9punkt - Die Debattenrundschau

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Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.01.2018. Juristen streiten über die Zeit-Recherchen zu Dieter Wedel. Der ehemalige Richter und Zeit-online-Kolumnist Thomas Fischer kritisiert sie bei Meedia als tendenziös. Dem widerspricht entschlossen die Juristin Elisa Hoven, ebenfalls auf Meedia. Seyran Ates lanciert einen offenen Brief an die Humboldt-Uni, die ein Institut für islamische Theologie gründen und nur Vertreter konservativer Islamverbände in den mächtigen Beirat einladen will. Ach was Gott, ruft statt dessen Atiq Rahimi in Le Monde: Was ist er schon gegen Frauen und Wein?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.01.2018 finden Sie hier

Medien

Vor zwei Tagen kritisierte der ehemalige BGH-Richter (und Zeit-online-Kolumnist) Thomas Fischer auf Meedia die Zeit-Berichterstattung über Dieter Wedel, der er vorwirft, "jeden Ansatz zu professionell-kritischer Distanz" gegenüber den Vorwürfen gegen Wedel vermissen zu lassen: "Die Zeit-Veröffentlichungen vom 4. und 25. Januar 2018 sind nicht neutral oder unvoreingenommen, sondern beziehen Position und fällen ein Urteil. Dazu nutzen sie Mittel der Suggestion und Verzeichnung, der Zirkelschlüssigkeit und der Denunziation. Das gilt für die Auswahl der referierten Zeugen-Bekundungen, aber zum Beispiel auch für die tendenziöse Verwendung von Konjunktiv und Indikativ: Die belastenden Aussagen werden in mittelbarer Form eingeführt ('sie sagt…, dass…'); wenn sich Lücken zeigen oder Nachfragen aufdrängen, wechselt der Bericht aber unvermittelt in den Indikativ ('Sie weiß nicht mehr, …'). Die Autoren wechseln immer wieder zwischen der Rolle der Berichterstatter über Behauptungen und der von Berichterstattern über Wahrheiten. Das führt zu einer zirkelschlüssigen, suggestiven Geschlossenheit der Darstellung."

Ebenfalls auf Meedia widerspricht Fischer jetzt die Juristin Elisa Hoven, die Fischers Anforderungen an investigative Berichterstattung überzogen findet: "Ein Journalist kann - schon aufgrund fehlender Eingriffsbefugnisse - nicht in gleicher Weise Beweise erheben wie ein Gericht. Setzte man dies aber voraus, wäre jeder Bericht über den Verdacht einer Straftat unzulässig. Investigative Recherchen mit strafrechtlichem Bezug dürfte es also nicht geben (kein 'Watergate', keine Aufdeckung des 'DFB-Skandals 2006', keine Berichte über Untreuehandlungen von Vorstandsvorsitzenden - übrigens alles Fälle, in denen keine entsprechende Medienschelte erfolgt ist)."

Die Länder tagen über die Zukunft der öffentlich-rechtlichen Sender, die Finanzbedarf angemeldet und bisher nur wenige Sparpotenziale gehoben haben, so Michael Hanfeld in der FAZ. Auch die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs (Kef) mahne zu weiteren Einsparungen, sonst sind die Gebührenzahler dran: "Kommen die Ministerpräsidenten in Sachen Auftrag, Struktur und Finanzen der Öffentlich-Rechtlichen zu keiner Lösung, 'müsste' der Rundfunkbeitrag nach Einschätzung der Finanzexperten auf 18,70 Euro im Monat steigen."
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Europa

Überall in Europa werden Sozialwohnungen aus den Nachkriegsjahren abgerissen. Damit verschwindet mehr als nur Wohnraum, bedauert der niederländische Architekt Reinier de Graaf in der SZ. Auch der Gleichheitsgedanke jener Jahre werde aufgegeben:  "Dieser billige, massenhaft produzierte öffentliche Wohnraum trug in den Sechziger- und Siebzigerjahren wesentlich dazu bei, Europas Wohnungsknappheit zu beheben. Zudem gestatteten die billigen Mieten Leuten wie meinen Eltern, genug Geld anzusparen, um ihre Kinder an die Universität zu schicken, womit eine ganze Generation von Arbeiterkindern, zumal in Westeuropa, die Gelegenheit erhielt, die erste Sprosse der sozialen Leiter zu erklimmen. In dem grauen Beton dieser anonymen Gebäude wurde Europas Mittelschicht geboren und aufgezogen."
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Überwachung

Wie China hat auch Indien eine riesige biometrische Datenbank aufgebaut, "Aadhaar", in der die Fingerabdrücke, Iris-Scans und Fotos von einer Milliarde Bürgern gespeichert sind. Ziel war ursprünglich, die Korruption zu bekämpfen und die Verwaltung effizienter zu machen. Doch inzwischen ist das ganze ein "Überwachungsalbtraum", berichtet Adrian Lobe in der SZ. "Dazu kommt das Problem biologischer Verfallsprozesse. ... Ein Leprakranker aus Bengaluru, der aufgrund seiner Krankheit seine Finger und sein Augenlicht verloren hatte, konnte sich nicht für das Aadhaar-Programm einschreiben, was Voraussetzung für die weitere Auszahlung seiner Rente ist. Auch die ohnehin schon stigmatisierten 'Unberührbaren' (Dalits), die in Indiens Kastensystem auf der niedrigsten Stufe stehen, haben häufig keine Aadhaar-Karte und bekommen daher keine Sozialleistungen. ... Menschen, die sich nicht über ihre biometrische Merkmale ausweisen können, werden marginalisiert und faktisch ausgebürgert." (Mehr zu dem Programm bei Wired, The Tribune und Rediff hier und hier)
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Internet

Ein desaströses Urteil hat der Bundesrechnungshof dem Infrastrukturminister Alexander Dobrindt ausgestellt, berichtet Netzpolitik in einem auf Twitter viel diskutierten Artikel. Das gilt besonders für den Breitbandausbau: "Die Folgen sind bekannt: Anstatt auf echte Glasfaseranschlüsse zu setzen und Deutschlands Infrastruktur zukunftsfähig zu machen, versenkt das BMVI Milliardenbeträge in die kupferbasierte Übergangstechnik 'Vectoring', stärkt dabei die Marktmacht der Deutschen Telekom und sorgt insgesamt dafür, dass die Wirtschaftslokomotive Europas in einschlägigen Ranglisten weiterhin auf den hintersten Plätzen rangieren wird."
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Politik

Monika Hauser von der Frauenrechtsorganisation "medica mondiale" besteht im Gespräch mit Patricia Hecht von der taz darauf, dass feministische Positionen in die Außenpolitik einbezogen werden sollten: "Ich behaupte: Wären fähige Frauen an der Demokratisierung systematisch beteiligt gewesen, hätte sich die Lage in Afghanistan nicht derart dramatisch verschlechtert. Eine friedliche Gesellschaft kann nur entstehen, wenn Frauen sie mitgestalten."

Außerdem: In der FAZ würdigt Christian Geyer einen der wenigen glasklaren Sätze im Sondierungspapier von CDU/CSU und SPD: Dort steht, dass die Bundesregierung ab sofort keine Waffen mehr an Ländern liefen wolle, die am Jemen-Krieg beteiligt sind - und darunter sind eine Menge Abnehmer westlicher Rüstungsexporte.
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Gesellschaft

In aller Unschuld feiert der franko-afghanische Schriftsteller Atiq Rahimi im Gespräch mit  Laure Gasparotto  von Le  Monde den Wein und die Frauen - er stammt aus der der persischsprachigen Minderheit in Afghanistan und lebt seit langem in Frankreich: "Unsere persische Kultur spricht viel über Wein. All unsere Lieder, unsere Gedichte feiern den Wein, die Trunkenheit und auch die Frau. Natürlich sagten die Mystiker, dass sie mit dem Wein und den Frauen Gott feierten. Aber wie kann man Gott mit den Frauen und der Trunkenheit vergleichen?"

Necla Kelek zeigt in der Welt kein Verständnis für eine Entscheidung des Landkreises Pinneberg, der einem syrischen Flüchtling den Zuzug der Zweitfrau gestattet hat mit dem Argument, dass ihre bereits in Deutschland lebenden Kinder ein Recht auf ihre Mutter haben. Das diene nur der Betonierung der Rolle des Mannes in einer polygamen Ehe: "Sein Machtanspruch wird über die Familienzusammenführung bestätigt, denn die Frauen und Kinder sind in Deutschland per Aufenthaltsrecht an den Mann gebunden. Er bestimmt, was seine Frauen und Kinder tun oder lassen müssen. Wie in Syrien. Es werden mit der Polygamie und den Großfamilien Familienstrukturen importiert, die zwangsläufig in einer Gegengesellschaft enden."

Der männlichen Vorherrschaft droht das Ende - #MeToo und Donald Trump sei Dank, meint die Historikerin Hedwig Richter, die auf sueddeutsche.de den Wandel der letzten 150 Jahre nachzeichnet, der jetzt an sein Ende gekommen scheint: "Donald Trump ist zur Chiffre des Dramas geworden. Vielleicht zeigt der Präsident, der mächtigste Mann, der die Körper der anderen nicht respektiert, was wir nicht wahrhaben wollen: dass für einen Teil der Menschheit Herrschaft nach wie vor durch brutale Manneskraft legitimiert wird. Und doch wirkt der Staatschef schon rein habituell wie der letzte Witz der obsoleten Männlichkeit. Seine Präsidentschaft zieht an den bestürzten Augen der Welt vorbei wie ein Fastnachtsumzug mit platinblondem Narrensaum und Männern in grotesken Masken des Bösen. Nichts könnte besser das Ende des männlichen Zeitalters vor Augen führen."
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Religion

An der Humboldt-Uni soll ein Institut für islamische Theologie gegründet werden, das der Ausbildung von Imamen und von Lehrern für den Religionsunterricht dienen soll. Seyran Ates hat gegen die Besetzung des Beirats aus ausschließlich konservativen Islamverbänden in einem offenen Brief protestiert. Mit dabei, so Regina Mönch in der FAZ ist auch "die von der türkischen Religionsbehörde Diyanet gesteuerte und von allen Reformern gesäuberte Ditib, die gerade erst wegen des Vorwurfs, kritische Muslime bespitzelt zu haben, im Mittelpunkt eines Skandals stand. Im Sommer 2017 hatte die Berliner CDU das Beharren der Humboldt Universität und des rot-rot-grünen Berliner Senats, liberale Stimmen aus dem Beirat auszuschließen, ebenfalls scharf, aber folgenlos kritisiert."

Martin Niewendick erläutert in der Welt zum Thema: "Die Besetzung des Beirates ist deshalb pikant, weil dieser ein Vetorecht bei der Besetzung der vier Professuren haben soll. Zwar hat er keinen Einfluss auf die Ausschreibungen, kann aber später aus religiösen Gründen bei Anwärtern Einspruch einlegen." (Religiöse Gründe? Und wir dachten immer, die Unis dienten der Wissenschaft!)

Im Gespräch mit Hasnain Kazim von Spiegel online beleuchtet der pakistanische Nuklearphysiker (und Kritiker der pakistanischen Atomrüstung) Pervez Hoodbhoy die Psychologie des religiösen Rollbacks in den meisten muslimischen Ländern: "Eine Burka ist ja nichts anderes als ein Etikett, um sich abzugrenzen. Dadurch wird in aller Deutlichkeit gezeigt: Meine Identität ist islamisch. Diese Identität ist eng verknüpft mit dem Gefühl, ein Opfer der Geschichte zu sein. Tief versteckt empfinden Muslime, dass sie gescheitert sind. Diese Mischung von Befindlichkeiten flößt mir Angst ein, denn sie führt zu einem Verhalten, das sehr ungesund ist."

Außerdem: In der NZZ schreibt der in Stanford lehrende Literaturwissenschaftler Adrian Daub über Religion im Silicon Valley.
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