9punkt - Die Debattenrundschau

Endlich mal Gedanken machen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.05.2018. Die taz feiert die neue Datenschutzgrundverordnung. Sascha Lobo bleibt in einer Diskussion mit dem Grünen-Politiker Jan-Philipp Albrecht bei seiner kritischen Position. In der SZ versucht eine ganze Gruppe deutscher Wissenschaftler eine differenzierte Position zu der Debatte um "Race" und Genetik zu formulieren, die von dem amerikanischen Biologen David Reich ausgelöst wurde. Der Soziologe Piero Ignazi will die europafeindlichen Äußerungen der wohl kommenden italienischen Regierung in der taz nicht ernst nehmen. Und auf allen Kanälen: Hartmut Dorgerloh, der designierte Intendant des Humboldt-Forums.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.05.2018 finden Sie hier

Internet

Für Webseitenbetreiber ist die Datenschutzgrundverordnung (kurz DSGVO) ein bürokratischer Horor mit juristischen Risiken. Aber Tanja Tricarico findet die gemeinsame Maßnahme von 28 EU-Ländern gegen Datenmissbrauch in der taz höchst lobenswert: "Wer Daten haben will, muss fragen und um Erlaubnis bitten. Wer das nicht tut, wird bestraft und muss zahlen, im besten Fall sogar empfindlich hohe Geldbeträge. Nahezu jeder, der auch nur ansatzweise in Berührung mit Datenflüssen kommt, nervt noch vor Fristablauf seine Nutzer*innen mit der Brüsseler Verordnung und fordert ihre Zustimmung."

Eine besonders beliebte Branche profitiert auch schon, schreibt Tricarico in ihrem Bericht: "Die neue Gesetzeslage hat bereits neue Geschäftsmodelle entstehen lassen. So haben sich Anwaltskanzleien auf die Einhaltung der DSGVO spezialisiert, andere 'vermieten' sogar Datenschutz-Experten. Mindestens einen hauptamtlich Zuständigen fordert nämlich die DSGVO für Firmen, die Daten verarbeiten."

Der Grünen-Politiker Jan-Philipp Albrecht, der maßgeblich an der DGSVO beteiligt war, wendet sich auf seiner Website gegen einen kritischen Artikel Sascha Lobos und verteidigt das komplizierte Gesetzeswerk, das kleine Seitenbetreiber angreifbar macht: "Es ist gut, dass jetzt an vielen Orten ein Datenschutz-Frühjahrsputz stattfindet und auch kleine Unternehmen, Vereine oder Blogger sich endlich mal Gedanken machen, welche Daten sie eigentlich erheben, warum, und ob das wirklich so nötig ist."

In den Kommentaren zu diesem Artikel antwortet Sascha Lobo: "Oh wow, was für eine Von-oben-Herab-Passage, die zeigt, dass Dich die Schwierigkeiten von kleinen Selbständigen wirklich nicht interessieren, warum auch immer. Du weißt so gut wie ich, dass eine 'nicht-private' Tätigkeit extrem schnell erreicht sein kann. Ein Buchempfehlungslink reicht, oder wenn man ein Blog führt, das zu einem im weiteren Sinn beruflichen Thema gehört."

Außerdem: Die Wirtschaftsinformatikerin Anna Jobin macht in Bezug auf Algorithmen in der NZZ klar: "Die wichtigste Entscheidung gehört .. nicht automatisiert: Wo und zu welchem Zweck werden algorithmische Prozesse eingesetzt, und wer kann bezüglich deren Funktionsweise und Optimierung Mitsprache halten?"

Archiv: Internet

Politik

Dass die Hamas eine Hauptverantwortung für die elende Lage in Gaza trägt, ist für Yair Rosenberg im jüdisch-amerikanischen Tablet-Magazin klar. Aber auch die israelische Seite sieht er kritisch: "Die israelische Blockade geht viel weiter als es für die israelische Sicherheit nötig ist... Reiseeinschränkungen zwischen Gaza, der West Bank und darüber hinaus gehen ebenfalls oft zu weit und behindern nicht nur potenzielle Terroristen, sondern auch Familien und Studenten. In einem berüchtigten Fall musste das Außenministerium der USA Fulbright-Stipendien zurückziehen, weil Israel den Studenten keine Ausreisegenehmigung erteilte."

Auf pen.org setzen sich Schriftsteller, Schauspieler und Künstler, darunter J.M. Coetzee, Siri Hustvedt und Paul Auster, in einer Serie von Videos für die Freilassung von Liu Xia ein, meldet der Tagesspiegel.
Archiv: Politik

Ideen

Im März brachte die New York Times einen Essay des Genetikers David Reich, in dem dieser schrieb, man könne "durchschnittliche genetische Unterschiede" zwischen "races" nicht länger ignorieren. Eine Debatte entbrannte, Reich wurde unter anderem Rassismus vorgeworfen. (Unser Resümee). In der SZ erklärt eine Gruppe von Soziologen, Kulturanthropologen und Wissenschaftsforschern, überwiegend an der Universität Freiburg tätig, den Unterschied zwischen dem englischen "race", das insbesondere "Selbstzuordnungen" meint, und dem deutschen Begriff "Rasse", dem vor allem ein biologisches Konzept unterliegt: "Wenn man von einem differenzierteren Verständnis von 'race' ausgeht, könnte man Reichs Aussage auch etwa so formulieren: Es sei nicht länger möglich, durchschnittliche genetische Unterschiede zu ignorieren, welche mit den Gruppenbezeichnungen korrelieren, die heute im US-Zensus als 'racial terms' (oder als 'ethnicities') von jedem US-Bürger als Eigenzuordnung bei behördlichen Erfassungen, Volkszählungen oder Umfragen angegeben werden. Das sagt aber nichts über Kausalbeziehungen zwischen genetischen Varianten und äußeren Merkmalen aus."
Archiv: Ideen

Europa

Der Politologe Piero Ignazi kann die antieuropäischen Töne aus der neuen links- und rechtspopulitischen Koalition in Italien im Gespräch mit Michael Braun von der taz nicht ganz ernst nehmen: "Gewiss wird es den Versuch geben, Dinge in Europa zu ändern. Das hat aber auch etwas infantile Züge. Die Neuankömmlinge denken, bloß weil sie jetzt da sind, würde sich in Europa alles ändern. Das ist einigermaßen naiv, das ist die Naivität derer, die bisher nie an den europäischen Verhandlungstischen gesessen haben. Doch binnen weniger Wochen werden sie die Realität zur Kenntnis nehmen."

Paul Ingendaay zitiert in der FAZ Tweets und Artikel des neuen Katalanischen Regionalpräsidenten Quinn Torra, die als Angebot zur Verständigung kontraproduktiv wirken könnten, zum Beispiel diese Passage: "Sie sind hier, unter uns. Jeden Ausdruck des Katalanischen finden sie widerwärtig. Es ist eine krankhafte Angst. Etwas Freudianisches steckt in diesen Bestien. Oder ein Knick in ihrer DNA-Kette... Die Bestien haben Namen und Vornamen. Wir alle kennen welche. Sie leben, sterben und vermehren sich."

Archiv: Europa

Kulturpolitik

Hartmut Dorgerloh auf allen Kanälen. Im Tagesspiegel-Interview mit Nicola Kuhn läutet der designierte Intendant das Ende der Gründungsintendanz ein und erklärt, wie er mit mehr Populismus eine "corporate identity" schaffen will: "Ich habe ein großes Vorbild: Humboldts 'Kosmos'-Vorlesungen. Da strömte ganz Berlin hin, trotz komplexer Themen. Diesen Geist brauchen wir. Wir wollen Geschichten aus vielen Perspektiven erzählen. Es geht nicht, dass einer sagt: 'Das ist meine Ausstellung in meinem Haus, so wie ich sie will.' Ein solches Museumskonzept wird es in Zukunft nicht nur am Humboldt-Forum schwer haben." In jedem Fall soll es kein Ort zum "Wohlfühlen" sein, fügt Dorgerloh im Welt-Gespräch mit Marcus Woeller hinzu.
 
Auch im SZ-Interview mit Jörg Häntzschel will Dorgerloh lieber noch keine konkreten Ideen für das Humboldt Forum benennen und äußert sich entsprechend zu dem Vorwurf, dass überwiegend Berliner Männer zwischen 50 und 60 Jahren Schlüsselpositionen besetzen: "Es wird noch viel Personal eingestellt werden, und dabei werden Genderbalance und Internationalität wichtige Kriterien sein. Ich muss aber auch sagen: Ein guter Friseur muss nicht viele Haare haben. Das betrifft auch meine Person. Ich kann nichts daran ändern, dass ich ein weißer Mann bin."
Archiv: Kulturpolitik

Medien

Das Neue Deutschland hat zwar nur noch 25.000 und Angst vor der Insolvenz, sitzt aber auch in einer sehr wertvollen Immobilie in der Nähe des Berliner Ostbahnhofs, die in komplexer Verschachtelung sowohl der Linkspartei als auch der Zeitung gehört - und die Partei scheint zur Beunruhigung der Zeitungsbelegschaft interessiert, dieses Grundstück ganz zu bekommen, schreibt Anne Fromm in der taz.
Archiv: Medien

Gesellschaft

Dei diesjährige Siegerin des Grand Prix d'Eurovision, Netta Barzilai, hat bei ihrer Performance ein kimonoähnliches Gewand getragen. Das ist "kulturelle Aneignung", die die Japaner im Innersten ihrer Herzen verletzen könnte, fürchtet Lin Hiersch in der taz und entwickelt einen wahrhaft revolutionären Begriff von kulturellen Prozessen: "Kulturellen Austausch und somit auch den Handel mit und die Weitergabe von kulturraumtypischen Objekten hat es schon immer gegeben. Das ist jedoch nie im luftleeren Raum geschehen, sondern im Kontext von Kolonialherrschaft, (Kultur-)Imperialismus und den impliziten ungleichen Machtverhältnissen - der 'Austausch' ist daher im Kern kein Austausch, sondern oft gewaltsame Ausbeutung." In Japan?

Archiv: Gesellschaft