9punkt - Die Debattenrundschau

Der fast schon magisch einlullende Verben-Sound

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.02.2018. Die Welt wirbt um Verständnis für polnische Empfindlichkeiten in der Bewältigung der Vergangenheit.  NZZ und SZ fragen, wie künftig mit dem Erbe des Kolonialismus umzugehen sei. Focus online meldet, dass die AfD einen eigenen Newsroom aufmachen und die sozialen Medien mit ihren Inhalten bespielen will - mit zwanzig Redakteuren 24 Stunden am Tag und in den Räumen der Bundestagsfraktion. Recode.net freut sich: Die Digitalstrategie der New York Times geht auf, alle wollen sie abonnieren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.02.2018 finden Sie hier

Europa

Ohne die nationalistischen Strömungen in Polen zu verharmlosen, sucht Gerhard Gnauck in der Welt mit Blick auf die polnisch-jüdische Geschichte nach Erklärungen für das polnische "Holocaust-Gesetz". Heute denken viele Israelis bei Deutschland an Mercedes, bei Polen an den Holocaust, meint er und verweist auf den israelischen Historiker Moshe Zimmermann, der sich schon vor einigen Jahren in die Lage "der Polen" versetzte: "Wenn Israelis Polen eine Mitverantwortung für den Holocaust unterstellten, 'scheint das absolute Opfer, die Juden, andere Opfer, die Polen, in Täter zu verwandeln. Dabei scheint sich die Erinnerung an den Haupttäter zu relativieren. An dieser Stelle prallen zwei traditionsreiche kollektive Opferwahrnehmungen aufeinander und treten in Konkurrenz zueinander.' Es müsse für Polen geradezu frustrierend sein, schrieb Zimmermann in jenem Beitrag für eine deutsche Zeitung, mit Israel in 'einen Wettbewerb um den Opferstatus' gedrängt zu werden."

Italien reagiert bis in die Mainstreammedien hinein auf eine fremdenfeindliche Gewalttat in der Kleinstadt Macerata - ein Mann hat aus dem Auto auf schwarze Einwanderer geschossen und sechs verletzt - mit Einfühlung in den Täter, schreibt Klaus Georg Koch in der FAZ: "Der Ton der öffentlichen Debatte ist mit den Einfühlungen und Relativierungen gesetzt. Der junge Mann erscheint als einer von 'uns', der Mitleid verdient, vielleicht Verständnis. Die sechs Opfer der Tat werden nicht erwähnt. Es dauert zwei Tage, bis der Corriere einen Text über die Verletzten aus Mali, Ghana, Gambia und Nigeria nachreicht. Mittlerweile meldet sich der Rechtsanwalt des Täters zu Wort, eine Kollegin bietet unentgeltlich Hilfe bei der Verteidigung an."

Marc Reichwein liefert in der Welt eine Literaturkritik des Koalitionsvertrags - eher einen Verriss, um ehrlich zu sein. Im Kapitel "Sprache" heißt es: "Wir wollen. Wir werden. Wir ermöglichen. Das ist der fast schon magisch einlullende Verben-Sound, der sich durch das komplette Werk zieht. Wir brauchen. Wir bekämpfen. Wir unterstützen. Wir bedauern (den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union). Wir schaffen. Wir investieren. Wir verbessern. Wir stärken (die Sicherheit). Wir ordnen (die Zuwanderung). Ziemlich viele Passagen des Stückes sind im Futur geschrieben. Ein Science-Fiction-Roman wird natürlich trotzdem nicht daraus."

In der SZ unterstützen die Völkerrechtler Wolfgang Kaleck und Karina Theurer die Forderung der Gruppe "Third World Approaches to International Law", einer Vereinigung postkolonialer KritikerInnen des Völkerrechts, nach einer Dekolonisierung, die über bloße Entwicklungshilfe hinausgeht. Es müsse "das grundsätzliche emanzipatorische Potenzial des Völkerrechts entwickelt werden, um Ungleichheit und Ungerechtigkeit abzumildern. Vor allem müsste man die Regeln des (internationalen) Wirtschaftsrechts neu verhandeln. Die europäischen Regierungen müssten sich für ihre jeweiligen Kolonialverbrechen formal entschuldigen und strukturelle Maßnahmen zum Ausgleich der durch die Kolonialisierung verursachten sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit initiieren. Integraler Bestandteil der Beendigung (neo-)kolonialer Macht wäre vor allem ein Schuldenerlass."
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Kulturpolitik

Juristisch wird die Restitution von Kunstwerken aus der Kolonialzeit, wie sie Emmanuel Macron in Ouagadougou forderte, nicht einfach, glaubt Claudia Mäder in der NZZ: "Die Haager Konventionen aus den Jahren 1899 und 1954, die den Kulturgüterschutz in bewaffneten Konflikten regeln, gelten genauso wenig rückwirkend wie die Unesco-Übereinkunft von 1970, die in Fällen rechtswidriger Ausfuhr und Übereignung von Kulturgütern auch zu Friedenszeiten greift." Ebenfalls in der NZZ gibt Michaela Oberhofer, Kuratorin der Afrika-Abteilung des Museums Rietberg im Gespräch mit Philipp Meier zu bedenken, dass viele Bestände auch durch legalen Handel oder strategische Schenkungen afrikanischer Könige in Museen gekommen seien.

Und auch in Berlin soll jetzt "stadtweites postkoloniales Erinnerungskonzept" vorgelegt werden, berichtet Uta Schleiermacher im Berlin-Teil der taz.

Mit der "Düsseldorfer Erklärung" (hier der Volltext bei Buchmarkt) haben Kleinverlage eine Klausurtagung abgeschlossen. Unter dem Stichwort "Bibliodiversität" fordern sie darin die Kulturpolitik auf, ihnen besser unter die Arme zu greifen: Anregungen sind etwa die Anerkennung von E-Books als Kulturgut, eine "Bundeszentrale für literarische Bildung" und ein Preis nach Vorbild des Deutschen Buchhandlungspreises für ambitionierte Verlag mit prägnantem Profil und fairen Honorarzahlungen, berichtet Oliver Jungen in der FAZ. Im Deutschlandfunk-Gespräch erläutern Stefan Weidle und Jörg Sundermeier die Absichten der Kleinverleger.

Außerdem: Man ist "bemüht", schreibt Harry Nutt in der Berliner Zeitung zu den kulturpolitischen Passagen im Koalitionsvertrag: Die Provenienzforschung soll vorangetrieben werden, sogar das Humboldt-Forum werde mit einem Satz bedacht.
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Gesellschaft

Marina Weisband klagt in einer Dlf-Kolumne darüber, wie schwierig es für sie sei, muslimischen Antisemitismus zu benennen, ohne in die falsche Ecke gesteckt zu werden und "ohne zu fürchten, dass ich dabei helfe, Hass auf völlig unschuldige Muslime zu schüren, die sich nie antisemitisch geäußert haben... Das Perfide daran ist also, dass diese selbsternannten Judenfreunde der neuen Rechten es uns - Juden - komplizierter machen, Antisemitismus zu benennen. Vielen Dank!" Tja, und nun hat sie wieder nur über die Rechten, aber nicht über den muslimischen Antisemitismus geschrieben!
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Überwachung

Immer neue Details erfährt man über das beklemmende Überwachungssystem, das in China eingeführt wird. Heute berichtet Felix Lee für die taz: "Vorgesehen ist, dass Nutzer mit mindestens 1.300 Punkten die höchste Bewertung AAA erhalten. Können sie diesen Stand einige Zeit lang halten, sollen sie vergünstigte Kredite erhalten oder eine bessere Krankenversicherung. Auch bei der Vergabe von Studienplätzen könnte sich eine hohe Punktzahl der Eltern positiv auswirken. Wer hingegen unter einen Wert von 600 fällt, landet in der schlechtesten Kategorie D. Betroffene müssen dann sogar befürchten, ihre Jobs zu verlieren."
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Medien

(Via turi2) Oha, diese Meldung bei Focus online klingt doch ein wenig unheimlich: Die AfD, die ja jetzt vom Staat wie alle erfolgreichen Parteien ordentlich gepäppelt wird, plant mit ihren Geldern einen eigenen Newsroom inklusive Fernsehstudio in ihren Fraktionsräumen: "Neben der klassischen Pressestelle sollen rund zwanzig weitere Mitarbeiter für die Kommunikation zuständig sein, erfuhr Focus aus Fraktionskreisen. Die Arbeitsweise des 'Newsrooms' werde der in journalistischen Redaktionen ähneln. Der Schwerpunkt wird auf der Verbreitung der AfD-Inhalte in den sozialen Medien liegen. Die Mitarbeiter sollen im Schichtbetrieb rund um die Uhr tätig sein."

Die Digitalstrategie der New York Times scheint aufzugehen (zumindest für die New York Times). Die Times erlöst jetzt durch Digitalabos 340 Millionen Dollar im Jahr, durch Digitalanzeigen 238 Millionen Dollar im Jahr, notieren Edmund Lee und Rani Molla bei Recode.net. "Das Digitalgeschäft der Times wächst um 30 Prozent jährlich, also schneller als Google und Facebook. Natürlich ist ein solcher Vergleich ein bisschen fadenscheinig. Gegen die beiden ist die Times ein Zwerg. Aber er sagt dennoch etwas aus, denn erstens waren es Facebook und Google, die das Nachrichtengeschäft auffraßen, und zweitens wächst die Times, eine 166 Jahre alte Firma, die allen Stürmen bis zur Selbstverleugnung widerstand, nun wie ein Silicon-Valley-Gigant."

Warum sind die Anhänger der No-Billag-Initiative so schlecht auf die Schweizer Radio- und Fernsehgesellschaft zu sprechen, fragt Michael Schönenberger in der NZZ und sieht Selbstüberschätzung, Gebührenpflicht und ein nur wenige Denkmuster abbildender Sendeplan des teuren Senders als mögliche Erklärung. Zumindest muss die SRG dringend "abspecken", meint er, denn: "Eine zu große, steuerfinanzierte SRG gefährdet die Medienvielfalt. Eine funktionierende Demokratie setzt viele und vor allem mit ihren unterschiedlichen politischen Haltungen präsente Medien voraus. Neben einer seriösen und fundierten Information, die gerade auch die SRG leistet, ist es diese Meinungsvielfalt, die grundlegend ist für die Meinungsbildung in der Demokratie. Der Staat sollte die Rahmenbedingungen also derart setzen, dass möglichst viele unabhängige Medien koexistieren können."

Und wer noch an Medienklatsch interessiert ist: Gabor Steingart, Chef des Handelsblatt, wird laut Spiegel online wegen eines recht drastischen Kommentars über Martin Schulz offenbar von Dieter Holtzbrinck gekippt. Holtzbrinck soll sich sogar bei Schulz entschuldigt haben.
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