9punkt - Die Debattenrundschau

Vernetzung verstört

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.04.2018. Mark Zuckerberg ist nach wie vor in allen Medien. Zeit, Facebooks Macht zu zerschlagen, meint die Welt. Sascha Lobo schreibt in seiner Spiegel-online-Kolumne, dass es um weit mehr als um Datenschutz geht. Die taz analysiert den Double Bind, in den die AfD die Medien bringt. In Frankreich wird weiterhin über den Laizismus des christlichen Präsidenten Macron debattiert. Der Rassismus beginnt in den USA laut einer New-York-Times-Reportage bei der Geburt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.04.2018 finden Sie hier

Internet

Mark Zuckerberg ist gestern und vorgestern von amerikanischen Abgeordneten in die Mangel genommen worden. Die Medien sind voll mit diesem Thema (hier das ausführliche, auf dem Live-Blog beruhende Resümee im Guardian). Sascha Lobo meint in seiner Spiegel-online-Kolume, dass Facebook etwas viel Umfassenderes als nur ein "soziales Netz" sei und darum einer ganz neuen Art von Regulierung bedürfe: "Meine These ist, dass Facebook eine neue soziale Infrastruktur ist, die ein neu entstandenes, gesellschaftliches Bedürfnis erfüllt. Sehr viele Menschen wollen und brauchen Facebook offensichtlich. Aber ohne Verständnis dieser neuen Funktion geht fast jede Kritik, fast jede Problemanalyse und mit Sicherheit jede Regulierung fehl - im besten Fall. Im schlimmsten Fall werden die enormen, durch Facebook entstandenen Probleme verstärkt."

Es ist an der Zeit, Facebooks Macht zu zerschlagen, schreibt Ansgar Graw in der Welt, denn wenn, wie Mark Zuckerberg in seiner Anhörung erklärte, Algorithmen entwickelt werden, die Inhalte in gute und schlechte unterteilen, betreibt er nicht anderes als Gesinnungszensur, so Graw: "Was ist mit Inhalten, die vielleicht nicht 'schlecht', sondern von den verantwortlichen Programmierern schlicht als 'weniger gut' angesehen werden? Im derzeitigen Silicon-Valley-Milieu, das Zuckerberg zu Recht als 'extrem linkslastig' beschrieb, dürfte eine Bewegung gegen Massentierhaltung ein freundlicheres Umfeld erwarten als eine Bewegung gegen Abtreibung. Wer dies in Ordnung findet, möge den Gedanken zulassen, dass ein privater Konzern wie Facebook gekauft werden könnte von amerikanischen Milliardären, die dem gegenteiligen Weltbild nachhängen - und dann möglicherweise anderen Kriterien folgen, was als gut und was als schlecht anzusehen ist."

Netzpolitik veröffentlicht eine Reihe von Fragen an Mark Zuckerberg für den Fall, dass er sich auch mal zu einer Befragung im Bundestag herablässt, zwei davon:
"- Mark Zuckerberg sagt, er wolle die EU-Datenschutzgrundverordnung 'im Geiste' auch weltweit umsetzen. Wie passt das zu Facebooks Lobbyanstrengungen in Kalifornien gegen strengere Datenschutzregeln?
- Gleichzeitig hat Mark Zuckerberg Interesse geäußert, Facebook in China zugänglich zu machen, was wahrscheinlich nicht ohne Selbstzensur ginge. Wird es zukünftig Facebook-User verschiedener Klassen geben? Woran stellt Facebook fest, aus welchem Land ein Nutzer kommt?"
Archiv: Internet

Medien

Die AfD leiste bereits jetzt eine sehr professionelle Pressearbeit, schreiben Anne Fromm, Andreas Speit und Malene Gürgen in der taz. Vor einiger Zeit kam die Meldung, dass die AfD sogar an einem eigenen "Newsroom" mit 25 Redakteuren arbeite, der jetzt offenbar aufgebaut wird und auch die sozialen Medien bespielen soll, denn die die Strategie sei paradox: Die AfD "will in den etablierten Medien Gehör finden und stellt dafür Personen ein, die wissen, wie seriöser Journalismus funktioniert. Gleichzeitig arbeitet sie seit Jahren daran, das Vertrauen in ebenjene etablierten Medien zu unterhöhlen: Dass diese die Helfershelfer von Merkels 'Umvolkung' sind, gehört spätestens seit 2015 zur zentralen Erzählung von Pegida und AfD. Das bringt die Medien in eine neue und schwierige Lage: Einerseits untergräbt die AfD ihre Glaubwürdigkeit, andererseits ist die Partei selbst oft Gegenstand ihrer Berichterstattung."
Archiv: Medien
Stichwörter: AfD, Pegida, Soziale Medien

Gesellschaft

In der Zeit antwortet Bernd Ulrich auf Jens Jessen, der ebendort letzte Woche den "Triumph eines totalitären Feminismus" im Gefolge der #MeToo-Bewegung kritisiert hatte. "Macht es uns nicht freier, ist es nicht erwachsener und auch weniger stressig, freiwillig in die Verantwortung für das Patriarchat einzutreten, als ständig alle Vorhaltungen zurückzuweisen und zu schreien: 'Ich war's nicht, Weinstein ist es gewesen!'?"

Im Tagesspiegel lässt die DDR-Bürgerrechtlerin und "Erklärung 2018"-Initiatorin Vera Lengsfeld alle Kritik, unter anderem von Caroline Fetscher (unser Resümee), an sich abprallen und versucht zu konkretisieren, worum es ihr in den beiden Sätzen eigentlich geht: "Wir wollen ein Einwanderungsgesetz, für das die Politik seit Jahrzehnten zu feige war. Wir wollen Hilfe zu denen bringen, die sie am nötigsten haben, also zu Frauen, Kindern, Alten, Kranken. Das, was bisher stattfindet, ist ein darwinistisches Wettrennen an die deutsche Grenze, das überwiegend rücksichtslose junge Männer gewinnen."

Schützenhilfe bekommen die Unterzeichner derweil von Marc Felix Serrao in der NZZ: "Überraschend ist weniger die schrille Kritik, sondern vielmehr die Gleichgültigkeit der Zielpersonen. Wenn sich Zehntausende Bürger, unter ihnen viele Akademiker, namentlich in dieser Weise bekennen, dann zeichnet sich ein Strukturwandel der Öffentlichkeit ab. Es gibt eine regelrechte Bekennerlust, der mediale Schmähungen und die üblichen, ihnen nachgelagerten Angriffe, etwa in Form von besorgten Anrufen aus dem Antifa-Lager beim Arbeitgeber, inzwischen egal zu sein scheinen."

Mit Rechten reden - schön und gut, dafür müssten sie aber mal die "Schmollecke" verlassen - und dumme Provokationen unterlassen, meint Peter Zudeick im DLF-Kultur: "Wer aber sagt: 'Die Politik hat die Entscheidung getroffen, Deutschland zu fluten', wie Safranski das getan hat, muss wissen, dass er nicht nur Ressentiments bedient, sondern auch ein Vokabular benutzt, dass nahe an faschistischem Sprachgebrauch ist. Man kann so was auch Hetze nennen."

Weiteres: Im Magazin der New York Times bringt Linda Villarosa eine Riesenreportage über Kinder- und Müttersterblichkeit bei Schwarzen in den USA. Die Kindersterblichkeit ist mehr als doppelt so hoch wie bei den Weißen - und das auch bei Mittelschichtkindern. Und was die Müttersterblichkeit angeht, "sind die USA eines von nur 13 Ländern in der Ländern in der Welt, wo die Rate der Tode im Kontext der Schwangerschaft oder Geburt heute schlimmer ist als vor 25 Jahren." In Sachen Gleichberechtigung hat Israel einigen Nachholbedarf - ganz gleich in welchem Kulturkreis, schreibt die Journalistin Sarit Yishai-Levi in der Berliner Zeitung.
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Kaum geschieht ein Anschlag, ein Attentat oder ein Amoklauf, wie gerade in Münster, "regiert der Reflex des kommentierenden Sofortismus, die Ad-hoc-Deutung, die eine Situation der elementaren Ungewissheit durch scheinbar definitive Interpretationen überspielt", schreibt Bernhard Pörksen in der Zeit. Jeder weiß, vermutet, spekuliert. In eine Filterblase zurückziehen, kann sich mit seiner Deutung aber niemand mehr, und auch daher rührt die "große Gereiztheit", der Pörksen gerade ein Buch gewidmet hat. "Die Irritationen erreichen einen in der eigenen Timeline, als Push-Nachricht auf dem Smartphone, in den Kommentarzeilen zu Artikeln, die mit einem einzigen Link womöglich in ein ganz anderes Realitätsuniversum führen. Kurzum: Vernetzung verstört. Die Sofortkonfrontation mit immer anderen Ansichten - ich spreche in Analogie zur Filterblase vom Filter-Clash - ist die Urerfahrung des digitalen Zeitalters. Sie intensiviert die ohnehin erlebbare Gereiztheit gerade im Falle von Extremereignissen noch einmal massiv."

Dank medizinischer Fortschritte gibt es kaum noch natürliche Selektion beim Menschen, wir leben immer länger, gleichzeitig nimmt allerdings die Zahl schädlicher Mikro-Beeinträchtigungen im Genpool für zukünftige Generationen zu, erklärt der Evolutionspsychologe und Anthropologe John Tabby in der NZZ und kommt mit einem eigenwilligen Vorschlag daher. Durch die Reparatur beschädigter DNS und gentechnische Eingriffe in die Keimbahn will er genetische Erkrankungen besiegen: "Eltern hätten die Wahl, ob ihr Nachwuchs aus den gesündesten Genen erzeugt werden soll, statt nach dem Zufallsprinzip einer wachsenden Zahl schädlicher Gene ausgesetzt zu werden. Die gentechnische Reparatur träte an die Stelle der alten Grausamkeit der natürlichen Auslese, die der Entropie den Weg verstellt, indem sie die Lebewesen wegen ihrer Gene quält."

Außerdem: Michael Wuliger wundert sich in der Jüdischen Allgemeinen, dass Spiegel-online-Kolumnist Jakob Augstein augerechnet Céline als Kronzeugen seines Pazifismus bemüht.
Archiv: Ideen

Politik

Laut Amnesty-Jahresbericht sind 2017 mindestens 993 Menschen hingerichtet worden, die Hälfte davon im Iran und immerhin 36 weniger als 2016. Die Dunkelziffer dürfte allerdings wesentlich höher sein - denn China macht keine offiziellen Angaben, meldet Spiegel Online: "In der Volksrepublik werden Schätzungen zufolge mehr Todesurteile vollstreckt als im Rest der Welt zusammen. Es sei davon auszugehen, dass in China die Todesstrafe weiterhin 'tausendfach verhängt und vollstreckt wird', teilte Amnesty mit. Die Daten über die Anwendung der Todesstrafe würden jedoch als Staatsgeheimnis eingestuft."
Archiv: Politik
Stichwörter: Todesstrafe, China

Europa

Emmanuel Macrons Rede vor den katholischen Bischöfen erhitzt weiter die Gemüter in der französischen Presse. Pierre Juston veröffentlicht in Marianne einen kritischen öffentlichen Brief an den Präsidenten, wo er auch auf den jüngsten Terroranschlag in Carcassonne zurückkommt: "Monsieur le Président de la République, Sie können nicht gleichzeitig des (Gendarmes Arnaud) Beltrame gedenken, der sich für ein kollektives Ideal der Republik angesichts der schlimmsten religiösen Gewalt opferte, und irgendein ein 'Band' zwischen der Republik und einer Religion reparieren wollen."

Der katholische Publizist Henri Tincq meint dagegen in slate.fr, dass Macron den Laizismus keineswegs in Frage gestellt habe: "Einem Kampf- und Abgrenzungslaizismus hat Emmanuel Macron - ehemaliger Jesuitenschüler und Christ, der sich als Jugendlicher taufen ließ - einen Laizismus des Dialogs und der Anerkennung gegenübergestellt."
Archiv: Europa