9punkt - Die Debattenrundschau

Von Blöckchen haltenden Höflingen notiert

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.04.2018. Wer das Kopftuch verbieten will, muss auch Kippa und Castingsshows verbieten, fordert Khola Maryam Hübsch auf Zeit Online. Und wer das Kopftuch kritisiert, dem wird sofort Rassismus vorgeworfen, ärgert sich die taz. Der Guardian erzählt, wie Cambridge Analytica und Co. von Nazis Propagandatechniken lernen. Gebt Katalonien bloß nicht noch mehr Autonomie, ruft der katalanische Schriftsteller Ignasi Ribo auf politico.eu. Die NZZ kritisiert die quasireligiöse Kapitalismuskritik der Linken. Und von 68 ist auch nicht viel geblieben, meint sie.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.04.2018 finden Sie hier

Gesellschaft

Sobald Feministinnen das Kopftuch als Symbol der patriarchalischen Unterdrückung von Frauen kritisieren, wird ihnen von Linksidentitären Rassismus und "toxischer Feminismus" vorgeworfen, schreibt Ulrich Gutmair in der taz kopfschüttelnd. Auch laizistisch argumentierende Muslime gelten den Verfechtern der neuen Identitätspolitik plötzlich nicht mehr als authentische Muslime, so Gutmair weiter: "Nicht das Kopftuch als solches markiert demnach seine Trägerin als gläubig, demütig, im gebärfähigen Alter befindlich oder 'rein', sondern die Kritik, dass nicht alle Frauen, Mädchen, Kinder freiwillig das Tuch tragen. Nicht der diskriminierende Umgang mancher Familien mit ihren Mädchen ist demnach ein Problem. Vielmehr schafft, wer den familiären Druck auf Frauen und Mädchen benennt, angeblich einen Anlass für Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft."

Jede kopftuchtragende Frau kennt Pöbeleien im Alltag, Job- und Wohnungsabsagen, schreibt Khola Maryam Hübsch, selbst Muslimin, auf Zeit Online und wirft all jenen, die Kopftuch und Kippa mit unterschiedlichen Maßstäben begegnen "Heuchelei" vor: "Ausgerechnet dieses Randphänomen, zu dem es nicht mal Zahlen gibt, soll zu einer Sexualisierung von Kindern führen? In Zeiten von frauenverachtenden Castingshows, sexualisierender Mode, geschlechterspezifischem Spielzeug und einer in Teilen sexistischen Populärkultur spricht niemand über die nachgewiesenen Auswirkungen auf die Kinderzimmer, und niemand fordert ein Verbot dieser Massenphänomene." Das Kindeswohl bleibt in der Debatte in jedem Fall auf der Strecke, meint Inge Günther in der FR: "Manche stockkonservativen Familien schicken schon jetzt ihre Töchter lieber nur mit Mütze statt Kopftuch in die Schule, andere wappnen sich erst recht gegen westliche Einflüsse."

Ebenfalls auf Zeit Online erläutert die Psychologin und Antisemitismus-Expertin Marina Chernivsky im Gespräch mit Parvin Sadigh, wie an Schulen Antisemitismus vorgebeugt werden könne: Nur Nationalsozialismus und Nahost-Konflikt auf dem Lehrplan reiche nicht mehr, meint sie.

Im postfaktischen Zeitalter stehen sich nicht mehr links und rechts, sondern wahr und falsch gegenüber, meint Jonathan Freedland im Guardian mit Blick etwa auf Trumps Neigung, sämtliche Angriffe, wie jüngst auch nachweisbare Anschuldigungen von Ex-FBI-Direktor James Comey, als Lüge abzutun: "Das sind Symptome einer Post-Wahrheitskrankheit, die als 'Stammes-Epistemologie' bezeichnet werden kann, in der die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage davon abhängt, ob die Person, die sie macht, uns oder den Gegnern zugerechnet wird. Laut dem Autor David Roberts wird 'Information nicht auf der Übereinstimmung mit den üblichen Beweisstandards oder Übereinstimmung mit einem gemeinsamen Weltverständnis bewertet, sondern darauf, ob es die Werte und Ziele des Stammes unterstützt und von Stammesführern bewilligt wird. 'Gut für unsere Seite' und 'wahr' beginnen sich zu verwischen."

Weiteres: Wie die japanische Schamkultur Japanerinnen nach sexuellen Übergriffen von Anzeigen abhält, berichtet Martin Fritz in der taz: "Auf einen stinkenden Eimer gehört ein Deckel', lautet eine japanische Redewendung. Was peinlich ist, wird versteckt."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Die Kapitalismuskritik der Linken geht Reinhard Mohr auf die Nerven. Was soll denn dabei herauskommen, wenn man die - unvollkommene, immer kritikwürdige - Wirklichkeit des Kapitalismus mit der sozialistischen Utopie vergleicht, die es irgendwie noch nie in die Realität geschafft hat, fragt er in der NZZ. Rainer Zitelmanns neues Buch "Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung" gibt ihm einige Antworten: Da spiele das Überlegenheitsgefühl des Akademikers eine Rolle. "Dazu kommt die rituelle Verdammung des 'Profitdenkens' und der 'Ökonomisierung aller Lebensbereiche'. Sie entspringt einer quasireligiösen Verachtung des Gelderwerbs, des wirtschaftlichen Denkens überhaupt, in dem man nur Oberflächlichkeit, Materialismus, Vulgarität und potenzielle Barbarei erkennen kann. Letztlich geht es um die Lufthoheit der Metaphysik, den weltumspannenden Entwurf".
Archiv: Ideen

Politik

Seit knapp siebzig Jahren herrschen die Kims in Nordkorea - und auch unter Kim Jong-un wird die Diktatur zunehmend absurder, schreibt Christoph Giesen im "Buch zwei" der SZ: "Wie Großvater und Vater gibt er jeden zweiten Tag 'Vorortanweisungen'. Mit seinem Stab taucht er in einer Fabrik oder auf einer Baustelle auf. Jedes Wort, das er spricht, wird von Blöckchen haltenden Höflingen notiert, eine eigene Behörde wacht über die Umsetzung der Anweisungen. Wenn Kim seine Neujahrsansprache hält, gehen sämtliche Ministerien für Wochen in Klausur und brüten über dem Text, um ihn korrekt zu erfüllen. Alle wichtigen Kim-Texte müssen die Nordkoreaner auswendig lernen; abends sieht man in Pjöngjang Menschen unter Straßenlaternen stehen, die die Texte lesen, weil zu Hause ständig der Strom ausfällt. Stühle, auf denen Kim Jong-un einmal saß, werden mit einem kleinen Täfelchen versehen, drauf sitzen darf keiner mehr." Wie Südkorea zu einer Musterdemokratie und einem der reichsten Länder wurde, erzählt Christoph Neidhardt, ebenfalls in der SZ.
Archiv: Politik
Stichwörter: Nordkorea, Kim Jong-Un, Südkorea

Internet

Die russische Medienbehörde Roskomnadsor versucht seit Tagen erfolglos den von Pawel Durow gegründeten Chatdienst Telegram zu sperren, da sich Durow weigerte, dem Inlandgeheimdienst FSB geheime Schlüssel auszuhändigen, die es ermöglichen, die verschlüsselte Kommunikation zwischen Telegram-Nutzern abzuhören, erzählt Maxim Kireev auf Zeit Online amüsiert darüber, wie die russischen Behörden vorgeführt werden: "Im nächsten Schritt erweiterte Roskomnadsor die Sperren auf über 18 Millionen IP-Adressen. Doch statt Telegram traf es hundertfach unbeteiligte Websites und Unternehmen, die ihre Angebote auf den gleichen Servern wie der Chatdienst gehostet hatten. Etwa in Datenzentren von Google oder Amazon. So wurde unter anderem kurzzeitig die Website des Kreml-Museums lahmgelegt, die Rabattkartensysteme einer Supermarktkette funktionierten plötzlich nicht mehr, und zahlreiche Apps wurden eingeschränkt."

Unheimlich liest sich, was die Journalistin Emma Briant im Guardian nach ihrer zehnjährigen Recherche aus den Propagandamaschinerien von Cambridge Analytica, der Muttergesellschaft SCL und Leave.EU erzählt. Andy Wigmore, der ehemalige Kommunikationsdirektor von Leave.Eu vertraute ihr etwa seine Bewunderung für Nazi-Propagandatechniken an: "Nehmen Sie mal all den abscheulichen Horror und diese Sachen weg - dann war es sehr schlau, wie sie das schafften, was sie getan haben. In seinem reinen Marketing-Sinn können Sie die Logik erkennen, was sie sagten, warum sie es sagten, und wie sie Dinge und die Bilder präsentierten." SCL-Chef Oakes sprach mit Briant ebenfalls über Nazi-Deutschland und behauptete: "dass Adolf Hitler 'überhaupt keine Probleme mit den Juden gehabt hätte'. Er sagte, Hitler habe jüdische Menschen benutzt, um 'einen künstlichen Feind einzusetzen. Nun, genau das hat Trump getan. Er nutzte einen Muslim.'"
Archiv: Internet

Europa

Gebt Katalonien bloß nicht mehr Autonomie, ruft der katalanische Schriftsteller Ignasi Ribo auf politco.eu nach Spanien, denn schon die Zugeständnisse der letzten vierzig Jahre haben die Spannungen nur verschärft und das gesamte Verfassungssystem außer Kraft gesetzt: "Die meisten politischen Parteien in Spanien, sowohl rechts als auch links, sind dem jahrhundertealten Projekt des Aufbaus eines zentralisierten Einheitsstaates nach dem Vorbild Frankreichs sehr verbunden. Alle von Katalonien erlangten Zugeständnisse würden als nicht tolerierbarer Schritt in die falsche Richtung angesehen. Dank der Unterstützung einer demografischen Mehrheit im Land wären diese Parteien fähig, jeden Autonomiestart, den die Katalanen auf dem Papier machen können, zu blockieren oder zu neutralisieren. Gleichzeitig wird eine Zunahme der administrativen oder finanziellen Autonomie die Mehrheit der Katalanen nicht befriedigen können. Viele würden bitter enttäuscht sein, dass ihr Kampf sie in denselben Käfig zurückgebracht hätte, aus dem sie zu entkommen versuchten."
Archiv: Europa

Medien

Noch mehr Sparen geht nicht, beteuern ARD und ZDF nachdem sie die Frist, bis Freitag neue Sparpläne vorzulegen freistreichen ließen. Stattdessen fordern sie, dass der Rundfunkbeitrag bis 2021 um bis zu zwei Euro steigt, meldet die FAZ. Immerhin sei der seit 2009 nicht gestiegen: "Was sie nicht sagen, ist, dass die Gebührenreform - der Wechsel von der gerätebezogenen Gebühr zum Beitrag, der pro Wohnung, pro Mitarbeiter und nach der Anzahl von Betriebsstätten gezahlt werden muss - ihre jährlichen Einnahmen von rund sieben Milliarden auf mehr als acht Milliarden Euro anschwellen ließ. Sie haben mehr Geld denn je. Die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs Kef hat errechnet, dass die Sender in den nächsten beiden Jahren auf einen Überschuss von 545 Millionen Euro kommen."
Archiv: Medien

Geschichte

Die NZZ widmet ihr Literatur- und Kunst-Dossier heute den 68ern. Nicht alle Artikel sind online. Lesen kann man Thomas Ribis Artikel, der kaum ein gutes Haar an den Revolutionären lässt: Statt die Chance zu nutzen, sich zu reformieren, sei die Linke von Beginn der Proteste an in "fundamentalistischem, reaktionären Marxismus" erstarrt und habe außer ein bisschen Selbstbefreiung und freie Liebe nichts hinterlassen, meint er, während er die Ereignisse nach dem Tod von Benno Ohnsorg nachzeichnet: "Der Großteil der Bürokraten, gab Rabehl zu Protokoll, werde nach Westdeutschland emigrieren müssen. Verwendung besteht für sie keine mehr, denn Polizei und Justizwesen werden abgeschafft. Damit sind allerdings bei weitem noch nicht alle Probleme gelöst. Denn leider seien nicht alle Menschen geeignet für die geplante 'antiautoritäre Umerziehung' in einer 'unabhängigen Assoziation freier Individuen'. Und wer ungeeignet ist, dem müsse halt die Möglichkeit gegeben werden, auszuwandern. Rabehl dachte neben den 'funktionslosen Politikern und Bürokraten' vor allem an ältere Leute und an die 'frustrierten Frauen der städtischen Bürokratie'. So geht das. Was stört, muss weg."

Der einzige Erfolg der 68er war die Frauenbewegung, schreibt indes Hannelore Schlaffer, ohne sich besonders gern zu erinnern: "Frauen durften nicht prüde sein; jedes Nein stand unter dem Verdacht einer nicht bezwungenen Verklemmtheit. Wie alles an der Emanzipation der Frauen, so war auch die zur freien Liebe nichts weniger als Vergnügen, sie war ein verquältes Experiment. Was brave Bürger, die gebannt das Treiben der Studenten verfolgten, als Orgie perhorreszierten, war oft nichts anderes als die mit schwerem Herzen vollzogene Bestätigung eines neuen Sittenkodexes."
Archiv: Geschichte