9punkt - Die Debattenrundschau

Dürre Gestalten in ihren Schlaghosen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.02.2018. Alles was nicht gezeigt wird: Im Tagesspiegel erklärt die Lehrerin Fereshta Ludin, die gegen das Neutralitätsgesetz in Berlin klagte, dass sie ihre Haare nicht aus religiösen Gründen nicht zeigt. Und die Bundesregierung macht zum Entsetzen der SZ eine Helmut-Schmidt-Gedenkmünze, die auch etwas nicht zeigt. Die NZZ bringt ein Pro und Kontra zu No Billag. Und glaubten die 68er ernstlich an 68?, fragt Heinz Bude in der FR.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.02.2018 finden Sie hier

Gesellschaft




Dies ist die offizielle Helmut-Schmidt-Gedenkmünze. Und warum guckt er so frustriert? Evelyn Roll spricht es im SZ-Magazin an: "Genau. Sie haben sich nicht getraut, Schmidt mit Zigarette auf die Münze zu prägen ohne den Rauchen-tötet-Warnhinweis, für den vielleicht kein Platz mehr war. Was sie sich aber auch nicht getraut haben: dem Künstler und Stahlgraveur Bodo Broschat die Raucherhand wieder auszureden. Sie wollten, was wir hier leider immer wollen: alles richtig machen."
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Europa

Wütend kommentiert der Zeithistoriker Horst Möller im politischen Teil der FAZ die inszenierte Parteidemokratie der Sozialdemokraten, die Parteitage und Mitglieder über Koalitionsvereinbarungen abstimmen lassen: "Die SPD hat knapp 440.000 Mitglieder, 632 Delegierte haben beim außerordentlichen Parteitag am 21. Januar abgestimmt. Kein Mitglied, kein Parteitag ist vom Wähler bestimmt worden, die etwa 9,54 Millionen SPD-Wähler (Zweitstimmen) haben Bundestagsabgeordnete gewählt. Wenn sie an dieser Partei-Prozedur beteiligt werden, dann nicht in ihrer Funktion als gewählte Repräsentanten, sondern als Parteifunktionäre. Auf diese Weise, Parteitage und Mitglieder über die Regierungsbildung abstimmen zu lassen, wird das repräsentative Prinzip des Grundgesetzes ausgehebelt."

Am 4. März wird in Italien gewählt. Michael Braun, Italien-Korrespondent der taz, beobachtet, dass die Kontrahenten im  Wahlkampf Kreide gefressen zu haben scheinen. Das ist um so beruhigender, wenn man bedenkt, dass "das Movimento5Stelle (M5S - 5-Sterne-Bewegung) in allen Umfragen nahe 30 Prozent, die Lega bei 12 bis 13 Prozent, Berlusconis Forza Italia (FI) bei 16 bis 18 Prozent liegen".

Der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki antwortet in der Welt auf einen Artikel Richard Herzingers, der ihm und der FDP eine allzu große Putin-Sympathie vorwarf (unser Resümee), verwahrt sich aber nicht gegen die Vorwürfe, sondern bleibt bei seiner Ethik des Einknickens: "Wollen wir in letzter Konsequenz mit einem Einsatz von Waffengewalt drohen, um die Krim wieder zurückzuführen und um Putin endlich Mores zu lehren?"

Zahnlose Tiger auch in den USA, wo nach einem Bericht Julia Ioffes im Atlantic ein vorbereiteter Bericht der Regierung zu neuen möglichen Sanktionen gegen Russland, der in Russland bereits Zähneklappern ausgelöst hatte, gekippt wurde und man sich begnügte, eine Liste der reichsten Russen zu veröffentlichen: "Einen enttäuschenderen Ausgang hätte man sich nicht vorstellen können, oder einen verwirrenderen und kontraproduktiveren."

Bei Zeit online nimmt die Schriftstellerin Olga Grjasnowa Flüchtlinge gegen einen pauschalen Antisemitismusverdacht in Schutz und bringt ihre Erfahrungen als russische, nach Deutschland emigrierte Jüdin ins Spiel: "Auch in der ehemaligen UdSSR hat man so einiges über die Juden gelernt, vielleicht nicht in der Schule, aber in Metro-Unterführungen, in denen es en masse 'Die Protokolle der Weisen von Zion' zu kaufen gab. Trotzdem erinnere ich mich nicht, jemals von Russlanddeutschen als eine Gefahr für die Juden gehört zu haben."
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Geschichte

Im FR-Interview mit Harry Nutt spricht der Soziologe Heinz Bude über Herkunft, Mentalitätshintergrund und die heutige Verklärung der 68er:  "Da hat nichts begonnen, was es vorher nicht schon gab. Weder die sexuelle Revolution noch die Demokratisierung der Gesellschaft und vor allem nicht die Konfrontation mit Auschwitz. (…) Diese Suche nach dem gesellschaftlichen und geschichtlichen Trend verdeckt die Mischung aus Melancholie und Sehnsucht, aus radikaler Reflexion und rebellischem Elan, aus politischem Dadaismus und existenziellen Ausbruchsversuchen, die für die Bresche von 1968 kennzeichnend waren. Glaubten die 68er an ihre Mythen? Wenn sie auf der Straße riefen: 'Wer zweimal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment!', ja. Wenn sie abends auf leeren Bürgersteigen als dürre Gestalten in ihren Schlaghosen und Fransenjacken nach Hause gingen, nein."

In der NZZ kann Claudia Mäder nur den Kopf schütteln über die Entscheidung des französischen Kulturministeriums, den rechtsextremen Autor Charles Maurras, der dieses Jahr 150 Jahre alt würde, nach öffentlichen Protesten wieder aus dem amtlichen Gedenkjahrbuch zu streichen. Das ist "weiße Geschichtsblendung", meint sie: "Maurras ist wahrlich keine Gestalt, die einem das Herz aufgehen lässt. All jenen aber, die sich von dem Buch Aufschlüsse über die französische Geschichte versprechen, erweist sie einen Bärendienst. Denn Maurras ist ein Denker, den kennen muss, wer immer etwas von den politischen Ideen der Zwischenkriegszeit, von der Ideologie des Vichy-Regimes oder den Konzepten der heutigen französischen Nationalisten verstehen will."
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Medien

Die NZZ bringt mit Blick auf die anstehende Volksabstimmung zur No-Billag-Initiative gegen die Schweizer Rundfunkgebühren ein Pro und Kontra . Die Schweiz wähle nicht zwischen Staatsmonopol und vollständigem Wettbewerb, sondern zwischen einem kontrollierten und einem unkontrollierten Medienoligopol, betonen der Wirtschaftsethiker Martin Kolmar und der Politologe Ulrich M. Schmid: "Generell muss aber eine liberale Sicht auf die Rahmenbedingungen der Bildung politischer Meinungen in der Schweiz die Wichtigkeit eines unabhängigen öffentlichen Medienhauses unterstreichen. Im Unterschied zu Google und Facebook übernimmt nämlich die SRG die Verantwortung für die Inhalte, die sie auf ihren Kanälen verbreitet. "

"Zwangsfinanzierte und mit dem Staat verbandelte Medien werden in einer offenen Gesellschaft zunehmend zu einem Anachronismus", meint hingegen der Publizist Robert Nef und schlägt stattdessen frei wählbare Nutzergebühren und gegebenfalls einen durch die Politik eingeräumten Budgetposten vor, mit dem die Behörden "bei privaten Sendern ein elektronisches Zeitfenster zur 'notwendigen amtlichen Information in den elektronischen Medien' und zum 'sprachlich-kulturellen Minderheitenschutz' erwerben könnten. Solche steuerfinanzierte Sendungen sollten dann aber stets mit dem Logo des Staates gekennzeichnet sein."
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Internet

Nach zwölf Jahren in verantwortlichen Positionen, in denen Deutschland bei Breitbandausbau stets zurückfiel, fordert Volker Kauder einen "Digitalrat". Sascha Lobo amüsiert sich in seiner Spiegel-online-Kolumne: "Zur Erinnerung: Es gab bereits von 2010 bis 2013 einen Digitalrat in Form der 'Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft'. Das damalige Mitglied Markus Beckedahl sagt: 'Von den zahlreichen Handlungsempfehlungen hat die unionsgeführte Bundesregierung seitdem fast keine umgesetzt.' So sah entschlossenes Handeln zur Digitalisierung beim letzten Mal aus."
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Religion

Im Tagesspiegel sieht die Lehrerin Fereshta Ludin, die als erste gegen das Kopftuchverbot in der Schule klagte (unser Resümee),  angesichts des "sozialen, gesellschaftlichen, politischen, medialen und kulturellen Drucks", nicht das sein zu dürfen, was sie sein will, einen Angriff auf ihre "Menschenwürde": "Wir sind Menschen. Keine Fälle und verstaubten Akten, die ein Neutralitätsgesetz beseitigen und schreddern kann. Wir sind Menschen mit einem hohen Anspruch an Emanzipation, Würde und Liberalität. Wir glauben an die Demokratie. Wir glauben an die Verfassung. Und wir glauben an die Grundrechte darin, die auch uns zustehen und auch für uns, für dich und mich geschaffen sind. Unser Körper gehört uns. Wie oft müssen Frauen wie ich es noch sagen, bis man uns glaubt: Wieviel Körper und Kopfhaar wir sichtbar werden lassen wollen oder nicht, wollen wir selbst bestimmen."
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