9punkt - Die Debattenrundschau

Die Zeichen stehen auf Restauration

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.03.2018. ZeitOnline meldet die Freilassung der beiden Journalisten Murat Sabuncu und Ahmet Şık aus türkischen Gefängnissen. In der Welt erkundet Serhij Zhadan die postkoloniale Misere der Ukraine. In der taz stellt Isolde Charim klar: Pluralisierung ist keine Addition. Hans Christoph Buch berichtet in der FR, dass Haiti von #MeToo nur träumen kann. Die FAZ erlebt schockiert in den neuen Bouillons von Paris, dass die besseren Kreise wieder gegrillte Schweinsfüße mampfen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.03.2018 finden Sie hier

Ideen

Die taz bringt einen Auszug aus Isolde Charims Buch "Ich und die Anderen", in dem die österreichische Autorin über die Pluralisierung der westlichen Gesellschaften durch Migration nachdenkt und vor allem das Missverständnis ausräumen will, gesellschaftliche Vielfalt sei Addition. Als "gäbe es das Bestehende, das sind die Einheimischen, und zu denen käme dann einfach etwas Neues hinzu: die Türken, die Jugoslawen. Später die Serben, die Kroaten, die Kosovaren. Dann kamen die Polen, die Slowaken. Irgendwann dann 'die' Moslems. Und nun die Flüchtlinge. Aber Pluralisierung ist keine Addition." Aber: "Pluralisierung ist kein äußerlicher Vorgang. Die Vorstellung einer Addition ist trügerisch. Sie suggeriert nämlich, die einzelnen Posten der Addition blieben unverändert. Als ließe die Addition die Menschen, die sie verbindet, unverändert."

In der NZZ versucht Georg Kohler die flackernde Kompassnadel des Konservatismus zum Stehen zu bekommen, der sich in einer Zeit des beschleunigten Zivilisationswandels so schwer tut, seinen Bestimmungsort zu finden: "Konservative brauchen den Bezug auf Bestehendes, das alt genug ist, um es als gefestigte Tradition zu begreifen; auf Institutionen und Gewohnheiten, deren Wert selbst dort einleuchtet, wo ihnen Versprechungen entgegenstehen, die Besseres verheissen, aber auch nur verheißen. 'Rechne mit den Beständen' ist der konservative Imperativ. Seine Logik versagt, wo das, was besteht, nicht mehr die Chance hat, alt genug zu werden, um sich zu bewähren. Genau dies ist das Problem des aktuellen Konservatismus: Der Basisprozess der Gegenwart ist die unablässige Produktion neuer, hoch effektiver, wissenschaftlich gesicherter Techniken zur Überschreitung zuvor vorhandener Begrenzungen menschlicher Verfügungsmacht; eine Produktivität, die deswegen disruptiv genannt wird, weil sie so schnell das kürzlich Etablierte ausser Kraft setzt, dass keine Zeit mehr bleibt, es laufend anzupassen.
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Europa

Im Welt-Interview mit Inga Pylypchuk spricht der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan über den von Russland angezettelten Krieg im Donbass, der seit nunmehr vier Jahren das Land zermürbt. Und er spricht über den typischen Zustand der Ukrainer, "von allen verlassen, aber geschminkt": "Das ist ein posttotalitäres, postkoloniales Syndrom. Wir haben 1991 unseren Staat bekommen, aber wir wussten nicht, wie weiter. Wir haben unser Land nicht gefühlt. Und diese Nichtzugehörigkeit, die Abwesenheit einer Identität hat sich als der Kern unserer Misere erwiesen. Das Problem liegt doch nicht darin, dass es Nationalisten oder Separatisten gibt, sondern darin, dass die Mehrheit der Bevölkerung bis 2014 in einem undefinierten Zustand gelebt hat, in dem man keine Verantwortung übernehmen wollte."
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Stichwörter: Zhadan, Serhij, Ukraine, Donbass

Politik

In der FR schickt der Schriftsteller Hans Christoph Buch einen so engagierten wie traurigen Report aus Haiti: "Der Haiti-Besuch Wole Soyinkas, Literaturnobelpreisträger und mutiger Streiter für Freiheit und Demokratie, fiel zusammen mit einem Sex-Skandal bei der Hilfsorganisation Oxfam, deren Mitarbeiter Minderjährige missbraucht haben sollen. Kurz zuvor ging der Eiserne Markt, das für achtzehn Millionen Dollar renovierte Wahrzeichen der Stadt, in Flammen auf: Ein durch illegale Müllverbrennung verursachtes Feuer, für das keine Versicherung zahlt - in der Markthalle lagerten Waren und Geld. Der Staatschef Jovenel Moïse verspricht, den Wildwuchs in Haiti tätiger Hilfsdienste zu beschneiden, und vergisst dabei, dass sein Vorgänger und Ziehvater Michel Martelly, alias Sweet Mickey, sich als Rap-Sänger und Politiker einer obszönen Sprache bedient, die von Frauenverachtung nur so strotzt: Der #MeToo-Bewegung bleibt hierzulande viel zu tun, wo Vergewaltigung als Kavaliersdelikt und Kinderreichtum als Altersvorsorge gilt."
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Kulturmarkt

Allen, die Deutschland noch für eine Servicewüste halten, ruft Marc Reichwein aus der Welt "Nachtsprungverfahren" entgegen, dank dessen man sich über Nacht Bücher in jeden Dorf- und Kiezbuchladen liefern lassen kann, nicht nur zum verreisten Nachbar: "Die Kuriere sind Malocher, aber (noch) keine wöchentlich wechselnden Hungerlöhner und Subunternehmer, die von ihren Arbeitgebern zynisch als Lieferhelden gefeiert werden. Einige liefern schon seit über 20 Jahren Bücher aus. Sie wissen, wo eine Alarmanlage zu entschärfen ist, welche Buchhändler eine Toilette haben - und ob sie die im Fall der Fälle auch benutzen dürfen. Vielleicht liegt in dieser Mischung aus Kontinuität, Vertrauen und Zuverlässigkeit das Geheimnis dieser Branche, die jede Nacht in Läden eindringt, deren Individualität schon aus den Geschäftsnamen spricht."
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Stichwörter: Buchmarkt, Buchhandel, Toilette

Medien

ZeitOnline meldet, dass die Türkei zwei Journalisten der Zeitung Cumhuriyet freigelassen hat, den Chefredakteur der Zeitung, Murat Sabuncu, und den bekannten Investigativjournalisten Ahmet Şık: "Mitglieder von Amnesty International, die der Verhandlung als Prozessbeobachter beiwohnten, berichteten, dass der Herausgeber der Zeitung, Akın Atalay, weiter in Untersuchungshaft im Gefängnis Silivri bleibe."

Ulrich Gutmair bekundet in der taz sein Faible für Don Alphonso, dessen Upperclass-Blog "Die Stützen der Gesellschaft" die FAZ nicht mehr fortführen will: "Don Alphonso ist für den vermögenden Teil der deutschen Mittelklasse, was Didier Eribon für die französische Arbeiterklasse ist: Er drückt ihre Widersprüche aus, aber sie merken es nicht."

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Gesellschaft

"Die Zeichen stehen auf Restauration", erkennt Marc Zitzmann. Er war für die FAZ im Bouillon Pigalle essen, das gute alte Hausmannskost zu moderaten Preisen offeriert: "Nach all dem Fusionierten, Hybridisierten, Dekonstruierten der vergangenen Jahrzehnte lechzt es die Hauptstädter nach schlichten Speisen aus Großmutters Küche. Gerichte wie Œuf mayonnaise, Céleri rémoulade, Hareng pommes à l'huile, Saucisse purée oder Tête de veau avec Sauce Gribiche sind auch nie ganz von den Menüs verschwunden. Quartierskneipen mit oft ergrauten Wirtsleuten und Stammgästen haben sie weiter gepflegt, und in manchen von ihnen wie dem Lokal 'Au Petit Bar' bei den Tuilerien scheint die Zeit seit den fünfziger Jahren stillzustehen. Doch heute sind es die tonangebenden Kreise, die über gegrillte Schweinsfüße in Verzückung geraten."

SZ-Autor Peter Richter denkt zwischen Hummer- und Pommery-Stand über die Umbaupläne des KaDeWe nach.
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Stichwörter: Paris, Gastronomie, Restauration