9punkt - Die Debattenrundschau

Der Schnaps wird aber weiterhin getrunken in Afrin

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.02.2018. In der taz ruft Waris Dirie, Aktivistin gegen Genitalverstümmelung, die #MeToo-Bewegung zu Solidarität mit afrikanischen Frauen auf. Die SZ berichtet über den Hongkonger Verleger Gui Minhai, der zum wiederholten Mal von chinesischen Behörden verschleppt wurde. Krise des Lesens? Rüdiger Wischenbart erinnert die Buchbranche im Perlentaucher an ihre Ursprünge in der Massenkultur. Politico.eu beleuchtet die Fremdenfeindlichkeit in Italien. Und die NZZ fragt: Was soll eigentlich die "konservative Revolution" sein?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.02.2018 finden Sie hier

Politik

Charlotte Wiedemann kommentiert in der taz die jüngsten Proteste gegen das Kopftuch im Iran, die zum ersten Mal vom Bürgertum auf ärmere Frauen übergegriffen hätten: "Der Kopftuchzwang hat in der Bevölkerung keine Mehrheit; das stellten sogar Befragungen durch Regierungsstellen fest. Dass solche Erhebungen überhaupt stattfanden, zeigt: Über eine Aufhebung oder Modifizierung des Gesetzes nachzudenken, ist kein Tabu mehr, jedenfalls nicht für die Moderaten und einen Teil der Geistlichkeit. Auch werden Verstöße nicht mehr so geahndet wie früher. Auf den Straßen der Städte gehen jetzt manche Frauen einfach ohne Tuch, ganz unspektakulär. Gerade das zeigt, wie ernst es ist."

Ebenfalls in der taz ruft Waris Dirie, Aktivistin gegen Genitalverstümmelung, die #MeToo-Bewegung zu Solidarität auf: "In Afrika leben ungefähr 600 Millionen Frauen und Mädchen und die Hälfte ist unter 15 Jahre alt! Auch sie haben ein Recht, dass man sie nicht vergisst, ihnen geholfen wird und dass man sie aus dem Teufelskreis von Gewalt und Respektlosigkeit befreit."

Michael Martens spricht für das FAZ-Feuilleton mit dem Politologen Thomas Schmidinger über die jetzt von Erdogan überrollte syrisch-kurdische Stadt Afrin, die auch wegen des starken Anteils der jesidischen Bevölkerung ein besonders säkularer Ort sei: "Man sieht in Afrin Frauen, die nur mit anderen Frauen im Café sitzen - das ist für Syrisch-Kurdistan, aber auch für Syrien insgesamt bemerkenswert. Eine armenische Familie in Afrin hat früher den bekanntesten Anisschnaps Syriens gebrannt. Zwar ist die Produktion nach Belgien verlegt worden, der Schnaps wird aber weiterhin getrunken in Afrin - ebenso wie Bier, das bis zum Kriegsausbruch meist aus der Türkei über die Grenze geschmuggelt wurde. Kurzum: In der urbanen Mittelschicht Afrins hat sich ein säkularer Lebensstil entwickelt, der sich Europa annähert."

Zum zweiten Mal ist der Hongkonger Verleger und schwedische Staatsbürger Gui Minhai Ende Januar in China verhaftet worden. Das bestätigte jetzt erst das chinesische Außenministerium gestern, meldet die Zeit. Kai Strittmatter hat für die Seite 3 der SZ Guis Mitarbeiter Lam Wing-kee getroffen, der im Oktober 2015 zusammen mit Gui verschleppt worden war und sich noch gut daran erinnert: "Sie hätten ihm das schon im Verhör an den Kopf geworfen, sagt Lam, die Agenten des Sicherheitsapparats: 'Teuflische, verdammungswürdige Sünder' seien sie. Eure Bücher, hätten sie ihn angebrüllt, die seien eine 'Verleumdung unserer Führer', Mittel zum 'Umsturz unserer Regierung'. Lam war entgeistert. Und zu Tode erschrocken. Man könne ihn auch verrecken lassen, sagten ihm seine Verhörer dann noch. Lam begann, die Tage zu zählen, indem er heimlich einen Faden aus seiner orangenen Gefängniskluft zog, in den er jeden Abend einen Knoten machte."
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Ideen

Perlentaucher Thierry Chervel erklärt in einem Artikel für die Welt, warum der Begriff der Kultur so zwiespältig ist und warum Kultur in Demokratien vor Zensur zu schützen ist - auch vor der allerneuesten Zensur im Namen von #MeToo, der Religion oder der Verletzlichkeit gesellschaftlicher Gruppen: "Erst Demokratien entwickelten jene Sphäre der Kultur als Spiel, als Raum der Zwanglosigkeit, der Selbstreflexion und der Möglichkeit von Sinn ohne Transzendenz. Sie ermöglichte es, all die Totems vergangener Kulturen mit ihren zornigen Götterfratzen, eben als solche zu erkennen, schützenswerte Zeugnisse von Kulturen, die man studieren und bewundern kann, ohne sie fürchten zu müssen. Möglich wurde das in demokratischen Ländern, weil man sich ein Stück weit auch aus der eigenen Kultur löste, die Zwangszusammenhänge der Dörfer, Familien und Religion verließ, sein Bündel schnürte, sich emanzipierte."

In Polen, Ungarn, Wien und den USA (ein bisschen auch in der CSU) rufen Politiker derzeit die konservative Revolution aus. Was sie damit meinen, wissen sie oft selbst nicht, meint Ivo Mijnssen in der NZZ, außer, dass sie an der Macht bleiben wollen: "Die nostalgischen Revolutionäre planen keinen Weltenbrand und keine Bürgerkriege. Vielmehr handeln sie in den entscheidenden Fragen oft erstaunlich pragmatisch. Sie sind trotz aller anderslautenden Rhetorik nicht bereit, die Kosten einer Abwendung von der globalisierten Welt zu tragen. Welcher Politiker will denn schon verantwortlich gemacht werden für eine mutwillig herbeigeführte Wirtschaftskrise oder einen erheblichen Wohlstandsverlust der Bevölkerung? Beim Kampf um die Macht sind die modernen Revolutionäre hingegen bereit, die Grenzen der Demokratie und des Rechtsstaats zumindest zu strapazieren."

Revolution? Das ist nur noch ein Hohlwort, meint der Schriftsteller Norbert Niemann auf Zeit online. Es dient heute vor allem der Erzeugung eines vagen Gefühls: "Der Verfall politischer Begriffe zu populistischen Parolen ist symptomatisch für unsere desaströse Politikkultur. Er ist Teil einer Systemkrise, der wenn schon nicht mit Revolution, so doch wenigstens mit einer Kampfansage der kritischen Intelligenz begegnet werden sollte. Denn die Übertragung von Werbestrategien in die Politik führt nicht allein zu einer ständig wachsenden Emotionalisierung der großen gesellschaftlichen Streitfragen. Sie höhlt die politischen Inhalte selbst aus, sodass inzwischen offenkundig nicht einmal so manche politisch Handelnden noch wissen, was die da politisch eigentlich genau tun (wie ein prominentes amerikanisches Beispiel zurzeit beinahe täglich belegt). Und sie führt, insofern sie Affekte anstachelt, zwangsläufig zu einer Radikalisierung beim Austragen politischer Konflikte."
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Kulturmarkt

Angesichts der "Krise des Lesens", die sich in verringerten Buchverkäufen aber auch im Verlust vieler Leser an Amazon manifestiert, rät Rüdiger Wischenbart im Perlentaucher der Branche einen Blick auf die eigene Vergangenheit: "Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren es nämlich die Ahnherren - seltener Frauen, außer bei den Leserinnen - der heutigen Verlage und Buchmacher, die erstmals eine echte Massenkultur auf den Weg brachten. Zeitschriften, in denen ausführliche Geschichten und Fortsetzungsromane einen attraktiven Kern darstellten, erreichten Auflagen von 100.000 und mehr, dank eines ausgefuchsten Vertriebs- und Abo-Systems. Serielle Mehrfachverwertungen - erst die Zeitschrift, dann das Buch, und oftmals auch populäre Theaterfassungen, ab den 1920er Jahren dann auch Radioversionen, erhöhten Reichweite und Ertrag kräftig."
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Europa

In der Kleinstadt Macerata hat ein Anhänger der Liga Nord Immigranten beschossen, zum Glück gab es offenbar keine Toten oder Verletzten. "Nach zwei Stunden fuhr er zu einem Denkmal für gefallene Soldaten, wickelte eine italienische Nationalflagge um die Schultern, reckte die Hand zum Faschistengruß und schrie 'Viva l'Italia'", berichtet Dominik Straub im Tagesspiegel.

Ferruccio Pastore beleuchtet in politico.eu das Problem der Fremdenfeindlichkeit in Italien, das er vor allem auf mangelnde Integrationspolitik zurückführt: "Seit mehr als zwanzig Jahren steht jetzt ein liberaleres Einbürgerungsgesetz, das in Italien geborenen und aufgewachsenen Kindern einen klaren Weg zu gleichen Rechten vorzeichnet, auf der Agenda von Mitte-Links-Regierungen. Unendliche Male haben Politiker argumentiert, das wirkliche Sicherheit nur durch Anerkennung und Integration erreicht werden kann. Aber im März wird eine weitere Legislaturperiode ablaufen, ohne dass dieses fundamentale Versprechen gehalten wurde. Die Mitte-Rechts-Parteien dagegen waren besser darin, Ausländer zu stigmatisieren als eine eigene Politik zu entwickeln."

Es ist immer mal wieder interessant, die verschwörungstheoretischen Ränder bei der Linkspartei zu betrachten. Stefan Frank porträtiert bei mena-watch.com die Labour-Aktivistin Jackie Walker, die übermorgen einen Vortrag bei der Linkspartei halten wird - sie gehört zur israelkritischen Fraktion der Labour-Partei und ist überzeugt, dass Juden im Sklavenhandel eine zentrale Rolle spielten: "Jacqueline Walker gehört der parteiinternen Organisation Momentum an, die sich für den Hisbollah- und Hamas-Unterstützer Jeremy Corbyn einsetzt. Walkers Äußerung über die Juden als angebliche 'Hauptfinanzier' des Sklavenhandels geht noch weiter: Sie hält diese angebliche Tatsache für den Grund dafür, dass es in der Karibik einige alte Synagogen gibt ('… which is of course why there were so many early synagogues in the Caribbean'). Ohne Sklavenhandel hätte es also in der Karibik keine Synagogen und keine Juden gegeben - wo Juden sind, da sind sie Sklavenhalter." Walker wird auch bei einer "israelkritischen" Konferenz in Berlin am 10. Februar reden, die durch ein Grußwort von Ken Loach eröffnet wird.
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