9punkt - Die Debattenrundschau

Permanente Gehirnimpfung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.02.2018. Die Historikerin Marci Shore zeichnet für die New York Times ein Psychogramm der polnischen Geschichtspolitik. Die taz kommt im Buch eines ehemaligen britischen Diplomaten der Logik der Brexiteers auf die Spur. Politico.eu schildert einen portugiesischen Streit über die Rolle der Stadt Lissabon im Sklavenhandel. In der FR skizziert der Historiker John Röhl Kaiser Wilhelm II. als ziemlich armes Würstchen. Und Le Monde fragt: Ist Galanterie feministisch?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.02.2018 finden Sie hier

Europa

Ulrike Herrmann, Wirtschaftskorrespondentin der taz, liest  Paul Levers Buch "Berlin Rules", das nach ihrer Auskunft seltene Einblicke in die Logik eines Brexiteers gibt - Lever ist Diplomat und war einige Jahre Botschafter in Berlin: "Lever hat zweifellos recht, dass die Deutschen in der EU extrem mächtig sind. Aber er spielt herunter, wie rabiat die Briten ihre eigenen Vorteile wahren. So schreibt er beispielsweise über den Dauerkonflikt um die Steuern: 'Das Vereinigte Königreich […] war entschieden gegen jede EU-Maßnahme bei den direkten Steuern.' Punkt. Dieser Satz klingt harmlos, aber dahinter verbirgt sich, dass Großbritannien die größte Steueroase der EU ist. Denn von London aus werden die Krongebiete verwaltet, die allesamt Briefkastenfirmen anbieten - seien es die Kaimaninseln, die Jungferninseln, Guernsey oder die Isle of Man."

In Lissabon soll ein Monument errichtet werden, um an den portugiesischen Anteil am transatlantischen Sklavenhandel zu erinnern, berichtet Paul Ames in politico.eu. Nicht alle sind begeistert wie etwa der Historiker João Pedro Marques, der viele Bücher über diese "Barbarei" geschrieben hat und dennoch einschränkt: "Als der Sklavenhandel seinen Höhepunkt erreicht, sagt er, spielte Lissabon nur eine marginale Rolle in einem Handel, der direkt zwischen Händlern in Angola und Brasilien abgewickelt wurde. 'Die Idee, dass Lissabon die Hauptstadt des Sklavenhandels war, ist eine komplette Lüge... Die extreme Linke in Portugal kocht das hoch. Sie setzen das auf die politische Agenda." Die Debatte tut weh, so Ames, weil die Zeit des Sklavenhandels zugleich als das "Zeitalter der Entdeckungen" gefeiert wird, "das dieses kleine Land an Europas Rand zu einer Weltmacht machte".

Die Historikerin Marci Shore fasst in der New York Times die jüngsten Zensurbestrebungen und geschichtspolitischen Dekrete in Polen zusammen und schließt: "Die Rückweisung des Universellen - das Bestehen auf einer polnischen Ausnahme - liegt im Herzen der polnischen Geschichtspolitik, die die Erzählung über das 20. Jahrunderts kontrollieren will mit dem Ziel, dass Polen glorifiziert und entlastet wird. Die Prinzipien, die dem zugrunde liegen, sind  einfach: der Topos eines Christus-ähnlichen Märtyrertums, eine manichäische Trennung von Unschuld und Schuld und die Versicherung, dass alles Böse von außen kam."

"Man darf auch nicht übersehen", meint zum selben Thema die Holocaust-Forscherin Stefanie Schüler-Springorum auf sueddeutsche.de: "Das Gesetz richtet sich nicht allein gegen den Ausdruck 'polnische Todeslager', sondern gegen alle Kolleginnen und Kollegen, die kritisch über das Verhalten der polnischen Bevölkerung während der Besatzung schreiben. Solche Forschung ist unter der aktuellen polnischen Regierung nicht besonders beliebt."
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Internet

In der NZZ befürchtet Felix Simon, dass unser Hang zum technischen Komfort in Zukunft gänzlich einem Überwachungskapitalismus in die Hände fallen wird. Nachdem Amazon und Google durch Smart Speaker bereits Einzug in viele Haushalte gehalten haben, hat Consumer Watchdog, eine der größten Verbraucherschutzorganisation in den USA, aufgedeckt, dass die Konzerne durch neue Patentanmeldungen ihr Abhörsystem in Zukunft drastisch ausweiten wollen: "Dass Google und Amazon entsprechende Patente angemeldet haben, bedeutet zwar nicht automatisch, dass diese am Ende auch umgesetzt werden. Aber Patente spiegeln das Denken und die Vision eines Unternehmens für die Zukunft wider. Zu hoffen, dass sich Amazon, Google, Apple und Co. freiwillig in ihrem Tun einschränken werden, ist Wunschdenken."

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Ideen

Gibt es eine Besonderheit des französischen Feminismus?, fragt Anne Chemin ausführlich in Le Monde mit Blick auf den "Aufruf der Catherines", der einen Akzent in der #MeToo-Debatte setzte: "Die Debatte kristallisiert sich in der Tat an der politischen Zweideutigkeit des Begriffs der Galanterie: Mona Ozouf und Elisabeth Badinter erblicken darin eine Befriedung der Sitten, während Michelle Perrot sie als soziale List anklagt, die dazu bestimmt sei, die Frauen weiterhin zu unterdrücken."

In der NZZ wundert sich Claudia Wirz, dass gerade in den doch freien Universitäten das Gendern im Sprachgebrauch wie ein Dogma von oben auf die Studierenden herab fällt - letztlich mit keinem Gewinn für die universitären Gleichstellungsabteilungen, denen sich Männer noch immer fern halten. Diese "permanente Gehirnimpfung" ist fehl am Platz, findet Wirz: "Ideologische Anleitung hat an einer Universität nichts verloren. Dass sie im Genderbereich trotzdem fast widerspruchslos praktiziert und gefördert wird, zeigt den Grad der Verzagtheit, der sich gegenüber dem Diktat der politischen Korrektheit eingestellt hat. Wer sich wehrt, gilt als reaktionär, also ist man lieber still."
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Gesellschaft

In der Zeit kritisiert (online nachgereicht) die Filmemacherin Düzen Tekkal Islamisten wie Rechtsradikale und auch die Verächter der Islamkritik, weil sie in ihren Augen allesamt Integration und Teilhaben von Einwanderern behindern: "Es ist in der Integrationsdebatte heute populär, sich auf seine Herkunft zu berufen, gern auch auf seine Religion. Vor allem die Islamverbände haben das aufgegriffen und tun so, als hieße Migrant sein Muslim sein - und sie selber seien als Experten für Religion auch Experten für Integration. Ich wünsche mir andere Fürsprecher. Denn ich habe gesehen, was übertriebener Religionsstolz und mangelnde Religionsfreiheit zur Folge haben: Hass auf Andersgläubige. Ich habe den Genozid an den irakischen Jesiden gefilmt. Gerade das hat mir Mut gemacht, unseren Rechtsstaat zu verteidigen, der allein die Freiheit garantiert und den Frieden. Darum wünsche ich mir eine Integrationspolitik, die nicht auf den Glauben der Migranten und ihrer Kinder fixiert ist. Ich wünsche mir weniger Bekenntnis zur Religion und mehr Bekenntnis zur Freiheit. Von den neuen Deutschen ebenso wie von den alten. Und von den neuesten Deutschen auch!"
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Politik

In iranischen Raketen mit chemischen Kampfstoffen, die in Syrien eingesetzt wurden, befanden sich deutsche Bauteile, berichtet Julian Röpcke in der Bild unter Bezug auf eine Recherche des  Dienstes Bellingcat: "Seit Jahresbeginn kamen mehrmals iranische Raketen zum Einsatz, um Wohngebiete mit Chlorgas zu beschießen. Bei der Herstellung dieser Raketen wurde das Elektroisoliermaterial Pressspan verwendet, 'ein bewährter Flächenisolierstoff auf Zellstoffbasis'. Hersteller: die Firma Krempel aus Vaihingen bei Stuttgart (Baden-Württemberg)... Fotos der Raketen-Reste nach zwei Gasangriffen zeigen das Firmenlogo, die Produktbezeichnung und den Aufdruck 'Made in Germany'. Das Unternehmen bestätigte Bild die Lieferung des Elektroisolierstoffs 'Pressspan PSP 3040'  an Abnehmer im Iran. Das wirft die Frage auf, ob die Ausfuhrkontrolle ins Reich der Mullahs zu lasch ist."
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Überwachung

Ein vor kurzem veröffentlichtes Patent zeigt, wie Facebook die Bevölkerung in soziale Klassen einteilt, berichtet Ingo Dachwitz bei Netzpolitik: "In die Big-Data-Analyse fließen unter anderem folgende Informationen ein: demografische Informationen wie Alter, Geschlecht, Ethnie, Bildungsstand, Wohnort; Art und Anzahl der internetfähigen Geräte, die jemand besitzt; Internetnutzung; Reiseaktivität; Haushaltsinformation wie Anzahl der Fahrzeuge oder Größe der Wohnung. Informationen über seine Nutzer, die Facebook nicht selbst sammeln oder erschließen kann, kauft das Unternehmen bekanntermaßen von Datenhändlern wie Oracle oder Acxiom."
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Geschichte

2018 jährt sich das Ende des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal. Im Interview mit der FR skizziert der Historiker John Röhl Kaiser Wilhelm II. als ziemlich armes Würstchen. Aber die Schuld am Krieg trägt er für ihn dennoch: "Die Hauptschuld Wilhelms II. sehe ich nicht in der Auslösung des Krieges ... In seinem langfristigen Versuch, Deutschland zur Weltmacht zu erheben, sehe ich die grundsätzliche Ursache des Konflikts, der im Sommer 1914 zum Weltkrieg führte, egal wie der Krieg nun tatsächlich ausgelöst wurde. Die Grundursache der Urkatastrophe war das Streben des wilhelminischen Kaiserreiches, das von Anfang an (wie der Kölner Historiker Theodor Schieder festgestellt hat) eine latente Hegemonie in Europa innehatte, nach Weltrang. Und das bedeutete, Frankreich und Russland als Großmächte auszuschalten. Darin sehe ich die Hauptverantwortung Wilhelms II."

1968 wurde nicht nur von Männern bestimmt, erinnert die Historikerin Christina von Hodenberg im Interview mit der Welt: "Wir alle kennen die viel reproduzierten Bilder. Junge Männer mit wehendem Haar im Demo-Laufschritt, Rudi Dutschke am Megafon. Aber das Material ist höchst selektiv. Kein Kamerateam war bei den ersten Frauengruppen dabei. 68erinnen waren für die Medien nur die 'Bräute' der Revoluzzer. Ohnehin wurde nur das gefilmt und dokumentiert, was sich in der politischen Öffentlichkeit abspielte. Was in den Familien passierte, blieb im Dunkeln. Es ist aber zentral, diese Privatsphäre auszuleuchten, um die gesellschaftliche Langzeitwirkung von 68 zu verstehen."
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