr an #MeToo nicht behagt: "Das ist weniger eine Debatte denn ein reines Wirkungsphänomen, eine Steilvorlage für Emotionen. Das Urteil ist von vornherein gefällt. Es gibt keine divergierenden Standpunkte, die man herausarbeiten und dann im Idealfall zusammenführen könnte." Besonders suspekt ist ihr der Medienhype: "Schöne junge Frauen, die angefasst wurden. Schlimm, aber sexy. Ich habe in der Agentur im Oktober jeden Tag fünf bis zehn Anrufe bekommen, von Journalisten, die unbedingt Namen von missbrauchten Frauen aus Deutschland wollten, aber so krass dringend, dass es wirklich unangenehm wurde."
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Stichwörter: Fendel, Heike-Melba, #metoo, Metoo

Geschichte

In der FR unterhält sich Martin Hesse mit dem Historiker Philipp Blom über den Aufstieg des nationalistischen Populismus, verführerische Parallelen und das Taumeln der Gegenwart: "Im Moment wenden sich viele Menschen von der Demokratie ab als Gesellschaftsorganisation und als Herrschaftsprinzip. Weil sie finden, dass diese Demokratie ihnen nicht mehr dient, dass die Grundversprechen der Demokratie gebrochen werden, dass es eben nicht mehr so ist, dass man durch harte Arbeit aufsteigt. Die Menschen sehen, dass sie scheinbar ohne Grund entlassen werden, dass ihre Arbeit bedroht ist. Wer sich bildet, bekommt noch längst keinen Job und hat keine Zukunft. Dass Menschen in einer solchen Situation sagen: Dieses System funktioniert nicht mehr für mich, ich muss nur noch für dieses System funktionieren, scheint mir rational zu sein. Es scheint mir vernünftig zu sein."
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Medien

Alex Rühle reist für die SZ ins mazedonische Veles, einen Hotspot des digitalen Zeitalters. Von hier aus wurde ein Großteil der gefälschten Seiten gesteuert, die Donald Trump mit ins Weiße Haus gebracht haben. Unter anderem von Vlatko, der sich heute damit brüstet, in Champagner zu baden: "Vlatko ist 25 und hat mal BWL studiert. Als er aber 2012 von einem Typen aus der Nachbarstadt Kumanovo hörte, war es vorbei mit dem Studium. Da machte einer Geld, indem er im Internet englischsprachige Webseiten mit Gesundheitstipps aufsetzte. Englisch konnte Vlatko nur rudimentär, aber es gibt ja genug arbeitslose Englischlehrer. Und man braucht auch nur Texte von US-Seiten kopieren, umfrisieren, 'catchy headline' drüber, fertig. Vlatko fing klein an, mit einer Seite namens Healthylivingfood.com. 'Ich hab 50 Cent am Tag verdient, wenn es mal ein Euro wurde, war ich glücklich.' Das Business wuchs langsam vor sich hin. Aber dann kam Trump."
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Europa

Schlechte Nachrichten hat James E. Baldwin im Guardian für alle Briten, die sich darauf freuen, den blauen Pass als Zeichen ihrer stolzen souveränen Nation wiederzubekommen. Das Design wurde ihnen von einer internationalen Organisation auferlegt: "1920 organisierte der Völkerbund eine Konferenz zu Pässen, Zollformalitäten und Transitfragen. Die Resolution legte eine Reihe von Standards fest, die von Pässen eingehalten werden mussten, um international anerkannt zu sein. Die Regeln des Völkerbunds erforderten, dass der Pass 32 Seiten umfassen muss, in einem Format von 15,5 x 10,5 Zentimeter. "

Auf Politico.eu sieht Diego Torres wenig Hoffnung auf eine Lösung für Katalonien, nachdem Spanien Ministerpräsident Mariano Rajoy seine harte Haltung bekräftigt hat: "This means the showdown between Madrid and the Catalan separatists ... is likely to continue for the foreseeable future."
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Stichwörter: Katalonien

Religion

Helene Hegemann empfiehlt in der NZZ zur Neujustierung unseres Ökonomiebegriff den Potlatch statt eingeübter Geschenkrituale: "Beim 'Potlatch' will man mehr geben, als man gekriegt hat. Und zwar so lange, bis am Ende alles futsch ist." Denn, so hat sie es von ihrem Vater gelernt: "Weihnachten ist ein Fest, an dem aus Überfluss und Armut Liebe entsteht."

Weiteres: Heribert Prantl stilisiert in seinem Leitartikel in SZ recht modisch Maria zu einer Umstürzlerin, gar zu einer Pionierin von #MeToo (ohne sie allerdings auch zum Opfer eines Übergriffs zu erklären). In der FAZ erzählt Jesuitenpater Nikodemus Schnabel, warum er trotz allem gern unter den religiösen Hooligans von Jerusalem lebt.
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