9punkt - Die Debattenrundschau

Paradox von gleichzeitiger Anmaßung und Demut

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.04.2018. Keine Kunst vermag, was Cristiano Ronaldo gelang, das Glücken mit dem Fall zu verbinden, konstatiert die NZZ. In der New York Times blickt Madeleine Albright in einen Abgrund namens Donald Trump. Bei app12 kritisiert die schweizerisch-jemenitische Politologin Elham Manea das Wohlwollen vieler Linker für das Kopftuch als Rassismus.  In der FAZ erzählt Ralph Ghadban die Geschichte der "arabischen Clans", die heute die Kriminalität in Berlin dominieren. Die Welt beklagt das Versagen des Berliner Städtebaus. Und in der taz und SZ ist es fünfzig nach 68.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.04.2018 finden Sie hier

Gesellschaft

Nicht nur das Tor war völlig verdient, sondern auch, dass es ins Feuilleton einzieht. Für Roman Bucheli in der NZZ ist Cristiano Ronaldos schon historischer Fallrückzieher gegen Juventus Turin



auch darum ein Moment der Kristallisation, weil hier, für einmal, ein Glücken im Fallen stattfindet: "Ein solches Paradox von gleichzeitiger Anmaßung und Demut vermag kein Künstler, weder Musiker noch Dichterin oder Maler, ins Werk zu setzen. Es gibt den musikalischen oder poetischen Fallrückzieher (noch) nicht. Näher als mit dem abgebrochenen, nach landläufigen Kriterien gescheiterten Werk kommt ihm keiner. "

(Via mena-watch.com) Die schweizerisch-jemenitische Politologin Elham Manea sieht das Kopftuch im Gespräch mit Helene Aecherli in der Schweizer Zeitungsapp 12app als sichtbaren Ausdruck eines um sich greifenden Islamismus und plädiert darum auch für ein Kopftuchverbot an Schweizer Schulen, um Mädchen Zeit zur Entscheidung zu lassen. Die Unterstüzung vieler Linker für Kopftuch und Islam hilft der rechten Ideologie des Islamismus bei der Ausbreitung, kritisiert sie: Es handle sich um eine "naive und vor allem eine rassistische Haltung. Sie macht ganze Gruppen zu Opfern, in unserem Fall 'die Muslime', die es um jeden Preis zu schützen gilt, und spricht den 'Beschützten' jegliche Selbstverantwortung ab. In diese Falle tappen nicht nur Feministinnen, sondern auch linke Intellektuelle sowie linke und liberale Politiker. Das macht sie unfähig, in Bezug auf die zu schützende Gruppe Probleme zu benennen. Aus Angst davor, diese Gruppe zu stigmatisieren, werden die Probleme unter den Tisch gewischt."

Die Geschichte der berühmten "arabischen Clans", die heute die Kriminalität in Berlin dominieren, liest sich im Interview, das Reiner Burger mit dem Migrationsforscher Ralph Ghadban für die FAZ führt, wie ein Lehrstück über gescheiterte Integration. Es handelt sich nicht einfach um Araber, sondern um eine kurdische Minderheit aus dem Libanon, die sogenannten Mhallamiye-Kurden, so Ghadban, die auch im Libanon Außenseiter waren: "Zunächst waren sie Deutschland sehr dankbar. Alle arabischen Länder hatten die Grenzen geschlossen, Deutschland aber war bereit, sie aufzunehmen. Im Libanon waren sie die Ärmsten der Armen, weshalb der gekürzte Sozialhilfesatz in Deutschland für sie einen sozialen Aufstieg ermöglichte und also einen starken Pull-Faktor darstellte, wie man in der Migrationsforschung sagt. In dieser Phase der Dankbarkeit gab es eine gute Chance, die ja noch recht überschaubare Zahl der Großfamilienmitglieder in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Aber sie wurde vertan, indem der Staat auf Restriktionen wie Arbeitsverbote setzte, obwohl klar war, dass die Leute bleiben würden."

Rainer Haubrich geißelt in der Welt die Inkompetenz der Berliner Stadtplanung - und das in einer Stadt, die jährlich um 80.000 Einwohner wächst. Gestaltungswille gibt es nur noch außerhalb der Politik, aber auch das bloße Volumen ist viel zu gering. Besonders im Wohnungsbau "geht es dermaßen langsam voran, dass jüngst gar die Chefs der landeseigenen Wohnungsunternehmen einen Brandbrief an Bausenatorin Katrin Lompscher schrieben. Die Misere wird exemplarisch deutlich in einer Zahl: Im vergangenen Jahr wurden 1,2 Prozent weniger Neubauwohnungen genehmigt als 2016."
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Medien

Judith Sevinç Basad greift bei den Salonkolumnisten die rätselhafte Liebe Alice Schwarzers zu Wladimir Putin auf, die so weit führte, dass sie nun bei emma.de die Russia-Today-Chefredakteurin Margarita Simonjan begründen ließ, warum die Russen "nicht mehr sein wollen wie ihr". "Es ist kein Ausrutscher. Bereits auf dem Höhepunkt der Krim-Krise brachte Schwarzer auf ihrem Blog einen Text, der sich liest, als habe sie ihn aus dem RT-Redaktionssystem geklaut. Titel: 'Warum ich trotz allem Putin verstehe!'"
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Europa

Auch der Versuch der Versöhnung zwischen Jeremy Corbyn und den Juden in der Partei ging schief. Corbyn feierte Pessach bei der linken jüdischen Gruppe Jewdas, die allerdings Israel kurz zuvor als "dampfendes Schmutzwasser" bezeichnet hatte, berichtet  Daniel Zylbersztajn in der taz: "David Hirsh, Soziologe am Goldsmiths-College der Universität London und seit mehr als zwei Jahrzehnten den Vorurteilen gegen Juden und Israel auf der Spur, findet Corbyns Besuch bei Jewdas keineswegs unschuldig. 'Der jüdische Antizionismus ist in linken Kreisen oft wichtig', sagt Hirsh: Damit sichere man sich gegen die Anschuldigung des Antisemitismus ab."

Viktor Orban pfeift trotz Milliarden Subventionen auf alle Kritik der EU, errichtet Zäune, besinnt sich zurück auf den Nationalismus, höhlt Demokratie und europäische Idee aus - und Europa schaut tatenlos zu, schreibt Peter Münch in der SZ: "Nicht heimlich, sondern offen und prallstolz wird all dies betrieben, und natürlich konnte das auch niemandem in der EU verborgen bleiben. Zahlreiche Vertragsverletzungsverfahren sind gegen Ungarn anhängig - wegen der Verweigerung der Solidarität bei der Flüchtlingsverteilung ebenso wie wegen mehrerer höchst zweifelhafter Gesetzesvorhaben. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat Orbán deshalb schon einmal mit den Worten 'Hallo Diktator' begrüßt. Aber das war natürlich nur ein Späßchen, Schulterklopfen inklusive."

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Politik

Nach eine katastrophalen Bilanz der bisherigen Regierungszeit Donald Trumps, die überdies in einem Umfeld überall aufploppender Autokratien stattfindet, schreibt Madeleine Albright, Bill Clintons ehemalige Außenministerin, in der New York Times: "Ich bin achtzig Jahre alt, aber ich fühle mich immer noch beschwingt, wenn ich junge Leute sehe, wie sie für das Recht eintreten, ohne schusssichere Weste studieren zu können. Wir sollten auch über die Definition von Größe nachdenken. Verdient eine Nation dieses Etikett, wenn sie sich mit Diktatoren und Autokraten verbündet, Menschenrechte ignoriert, die Jagdsaison auf die Umwelt eröffnet und Diplomatie verschmäht, in einer Zeit, wo praktisch jedes Problem uinternationale Kooperation verlangt?"
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Geschichte

Die taz macht ein kleines Dossier zu 1968. Die Dramaturgin Brigitte Landes erzählt im Interview mit Jan Feddersen , dass sie den vielgefeierten "sexuellen Aufbruch" damals schon zwiespältig fand. "Die Pille war nützlich, aber in die Frankfurter Studentenkeller konnte man als Frau kaum einen Fuß setzen, ohne rüde angegraben zu werden. Die Männer wussten, dass es Verhütung für Frauen gibt, nicht nur das Kondom. Ich bin immer wieder ganz schnell rausgegangen. Ich wollte kein Freiwild sein. Die Universität war ein neues Terrain für mich. Ich kam von einem Mädchengymnasium und musste die erwachsene Übergriffigkeit von Männern erst mal parieren lernen."

In dem Dossier erinnert außerdem Wolf-Dieter Vogel an das Massaker an Studenten in Mexiko-Stadt. Und Gabriele Lesser schreibt über die von der KP betriebene Verjagung der Juden aus Polen im Jahr 68.

Das Gejammer der Alt-68'er kann Heribert Prantl in der SZ allerdings nicht mehr hören - so viel haben sie bewegt, meint er: "Jürgen Habermas wurde 1988 gefragt was von '68 geblieben sei. Er hat die bisher beste Antwort gegeben: 'Frau Süßmuth' hat er gesagt. Er meinte die Fundamentalliberalisierung der Republik. Frauenemanzipation, Ökologie- und Anti-Atombewegung, die Friedensbewegung, eine entspießerte Sexualmoral, die umfassende Demokratisierung der Gesellschaft - das alles ist Erbe von '68, auch der klare scharfe Blick auf den Nationalsozialismus. (...) Der kulturelle Umbruch von '68 war und ist der nachhaltigste Umbruch der Gesellschaft seit 1945. Die Kraft des Umbruchs zeigt sich darin, wie sich Rechtskonservative und AfDler daran abarbeiten."

Der ukrainische, an der Viadrina lehrende Historiker Andrii Portnov erzählt in der NZZ die überaus komplizierte Geschichte der ersten ukrainischen Unabhängigkeit vor hundert Jahren: "In den Revolutionsjahren 1917 bis 1921 wurden die ukrainischen Gebiete zum Schauplatz von politischen Projekten - von Konservativen und Monarchisten bis zu Sozialisten und Anarchisten. Die Ukrainische Volksrepublik in Kiew wurde von den Bolschewiki besiegt. Die Westukrainische Volksrepublik in Lwiw musste sich den polnischen Truppen unterwerfen."
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