03.01.2018. Eine Verharmlosung der Kriminalität einiger jugendlicher Flüchtlinge, arbeitet nur den Rechtspopulisten in die Hände, warnt Boris Palmer in einem Facebook-Post. In der NZZ problematisiert Wolfgang Ullrich den Begriff der "Werte". Die Mittelschicht wählt AfD, weil sie keine Frauen und Migranten mehr ausbeuten darf, fürchtet der Soziologe Stephan Lessenich in der SZ. Freut euch, die soziale Ungleichheit schrumpft, behauptet der Wirtschaftsforscher Clemens Fuest auf Zeit online. Die Proteste im Iran zeigen, dass die Entspannungspolitik gegenüber den Mullahs gescheitert ist, meint die Welt. Und Charlie Hebdo begeht den dritten Jahrestags des Massakers in der Redaktion.
Medien, 03.01.2018

(Via
turi2 und
Standard) Zum dritten Jahrestag des Attentats auf
Charlie hebdo veröffentlicht das Blatt ein Cover, das die Redaktion als Bunker zeigt. Text: "Ein Kalender vom Islamischen Staat? Wir haben schon gegeben!" Im Editorial schreibt Chefredakteur Riss, dass
Meinungsfreiheit für das Blatt zum Luxusprodukt geworden sei. "Pro Jahr müssten 800.000 Exemplare von
Charlie Hebdo verkauft werden, nur um die Kosten zum Schutz der Mitarbeiter zu decken."
Gesellschaft, 03.01.2018
Eine Verharmlosung der
Kriminalität, die von bestimmten Flüchtlingsgruppen ausgeht (oft Minderjährigen oder solchen, die sich als minderjährig ausgeben), arbeitet nur den Rechtspopulisten in die Hände, schreibt der grüne Tübinger Oberbürgermeister
Boris Palmer in einem Facebook-
Post: "Wer das bestreitet, hindert den Staat daran, zielgenau zu handeln. Nur wer die
spezifischen Formen dieser Gewalt anerkennt, kann ihre Ursachen finden und bekämpfen. Schon 2016 waren
zehn Prozent aller Tatverdächtigen in Sexualstraftaten Asylbewerber. 2017 wird der Wert weiter steigen. Das ist bei 1,5 Prozent der Bevölkerung einfach viel zu hoch und nicht relativierbar. Sehr wohl aber erklärbar: Das
Frauenbild in der Herkunftsländern, der Kulturbruch zum sexuell viel offeneren Leben hier, die lange Zeit ohne Kontakt zu Frauen und die fehlende Perspektive hier in Aufnahmeeinrichtungen reichen völlig aus, um diese Auffälligkeit nicht nur zu erklären. Sie war vorhersehbar."
Die
taz veranstaltet ein Pro und Contra zur Frage, ob zur Not das
Alter von Flüchtlingen überprüft werden soll, denn minderjährige Flüchtlinge bekommen viele Vorteile und einen erleichterten Familiennachzug. Der Befürworter, Martin Reeh, antwortet
pragmatisch: "In der Politik gibt es ein einfaches Prinzip: Wer für soziale Rechte eintritt, muss auch nach Möglichkeiten suchen, ihren
Missbrauch zu verhindern. Das gilt auch für die Flüchtlingspolitik." Der Gegner, Martin Kaul, antwortet
moralisch und warnt vor "einem fragwürdigen Rechtsstaatsverständnis und einer stereotypen,
rassistisch konnotierten Pauschalisierung".
In der
Berliner Zeitung hat Götz Aly
einige Fragen an
Aydan Özoguz: "Muss man es hinnehmen, dass sich der aus Afghanistan stammende Mörder einer Freiburger Joggerin lügnerisch als Minderjähriger ausgab und im Fall Mia Ähnliches zu vermuten ist? Lässt es sich nicht verhindern, dass offenbar immer mehr junge Männer mit ziemlich langen Messern in der Tasche herumlaufen? Dass Aydan Özoguz (SPD), Staatsministerin für Flüchtlinge und Integration,
zu all dem schweigt, überrascht leider nicht."
Hintergrund der Debatte ist auch, dass in Kandel ein angeblich 15-jähriger Flüchtling ein
15-jähriges Mädchen erstochen hatte. Darüber hatte sich auch der Streit entzündet, ob und wie Medien über den Fall berichtet haben und berichten sollten. Die
Tagesschau berichtete nicht, rechtfertigte sich aber in einem
Blogbeitrag. Peter Weißenburgers
Kommentar in der
taz: "Anlass genug für
rechte Denker*
innen, sich über das angebliche 'Beschweigen' des Vorfalls zu äußern; und für Vertreter*innen eines
selektiven Feminismus, zu behaupten: Der Verweis auf die 'Beziehungstat' sei eine Verharmlosung von Gewalt gegen Frauen." Was sind "selektive Feministinnen"?
Steigende
soziale Ungleichheit? Wo denn,
fragt Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, auf
Zeit online. "Die wichtigste Entwicklung in der weltweiten Einkommensverteilung ist zweifellos, dass der Anteil der Menschen, die in
absoluter Armut leben, von
über 40 Prozent Anfang der achtziger Jahre auf derzeit rund
zehn Prozent gesunken ist. Aber nicht nur die Armut hat abgenommen, auch die globale Einkommensungleichheit. Gemessen am Gini-Index, dem gebräuchlichsten Ungleichheitsmaß, ist die
globale Einkommensungleichheit in den letzten drei Jahrzehnten
gesunken. ... Unter den G7-Staaten weist Deutschland die niedrigste Ungleichheit der verfügbaren Einkommen auf, wenn man sie am Gini-Koeffizienten misst."
Mit größter Verachtung blickt der Münchner
Soziologe Stephan Lessenich auf die deutsche Mittelschicht - und ganz besonders auf die, die sich in den letzten Jahrzehnten
in die Mittelschicht hochgearbeitet haben. Die wählen nämlich heute, meint er in der
SZ, die AfD, weil sie nicht mehr ungehindert migrantische Arbeiter und Frauen ausbeuten dürfen. Diese Gruppe habe mit den fortschrittlicheren Teilen der Mitte gemein, dass sie beide den Kapitalismus verteidigen: "Hier gibt es beim
gemeinsamen Klasseninteresse kein Vertun, hier verschmelzen neue und alte Mittelklassen - die einen sich aufgeklärt-weltmännisch gebend, die anderen eher kleinkariert und im Zweifel auch schon mal offen chauvinistisch - zu einer großen Koalition der
Wohlstandsbewahrer. Denn die alten wie die neuen Leitmilieus der Mehrheitsgesellschaft gleichermaßen beschleicht die Ahnung, dass die anderen, die von den männlich-deutschen Lebenswelten und den privilegierten Lebensverhältnissen des westlichen Wohlstandskapitalismus über Jahrzehnte hinweg
Ausgeschlossenen, nun endlich aufbegehren..."
Europa, 03.01.2018
Eine
historische Einheit Europas gab es nie, im Gegenteil,
schreibt der Freiburger Historiker
Volker Reinhardt in der
NZZ: "Zwischen den calvinistischen Eliten der republikanischen Niederlande und der französischen Monarchie, die vor 1789 keinen zentralisierten Nationalstaat, sondern einen fast unüberschaubaren Flickenteppich regionaler und ständischer Privilegien bildet, sticht nicht Homogenität, sondern
Alterität hervor. Sie verbindet sich mit einer
Konkurrenz der Werte und Ansprüche. ... Dass die umfassende Konkurrenz, die Europa geformt hat,
heute friedlich und nicht mehr als Kampf um politische und militärische Hegemonie ausgetragen wird, ist eine große Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Ob es für diese Friedensgarantie die EU braucht, ist Anschauungssache."
Internet, 03.01.2018
(Via
Netzpolitik) Der Präsident des Bundeskartellamts, Andreas Mundt, nennt im
Gespräch mit Reinhard Kowalewsky den digitalen Wettbewerb als seine wichtigste Aufgabe: "Unsere vorläufige Einschätzung zu
Facebook kurz vor Weihnachten zeigt, wohin die Richtung geht: Wir haben dem Unternehmen mitgeteilt, dass wir es für
marktbeherrschend halten. Und wir kritisieren die Art und Weise, wie das Unternehmen
persönliche Daten sammelt und verwertet als möglichen Missbrauch von Marktmacht. Die Nutzer müssen hinnehmen, dass Daten
auch aus Drittquellen massenhaft gesammelt werden, obwohl sie davon wenig, meistens sogar gar nichts wissen."
Vorgestern ist das
Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) in Kraft getreten. Soziale Medien müssen Hassposts von sich aus in 24 Stunden entfernen. Constanze Kurz ist bei Netzpolitik
mehr als skeptisch: "Was wohl auch deutlich wird in diesen ersten Tagen des Gesetzes ist die Tatsache, dass es
eine ganze Welle von Meldungen gibt. Diesen Schwall müssen Twitter und Co. jetzt in knapper Zeit abarbeiten, was die Qualität der Prüfung nicht eben verbessern dürfte."
Ideen, 03.01.2018
Gütig oder tapfer kann jeder sein. Um "
Werte" hochzuhalten, braucht man allerdings in der Regel Geld. Und so verstärkt ausgerechnet die "Werte"-Fixiertheit die
sozialen Unterschiede,
überlegt Wolfgang Ullrich in der
NZZ. Heute haben wir auf der einen Seite eine Moralaristokratie, auf der andere ein Moralproletariat. Ausdruck dieses "moralischen Wohlstandsgefälles" sind die erstarkten populistischen Bewegungen: "In ihnen könnte man sogar eine neoprotestantische Mentalität erkennen, geht es doch heute nicht anders als vor fünfhundert Jahren darum, dass sich Menschen dagegen wehren, nur deshalb als
moralisch schlechter qualifiziert zu gelten, weil es ihnen an
äußeren Voraussetzungen dazu fehlt, als gut anerkannte Werke zu tun. Wie damals vor allem der Ablasshandel Widerstände auslöste, sind es heutzutage Crowdfunding-Projekte, Bio-Supermärkte, traditionsbewusste Do-it-yourself-Szenen oder der politische Kunstaktivismus, die den Argwohn wecken, einigen zu viel und allen anderen viel zu wenig
Chancen auf ein gutes Gewissen zu gewähren."
Eine neue Frauenbewegung wie #metoo reicht nicht, die Gesellschaft muss sich
insgesamt verändern, meint im
Interview mit der
Berliner Zeitung die marxistisch-feministische Philosophin
Frigga Haug: "Befreit man auf der einen Seite, zieht man auf der anderen Seite die
Herrschaftslinien fester. So etwa, wenn man die Vollzeiterwerbsarbeitsplätze schützt und gerade damit, bei sprunghafter Erhöhung der Produktivität von Arbeit, die Arbeitslosigkeit vergrößert. ... Ich finde es zu wenig, zu sagen: Auch ich. Im sozialistischen Frauenbund war unsere Losung: Jammere nicht,
leiste Widerstand! Wie verallgemeinert man das, dass die Menschen sich
als Gemeinwesen begreifen und ihre Fragen und Initiativen, ihre Bewegungen und ihren Veränderungswillen und ihren Zorn umbauen in ein Projekt für alle?"
Ausgerechnet der Wirtschaftsteil der
Sonntags-FAZ macht unter dem Titel "Die Precht-AG" den wirtschaftlichen Erfolg eines Autors zum Argument gegen seine Relevanz. Sebastian Balzter, Wirtschaftsredakteur, hat das
unvorteilhafte Porträt über
Richard David Precht verfasst: "Im Nachhinein lässt sich leicht erkennen, was für Prechts steilen Aufstieg alles zusammenkommen musste. Es verhält sich damit so ähnlich wie mit dem
iPhone von Apple, das auch erst vor zehn Jahren auf den Markt kam, heute vielen aber schon wie ein Teil der öffentlichen Grundversorgung vorkommt. Hinter dem Gerät steckt
keine brillante Erfindung, die Grundlagen hatten andere schon entwickelt. Aber ein derart nutzerfreundliches Design hatte außer Apple keiner im Angebot. Die Kundschaft war reif dafür - und hatte genug Kleingeld in der Tasche für ein neues Statussymbol."
Außerdem: Angeregt von Papst Franziskus' Vorschlag zur Abänderung des Vater unsers
liest Slavoj Zizek das
Buch Hiob (
NZZ).
Geschichte, 03.01.2018
Gibt es ein
Gedenk-Overkill,
fragt Welt-Redakteur mit Blick auf die in diesem Jahr drohenden Jubiläen (Dreißigjähriger Krieg, 1968 und so weiter) aber auch auf die populistischen Geschichtspolitiken in Polen und bei der AfD. Sein Ergebnis: "Ein
Gleichgewicht in der Erinnerungskultur ist möglich, ohne die Last der Verantwortung etwa für die Verbrechen des NS-Systems wie ein altes Hemd abzustreifen. Verantwortung heißt, im Wissen um die Vergangenheit Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft zu gestalten." Aber: "
Der Staat muss dabei seine Rolle beschränken, zivilgesellschaftliche Initiativen sind zu fördern."
Außerdem: In der
FAZ widerspricht der Historiker
Ronald G. Asch seinem Kollegen
Magnus Brechtken, der die Erfolge der Rechtspopulisten einerseits mit der Mentalität in den Neuen Ländern und andererseits mit dem Dreißigjährigen Krieg hatte erklären wollen.
Politik, 03.01.2018
Die
Demonstrationen im Iran zeigen für Richard Herzinger in der
Welt auch, das die unter anderem von Sigmar Gabriel verfochtene
Entspannungspolitik gegenüber dem Mullah-Regime gescheitert ist: "Entzündet sich der Protest im Iran doch an der Tatsache, dass das Regime die Ressourcen, die durch die Sanktionslockerungen freigesetzt wurden, keineswegs zur
Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung nutzt. Es setzt sie vielmehr zur Intensivierung seines kriegerischen Expansionskurses in der Region ein, namentlich in Syrien."
Bevor es zu Reformen kommt, wird sich die
Lage im Iran noch weiter verdüstern,
meint Ray Takeyh in
politico.eu: "Auch wenn der hemmungslose Imperialismus von den Demonstranten angeprangert wird, die nicht wollen, dass der Wohlstand der Nation in arabische Bürgerkriegen verschleudert wird, werden
die Hardliner ihren Kurs kaum ändern. Diese Revolution war stets grenzenlos und angesichts des Zusammenbruchs des Staatensystems in der Region, sieht die Islamische Republik einzigartige Chancen,
ihre Macht auszudehnen. Teheran ist zu stolz auf seine Hisbollah-Proteges im Libanon, zu sehr verwickelt in den syrischen Bürgerkrieg und zu beschäftigt mit der trüben irakischen Politik, als dass es sein politisches Abenteurertum aufgeben könnte, nur weil es zur finanziellen Last wird."