9punkt - Die Debattenrundschau

Aus dem Netz verschwinden

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.05.2018. Die Zeitungen sind beeindruckt vom klaren irischen Votum für eine Liberalisierung der Abtreibungsregelung. Im Guardian bedankt sich Anne Enright bei den Briten. In der NZZ schildert László F. Földényi einen Moment "atheistischer Mystik". Eine Menge Blogs, aber auch große Betreiber haben aus Angst vor der DSGVO ihre Seiten geschlossen, bilanziert der Tech-Blogger Enno Park. In der Welt wendet sich Kenan Malik zugleich gegen Multikulti und gegen seine Kritiker.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.05.2018 finden Sie hier

Europa

In Irland wurde durch ein historisches Votum die Liberalisierung der Abtreibungsregelung beschlossen, aber ganz vorbei ist der Kampf noch nicht, schreibt Ralf Sotschek in der taz: "Die Abtreibungsgegner - und davon sitzen auch eine ganze Reihe im Parlament - argumentieren bereits, dass das Volk lediglich dafür gestimmt habe, den Paragrafen aus der Verfassung zu streichen, aber nicht für Abtreibungen auf Verlangen bis zur 12. Schwangerschaftswoche. Das ist unwahr: Die Regierung hat nie einen Zweifel daran gelassen, welches Gesetz sie nach einem Ja im Referendum verabschieden werde."

Das "Ja" hat fast eine Zweidrittelmehrheit bekommen, laut politico.eu 66,4 Prozent. "Das Ergebnis "spiegelt nach Jahren der Missbrauchsskandale und der Geschichten über Frauen, die in Heimen eingekerkert wurden, auch eine tiefe Enttäuschung über die Kirche und den kirchlichen Einfluss auf die Regierung wider", schreiben Naomi O'Leary und Sarah Wheaton.

Nun wächst der Druck, besonders auf Theresa May, dass Abtreibung auch in Nordirland liberalisiert wird, berichten Andrew Sparrow and Henry McDonald im Guardian - Nordirland ist der einzige Landstrich im Vereinigten Königreich, in dem ein restriktives Abtreibungsrecht gilt. Aber May  scheint vorerst nicht handeln zu wollen und habe signalisiert, dass ihren nordirischen Koalitionspartner DUP nicht brüskieren wolle, indem sie eine Abstimmung im Unterhaus zulasse.

Im Guardian bedankt sich die Schriftstellerin Anne Enright bei den Briten, die jahrzehntelang irischen Frauen geholfen haben, das Abtreibungsverbot zu umgehen: "Thank you for looking after Irish women when the Irish state would not, when Irish doctors could say nothing, offer no help, no advice, not even a phone number. Thank you to the hospital in Liverpool that looked after so many Irish women whose babies suffered fatal foetal abnormalities. Thank you for making them not feel like pariahs because their babies were going to die, but for affording them the proper and compassionate medical treatment that your doctors' code requires. Thank you for taking all that sorrow and pain and folding it into your hearts without complaint, or racism, and with a complete absence of nationalistic or governmental ire. Thanks for not getting insulted when 'England' became an Irish code word for 'abortion'. Thanks for not shutting us out."
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Medien

In der Banlieue von Avignon kam es zu Unruhen, als empörte Demonstranten türkischer Herkunft Druck auf einen Kioskbesetzer machten, das groß plakatierte Cover der aktuellen Ausgabe von Le Point abzuhängen. Die Atmosphäre war derart aufgeheizt, dass die Betreibergesellschaft der Kioske nachgab und das Plakat abnahm. Der Titel von Le Point zeigt den türkischen Präsidenten  mit dem Text: "Der Diktator. Wie weit geht Erdogan? Recherche über den türkischen Präsidenten, seinen Größenwahnsinn, seine Netze in Frankreich, seine Offensive in Algerien, seine Verbrechen..." Die Redaktion verwahrt sich gegen den Druck: "Die Plakatkampagne wird in ganz Frankreich aufrechterhalten. Gleich am Samstag hat Le Point verlangt, dass die Plakate in den betroffenen Kiosken wieder angebracht werden. Der Kiosk in Avignon steht unter dem Schutz der Gendarmerie."
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Politik

Nach der Vertreibung betreibt das Assad-Regime die Flurbereinigung mit einem Gesetz, das viele Flüchtlinge enteignen wird, schreiben  Meret Michel und Mostafa Al-Shimali in der taz: "Das 'Gesetz Nummer 10' ist der jüngste Schritt des Regimes, die Zukunft Syriens ganz nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Es gibt ihm die Möglichkeit, beliebige Gebiete im Land zu Bauzonen zu erklären, um sie neu bebauen zu können. Sobald ein Gebiet entsprechend festgelegt ist, haben Hausbesitzer einen Monat Zeit, um ihren Besitz bei den Behörden nachzuweisen. Ansonsten fällt ihr Haus an den Staat und wird öffentlich versteigert. Das Gesetz birgt also das Potenzial, Millionen von Syrern zu enteignen."

Ja, Globalisierung produziert auch Verlierer, aber Abschottung und Strafzölle sind nicht die Antwort, antwortet der Grünen-Politiker Anton Hofreiter in der FR auf Donald Trump und schlägt gleich einen ganzen Katalog von Maßnahmen vor, "den enthemmten Raubtierkapitalismus einiger Konzerne einzuhegen: durch eine Finanztransaktionsteuer, durch die systematische Bekämpfung von Steuerbetrug, das Schließen von Briefkastenfirmen und durch das Ende der Steuerschummelei von global agierenden Konzernen wie Starbucks, Apple oder Google. Und wir brauchen faire Handelsabkommen, die an klaren sozio-ökologischen Kriterien ausgerichtet sind. Dazu zählt auch das Klimaabkommen von Paris. Das reicht aber nicht. Wir brauchen sozialpolitische Maßnahmen, die den von Arbeitslosigkeit bedrohten Beschäftigten und den von Fabrikschließungen betroffenen Regionen helfen."

Im Tagesspiegel sieht CSU-Entwicklungshilfeminister Gerd Müller das ähnlich. Er möchte außerdem "privates Kapital dorthin lenken, wo es wirklich gebraucht wird: Raus aus kurzfristigen spekulativen Anlagen, hinein in die wirtschaftliche Entwicklung insbesondere Afrikas. Es ist doch verrückt: Mit weniger als 0,05 Prozent der weltweiten Finanzanlagen könnte die jährliche Finanzierungslücke für Infrastrukturinvestitionen in Afrika geschlossen werden. Und hierzulande suchen institutionelle Anleger angesichts der niedrigen Zinsen händeringend nach lohnenden Anlagemöglichkeiten."
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Internet

Nach der DSGVO droht noch die ePrivacy-Verordnung der EU, die das neue Datenschutzgesetz ergänzen soll. Zeitungsverleger machen kräftig dagegen Druck, fürchten sie doch, ihr eh schon abgespecktes Geschäftsmodell, mit Anzeigen Geld zu verdienen, könnte ganz ruiniert werden, wenn personalisierte Werbung quasi illegal wird. Der Springer Konzern ist dabei, klar, aber auch Zeitungen wie Zeit oder FAZ, erklärt Jakob von Lindern auf Zeit online: "Christian Herp sieht auch das Kopplungsverbot als Problem. Er ist Geschäftsführer von iq digital media marketing, einer gemeinschaftlichen Vermarktungsgesellschaft des FAZ Verlags, der Handelsblatt Media Group, des Süddeutsche Zeitung Verlags und des Zeit Verlags. 'Es besagt, dass unsere Seiten auch dann zugänglich sein müssen, wenn Besucher Cookies nicht akzeptieren.' Dadurch verdienen die Verlage weniger an diesen Nutzerinnen und Nutzern. Denn Werbung wird ihnen zwar auch gezeigt, aber eben keine personalisierte - und das ist den Werbekunden weniger wert. 'Es kann zu einem Umsatzrückgang von 35 Prozent führen, wenn die E-Privacy-Verordnung kommt', sagt Herp, der auch stellvertretender Vorsitzender des Online-Vermarkterkreis (OVK) im BVDW ist."

Mark Scott befragt für politico.eu einige Betroffene, Aktivisten und Politiker über die Frage, was kommt, nachdem die Datenschutzgrundverordnung nun in Kraft getreten ist. Unter anderem äußert sich der österreichische Datenschutzaktivist Max Schrems, der "besorgt ist, dass viele Firmen, die gar nicht darauf beruhen, die Online-Daten von Bürgern einzusammeln, nun die Last der Regulierung mit ertragen müssen. Hierfür macht er die Lobbyarbeit der Tech-Industrie verantwortlich, die die Gesetzgeber dazu trieb, die Standards so kompliziert wie möglich zu formulieren."

Der Tech-Blogger Enno Park hat auf Twitter eine Umfrage gestartet und festgestellt, dass die Verunsicherung über das DSGVO riesig ist - viele haben ihre Websites zumindest vorläufig geschlossen: "Die allermeisten sind kleine Blogs, manchmal auch Foren oder andere Projekte, darunter auch die Webseite einer kleinen freiwilligen Feuerwehr. Auch 'Große' sind dabei, wie die Los Angeles Times, die ihre Seiten einfach mal für Besucher aus der EU geschlossen haben, oder die WHOIS-Abfrage der DENIC. Viele gaben an, dass ihr Blog sowieso eingeschlafen sei. Da ist das Offline-Nehmen trotzdem ein Verlust, schließlich ist es nicht nur bei Näh-Blogs oder Kochrezepten schade, wenn sie aus dem Netz verschwinden."

Wegen DSGVO? Die Website der Los Angeles Times ist von Europa aus nicht mehr zu lesen. Screenshot.



Aber Heribert Prantl, das Gewissen der Nation und der SZ, ruft die Leser auf: "Lassen Sie sich nicht verunsichern. Die Europäische Datenschutzverordnung, seit Freitag nach zwei Jahren Übergangszeit in Kraft, ist etwas Wunderbares."

Auf der Gegenwartsseite der FAZ durchleuchtet Jürgen Kühling, Professor für öffentliches Recht, die rechtlichen Aspekte der Debatten um Meinungsfreiheit einerseits und Persönlichkeitsrechten im Internet andererseits und kommt zu dem Ergebnis: "Grundsätzlich können wir Systeme in Deutschland und Europa installieren, um deutsche beziehungsweise europäische Standards im Widerstreit von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz gegen amerikanische Internetgiganten genauso durchzusetzen wie gegen deutsche oder europäische Unternehmen."

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Gesellschaft

In der Welt erklärt Kenan Malik, warum er den Multikulti-Kritikern inzwischen genauso ablehnend gegenüber wie dem Multikulturalismus selbst: Beide hängen einem viel zu engen Identitätsbegriff an. Für Malik hat sich die "Vermengung von Diversität als gelebte Erfahrung einerseits und von Multikulturalismus als politischem Prozess andererseits ... als sehr misslich erwiesen. Zum einen wurde es so erst möglich, die Masseneinwanderung für das Versagen der Sozialpolitik verantwortlich zu machen und Minderheiten zum Problem zu erklären. Zum anderen hat es gerade viele Liberale und Linke dazu verleitet, klassische freiheitliche Prinzipien, wie zum Beispiel das Bekenntnis zur Meinungsfreiheit, im Namen der Verteidigung von Diversität aufzugeben."
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Ideen

Man kann auch als Atheist beten oder ein religiöses Erlebnis haben, schreibt der ungarische Essayist László F. Földényi in der NZZ. Er nennt es "atheistische Mystik". Als Beispiel nimmt er eine Szene aus Ida Lupinos Noir-Film "Hitch-Hiker": Den Moment, als ein Entführter begreift, dass er sterben wird und zusammenbricht. "Und in diesem Zustand vollständiger Hoffnungslosigkeit kommt es zu etwas, das man am treffendsten mit einem theologischen Begriff beschreiben kann: zur Entleerung. Zur Kenosis. Ursprünglich bezieht sich dieses Wort auf die Verlassenheit Christi im Augenblick seines Kreuzestodes. Es ist der Zustand, in dem Gott denjenigen verlässt, der ihn selbst verkörpert. ... Die Religion entdeckt in der Abgeschiedenheit auch die Voraussetzung für eine Öffnung zu Gott hin. Das heißt, sie erkennt in der Entleerung auch schon die darauffolgende Aufladung. Damit stellt sie den Augenblick der Entleerung in einen größeren Kontext, stellt ihn als eine Stufe der Heilsgeschichte dar. Sie ordnet den außerzeitlichen Augenblick also der Zeit unter, die einen Anfang und ein Ende und somit eine Richtung hat. Das religiöse Erlebnis dagegen zeichnet sich genauso durch völlige Ziellosigkeit wie durch restlose Erfüllung aus. Das ist das Heiligtum der Anarchie. Mit anderen Worten: Der Mensch öffnet sich, ohne überhaupt zu wissen, was ihn erwartet. Das ist der Zustand der Freiheit, auch wenn er sogar tödlich zu sein scheint."

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