9punkt - Die Debattenrundschau

Stolpern wir durch die Dunkelheit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.04.2018. Die NYRB findet die Banlieue von Paris inzwischen so aufregend wie New Yorks East Village in den neunziger Jahren. In der taz erklärt der Historiker Pap Ndiaye, warum die kommunitaristischen Black Studies in Frankreich einen schweren Stand haben. Rechtsextreme und Islamisten teilen nicht nur ein antiwestliches Denken, sondern auch die Technik der strategischen Polarisierung, weiß Julia Ebner in der FR. Mit täglich tausend Stück Plastikmüll auf dem Henderson läutet die SZ das Anthropozän ein.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.04.2018 finden Sie hier

Europa

Die Extremismusforscherin Julia Ebner erkennt im FR-Interview mit Arno Widmann ziemlich viele Punkte, in denen sich Islamisten und Rechtsextreme zusammenarbeiten. So bekam der Pariser Attentäter, der im koscheren Supermarkt vier jüdische Geiseln ermordete, seine Waffe von einem Identitären aus Lille. Sie teilen aber auch gemeinsame Ziele und die Technik der strategischen Polarisierung: "Islamisten und Rechtsextreme sind sich einig in: Antiliberalismus, Antimultikulturalismus, Antisemitismus, Antiindividualismus und Antifeminismus... Wer Islamismus und Rechtsextremismus nur für sich betrachtet, der versteht sie nicht. Sie spielen einander die Bälle zu. Jeder von ihnen betreibt nicht nur das eigene, sondern auch das Geschäft des anderen. Jeder Anschlag der einen Seite dient der anderen Seite als Begründung für die eigene Wut. Die richtet sich in beiden Lagern auf denselben Feind."

In der taz fürchten Jaroslaw Kuisz und Karolina Wigura, dass die polnische PiS-Partei mit ihrer Politik der Angst das Land nachhaltig vergiftet hat. Die Krise der Demokratie in Polen wird nicht mit der nächsten Wahl beendet sein: "Aus der Sicht unserer Generation offenbarte das Jahr 2015 eine tiefgreifende politische, intellektuelle und moralische Krise der liberalen Eliten. Zum ersten Mal seit 1989 befinden wir uns in einer Ära wahrer Ungewissheit. In was für einem politischen System leben wir überhaupt? Was geschieht mit der EU? Entsprechend einer fast zweihundert Jahre alten Metapher von Alexis de Tocqueville stolpern wir durch die Dunkelheit."

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Medien

Ungläubig berichtet Axel Weidemann in der FAZ, dass sich das an ARD und ZDF angegliederte Institut für Rundfunktechnik den Streit mit dem Anwalt beigelegt hat, der mit den Patenten des IRT Unsummen in die eigene Tasche gewirtschaftet haben. Er soll sechzig Millionen zurückzahlen, dann wird der Skandal zu den Akten gelegt: "Fest steht nun zweifelsfrei, dass der beratende Anwalt mit den Patenten des IRT ein Vermögen gemacht hat. Unklar bleibt jedoch, wie viel man im Vorstand des IRT davon wusste - und warum die Kontrollgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht darauf aufmerksam wurden."
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Religion

Die FAZ räumt die ganze erste Seite ihres Feuilletons für ein Interview mit Georgi Schewkunow frei, bekannt als Bischof Tichon und Putins Beichtvater. Darin säuselt er, dass er nicht gegen die Freiheit der Kunst sei, sondern nur talentloses Herumrandalieren (damit meint er Pussy Riot), und den Anhängern konservativer Werte darf er sich auch empfehlen: "Unsere Begriffe stimmen mit denen westlicher Leute manchmal nicht überein. Wir lehnen nicht den Liberalismus im Sinn von Streben nach Freiheit ab, sondern den Anarchismus als Ideologie der Zerstörung der kulturellen und moralischen Lebensgrundlagen der Völker Europas. Die konservativen Werte, wie Sie sich ausdrücken, liegen für uns in der Freiheit der Persönlichkeit und in der Erhaltung der christlichen Identität Europas."
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Ideen

Im taz-Interview mit Sabine Seifert spricht der Historiker Pap Ndiaye über Sklaverei, Gleichheitsideale und Black Studies in Frankreich, die sich sehr von denen in den USA unterscheiden: "Kein Politiker, egal welcher Partei, würde sich für eine multikulturelle Gesellschaft aussprechen. Er liefe sofort Gefahr, dass man ihn beschuldigt, für eine kommunitaristische Gesellschaft zu sein. Das ist das Schlagwort, das man in Frankreich zurzeit benutzt, um die Existenz von Gemeinschaften anzuprangern, wie sie in Großbritannien oder in den USA existieren... Gemeinschaften, die ihre eigenen Regeln haben und sich über die Regeln der Republik stellen. Deswegen gelten die USA als das Land des Kommunitarismus. Auch wenn diese Gemeinschaften dort institutionell verankert sind. Dafür gibt es hier keine Entsprechung und keine Anerkennung."

Zum bevorstehenden 1. Mai denkt Micha Brumlik in der taz über das revolutionäre Moment nach, das nicht nur stetige Revision braucht, sondern auch Konstitution: "Es war keine geringere als die Theoretikerin Hannah Arendt, die darauf hingewiesen hat, dass die amerikanische Revolution mehr als zwanzig Jahre vor der Französischen Revolution stattfand. Und dass ihrer Meinung nach die amerikanische Revolution tiefer ging, da sie nicht nur die 'Befreiung von Unterdrückung', sondern vor allem auch die Institutionalisierung von Freiheit anstrebte - 'Constitutio Libertatis'."

Alex Rühle und Jörg Häntzschel eröffnen in der SZ eine neue Serie zum Anthropozän, in dem der Mensch zu einer geologischen Naturgewalt geworden ist: "Anthropozän ist nicht einfach ein neues Wort für 'ökologische Krise'. Natürlich fordern sowohl die Anthropozän-Vordenker als auch die Umweltschützer ein Ende der Naturzerstörung, ein radikales Umdenken. Doch die Anthropozän-Idee schließt eine Kritik der Umweltdebatte mit ein. Mit Begriffen wie 'Nachhaltigkeit' halte diese letztlich an der Vorstellung fest, die Rückkehr zu den alten Verhältnissen sei möglich. Und sie verhindere, der neuen Realität ins Auge zu sehen, in der die Natur nicht mehr vor dem Menschen 'geschützt' werden kann, weil er bereits so tief in sie eingegriffen hat, dass viele Prozesse längst irreversibel sind. Wie sollte man noch von unberührter Natur sprechen, wenn selbst auf Henderson, einem der entlegensten Atolle der Welt, 5000 Kilometer entfernt von der nächsten menschlichen Siedlung, täglich mehrere Tausend Stück Plastikmüll angeschwemmt werden?"

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Gesellschaft

Die Franzosen können einfach größer denken. Bis 2030 soll der voll automatisierte Grand Paris Express gebaut, mit 68 neuen Stationen auf 200 Kilometer und das Zentrum mit der Banlieue verbinden. Das wird Paris gut bekommen, glaubt Mira Kamdar im Blog der NYRB, denn die Banlieue ist heute schon viel interessanter als die Innenstadt: "Als verpflanzte New Yorkerin fand ich in Pantin die Energie, die ich in den neunziger Jahren im East Village liebte, bevor teure Wohnanlagen und Starbucks begannen, die alten Mietshäuser ohne Fahrstuhl, Lagerhäuser und polnischen Diner zu vertreiben. Als ich Pantin besser kennenlernte - mit seiner vielfältigen Bevölkerung, seinen Imbissen aus aller Welt und Sprachengewirr aus Bangladesch, Arabisch und Chinesisch - fühlte ich mich in Paris mehr zu Hause als jemals zuvor. Im umzäunten Gehege der Stadt der Lichter war ich eine amerikanische Ex-Pat. In Pantin bin ich nur eine weitere Zuwanderin, wenn auch eine privilegierte, im Departement von Seine-Saint-Denis sind ein Drittel der Bewohner Einwanderer."
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