9punkt - Die Debattenrundschau

Der kleine kirchliche Zuschuss

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.03.2018. Einen nicht ganz zu vernachlässigenden Aspekt der Kritik an Facebook thematisiert Sascha Lobo in Spiegel online: Sie wird oft von Konkurrenten vorgebracht. Und die "Transparenzberichte" der Plattformkonzerne, die einst unanständige Ansinnen der Behörden offenlegten, handeln heute nur noch davon, wie man den Löschungsvorgaben der Behörden gehorchte, kritisiert politico.eu. Der NouvelObs enthüllt, dass Julia Kristeva für Bulgarien spionierte - sie dementiert. In der FR beteuert der Theologe Manfred Lütz, dass die Katholische Kirche nichts mit Hexenverbrennungen zu tun hatte. Mit der Verbrennung von Juden aber vielleicht schon, fürchtet die Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.03.2018 finden Sie hier

Internet

Sascha Lobo macht in seiner Spiegel-online-Kolumne zum Facebook-Skandal eine Randbemerkung, die für die Debatte nicht ohne Belang ist: "Jede Zeile, die man auf Spiegel online lesen kann, also auch diese hier, ist letztlich werbefinanziert. Das ist normal - die weitaus meisten privaten Massenmedien sind werbefinanziert. Bei der weltweiten Debatte in Medien spielt das eine nicht geringe, seltener thematisierte Rolle: Facebook ist beim Kampf um Werbegelder ein Konkurrent."

Und noch einen problematischen Aspekt an der Debatte über die Internetriesen thematisiert in politico.eu William Echikson, ein ehemaliger Google-Manager, der für den "Tranparency report" der Firma zuständig war: Ursprünglich legte dieser Bericht dar, wieviele Behörden welche Anfragen an Google stellten. Heute sieht es anders aus: "Legaler Inhalt wird zensiert", schon um möglichen Strafen, wie sie etwa im deutschen NetzDG angedroht werden, zu entgehen. "Das Tempo privater Zensur ist erstaunlich - und wächst exponenziell." Und die Transparenzberichte dienen dazu, "die Behörden in Europa und anderswo zu überzeugen, dass der Internetriese die Niederschlagung illegalen Inhalts ernstnimmt. Je mehr er gelöscht hat, desto besser."

Verwundert beobachtet Ingo Dachwitz für Netzpolitik die Reaktion der deutschen Politik auf den Facebook-Skandal: "Betrachtet man den Diskurs in Deutschland, sticht zunächst ins Auge, wer daran nicht teilnimmt. Kein einziges Wort zum Thema ist bislang von dem Minister zu hören, in dessen Ressort Datenschutz schwerpunktmäßig fällt: Horst Seehofer. Aber auch andere Unionspolitiker halten sich auffällig zurück. Das ist kein Wunder, stehen CSU und CDU doch wie keine andere Partei in Deutschland für den Kurs, Datenschutz pauschal als Wirtschaftshemmnis zu verteufeln und nach Möglichkeit abzubauen."

Außerdem: Techcrunch meldet, dass Facebook seine Kooperation mit Drittanbietern zur Auswertung von Verfeinerung von Nutzerdaten schließt. Und die Soziologin und New York Times-Kolumnistin Zeynep Tufekci fürchtet im Gespräch mit Adrienne Fichter von republik.ch, dass gegen Faceebook nicht einmal die Idee der Datenportabilität (Nutzer verwalten ihre Daten selbst) hilft.
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Medien

Nach 1945 hatten kirchliche Medien wie der Rheinische Merkur und das Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt eine höhere Auflage als die Zeit, evangelische und katholische Kirchenblätter insgesamt eine Millionenauflage, schreibt Matthias Dobrinski in der SZ. Aber: "die Flaggschiffe von einst sind untergegangen. Das Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt ist in der Beilage Chrismon aufgegangen, der Rheinische Merkur/Christ und Welt ist mittlerweile ein Zusatz-Angebot für Zeit-Abonnenten. Die Internetplattformen evangelisch.de und katholisch.de haben zwar an Reichweite gewonnen, können aber so wenig die Verluste ausgleichen wie die konservative Internet-Präsenz kath.net. Zum Jahresende musste die konservativ-katholische Zeitung Tagespost aus Würzburg ihre Leser um Solidaritätsbeiträge anpumpen wie einst die linksalternative taz - die 10.000 verbliebenen Leser und der kleine kirchliche Zuschuss reichten zur Finanzierung nicht aus."
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Ideen

Der Nouvel Observateur hat gestern enthüllt, dass die prominente Poststrukturalistin Julia Kristeva während des Kalten Kriegs unter dem Decknamen "Sabina" für den bulgarischen Geheimdienst gearbeitet haben soll - Kristeva war 1965 nach Paris gekommen, um dort zu studieren. Dies bestätige ein Rekrutierungsnachweis aus dem Jahr 1971, den der Nouvel Observateur exklusiv von der offiziellen Kommission des Darjana Sigournost-Archivs (Auswärtiges Amt für bulgarische Staatssicherheit) bekommen hat. Ans Licht gekommen sei die Affäre, da Kristeva routinemäßig überprüft worden sei, als sie für das bulgarische Magazin Literaturen Vestnik schreiben wollte. Wie Le Monde meldet, hat Kristeva noch am selben Tag dementiert: "Diese Behauptung ist 'nicht nur grotesk und falsch', sondern auch 'diffamierend'". Jemand wolle ihr schaden. In der NZZ berichtet Ulrich M. Schmid ebenfalls über den Skandal.
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Europa

Schon Kinder, die aus der muslimischen Welt zu uns kommen, lernen, dass Juden und der jüdische Staat ihre "natürlichen Feinde" sind, schreibt Cem Özdemir in der Welt: "Unter Erdogan lässt die Türkei keine Gelegenheit aus, in den antisemitischen Chor der Feinde Israels einzustimmen. Dies bleibt natürlich nicht ohne Konsequenzen für die in Deutschland lebenden Muslime und ihre Kinder. Man muss nur den Fernseher einschalten und erfährt auf Arabisch oder Türkisch, welche neuen 'Massaker' Israel auf dem Gewissen hat. Von palästinensischen Raketen auf Israel, von Demokratie, Toleranz und Pressefreiheit in Israel erfährt man dagegen nichts."

Die Türkei ist inzwischen kein autoritär geführter Staat mehr, sondern ein totalitärer, meint der türkische Schriftsteller Nedim Gürsel in der NZZ. Damit gehe auch ein neuer Märtyrerkult einher, der nicht mal vor Kindern haltmache: "Dafür steht etwa die traurige Farce, mit welcher der 'Präsident auf Ewigkeit' der Regierungspartei AKP, der mit demselben Ewigkeitsanspruch auch über die Türkei herrscht, bei einem Besuch in Anatolien aufwartete. Erdogan umarmte dort ein kleines, in Uniform angetretenes Mädchen und wünschte ihm den Märtyrertod, auf dass es ins Paradies eingehen möge."
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Religion

Die Geschichte des Christentums gewalttätig? Die katholische Kirche in sexuellen Dingen nicht liberal? Alles Fake-News, behauptet der Psychiater und katholische Theologe Manfred Lütz in seinem gemeinsam mit dem Theologen Arnold Angenendt herausgegebenen und mit "historischen Quellen" belegten Buch "Der Skandal der Skandale" und im FR-Interview mit Joachim Frank. Lütz klärt auf, "dass gerade die Deutschen so ihre liebe Not mit der eigenen Geschichte haben, und da ist es erleichternd, die Last irgendwo anders abzuladen. Für diesen sozialpsychologischen Service wird dann die Kirche in Anspruch genommen. Laut einer Umfrage glauben die meisten Deutschen zum Beispiel, dass die Hexenverfolgungen im Mittelalter stattgefunden hätten und von der kirchlichen Inquisition durchgeführt worden seien. Beides ist eindeutig falsch. Die Forschung weiß heute, dass im Mittelalter keine Hexen verfolgt wurden, weil Hexenglaube als heidnischer Aberglaube galt. Erst vom Beginn der Neuzeit an wurden Hexen verfolgt, die Hexenprozesse wurden von der modernen weltlichen Justiz geführt, und zwar überwiegend in Deutschland - in katholischen Gebieten ebenso wie in evangelischen."

In der Welt erinnert Hannes Stein indes unter anderem an den historischen christlichen Antisemitismus: "Wer sich einen bildlichen Eindruck vom 'christlich-jüdischen Abendland' verschaffen will, sollte vielleicht an die Scheiterhaufen denken, die von der Inquisition in Spanien errichtet wurden - Scheiterhaufen, auf denen neben Ketzern auch conversos verbrannt wurden: Juden, die gezwungenermaßen zum Christentum konvertiert waren, aber immer noch heimlich am Freitagabend die Schabbatkerzen entzündeten. Wenn an solchen heimlichen Juden schon die Flammen leckten, streckten die Mönche ihnen Kruzifixe an langen Stangen zum Kuss entgegen. Die meisten conversos wandten angeekelt den Blick ab, und manche nutzten ihren letzten Moment, um auf das Kreuz zu spucken."
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Geschichte

Danijel Majic führt für die Jüdische Allgemeine ein Gespräch mit Daniel Cohn-Bendit über zwei Themen, über die er partout nicht sprechen will, 1968 und mehr noch linken Antisemitismus: "Entschuldigen Sie, aber da kriegen Sie mich nicht hin, zu derart pauschalen Aussagen! Da können Sie reden, wie Sie wollen. Ja, es gab unerträgliche Positionen in der Linken, das habe ich immer gesagt. Und zum Teil hatten sie eine antisemitische Dimension. Das gab es. Aber eben genauso, wie es ganz schlimme Positionen gibt, die in den jüdischen Gemeinden vertreten werden oder in Israel. Beides ist wahr!"
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Gesellschaft

Ulrike Herrmann rechnet in der taz nach einer Modellrechnung der Linkspartei vor, wie das mit dem Grundeinkommen funktionieren soll. Hier soll es für jeden Bürger bei 1.080 Euro monatlich liegen. Dabei würde "die Gesamtbelastung von Steuern und Versicherungen  50 Prozent bei kleinen Einkommen betragen - und 70 Prozent oberhalb einer Schwelle von 5.401 Euro. Dennoch würden die meisten Menschen profitieren, denn sie erhielten ja auch noch das Grundeinkommen, das von der Steuerbelastung wieder abgezogen wird. In der Summe würde sich jeder Single besser stehen, der weniger als 7.000 Euro brutto im Monat verdient." Und der Traum aller Bürokraten, dass jeder Bürger ihr verpflichtet ist, wird auch erfüllt. Jörg Wimalasena schreibt in einem zweiten Artikel über die Sehnsucht der SPD nach Abschaffung von Hartz 4. Und in der Welt fürchtet Dorothea Siems, dass private Unternehmen vom Markt verschwinden, wenn der Staat als Anbieter auftritt.
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