9punkt - Die Debattenrundschau

Irgendein kleiner Held

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.06.2018. Unsere europäische Zukunft steht auf dem Spiel, lasst uns die Institutionen erobern, ermuntert in der taz Nora Bossong die Pro-Europäer. Packt eure Sachen, hat der neue italienische Innenminister Matteo Salvini gerade Flüchtlinge aufgefordert. Welche Sachen, fragt in politico interessiert der Mediziner Craig Ferguson, über den Körper eines gefolterten Kameruners gebeugt. Im ORF analysiert Armin Wolf Putins Antwortstrategien in Interviews. In der FR denkt Arno Widmann mit Salman Rushdie über Wahrheit und Lüge nach.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.06.2018 finden Sie hier

Europa

Auch Slowenien ist gefallen. Bei den Wahlen am Wochenende gewann die rechtsnationale, einwanderungsfeindliche SDS. "Manchmal scheint mir, dass uns gar nicht klar ist, was derzeit auf dem Spiel steht, dass es um nicht weniger als unsere europäische Zukunft geht, die einfach und ganz real kippen kann", fürchtet Nora Bossong in der taz. Zwar gebe es immer mal wieder bunte proeuropäische Demos, doch "etwas Vergleichbares wie den 'Marsch durch die Institutionen' kann ich nirgends sehen. Das Wort Institution klingt vermutlich schon so abturnend und verkrustet, dass man lieber einen Bogen darum macht. Doch damit vergibt man sich möglicherweise eine Chance, die so laut gehasste, so still geliebte EU konkret zu gestalten."

"Die guten Zeiten für illegale Einwanderer sind vorbei", hat gerade der neue italienische Innenminister Matteo Salvini verkündet, "packt eure Sachen". Bei Politico fasst sich der Mediziner Craig Ferguson an den Kopf. Welche guten Zeiten? "Als Teil des medizinischen Teams, das Flüchtlinge vor Sizilien aus dem Meer fischt und behandelt, habe ich zahllose Berichte über Missbrauch, Gewalt und Vergewaltigung gehört. Viele waren in Libyen interniert, wo die Menschen routinemäßig in die Sklaverei gezwungen und gefoltert werden. Niemand, der unser Schiff erreicht hat, hat irgendwelche Sachen, die er packen könnte, wie Salvini das fordert. Unter den am Freitag Geretteten war ein junger Mann, der vor dem Krieg in Kamerun geflohen ist. Er wurde auf seinem Weg an die nordafrikanische Küste immer wieder gekauft und verkauft und sah zahllose Männer und Frauen, die vergewaltigt und ermordet wurden. Wunden, die von der Folter herrührten, waren klar erkennbar auf seinem Körper."

Im Gespräch mit politico würde Norwegens Premierministerin Erna Solberg den Briten ihr "norwegisches Modell" nicht als Vorbild für einen "weichen" Brexit empfehlen: "Erna Solberg pointed out that it would mean Britain continuing to abide by the four EU freedoms, including freedom of movement, as well as having no decision-making power in Brussels. 'Then I should just ask why … should you leave the EU if you're accepting that?' she said." Und Ulrike Guérot fordert, ebenfalls bei politico, die Briten auf: "Esst euren Kuchen und geht, oder gebt zu, dass der Brexit ein Fehler war."

Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde in Deutschland die Osteuropa-Forschung stark eingeschränkt, schreibt der Osteuropahistoriker Jeronim Perović in der NZZ - man glaubte, die Sache habe sich "erledigt". Ein Fehler, meint Perović mit Blick etwa auf die Ahnungslosigkeit, mit der in Europa die Ukraine-Krise verfolgt wurde: "Die Ukraine, immerhin ein Land mit über 40 Millionen Einwohnern, flächenmäßig fast so groß wie Frankreich und angrenzend an vier EU-Staaten, war auf der mentalen Karte vieler Europäer viel weiter weg, als die tatsächliche geografische Nähe es verdient hätte. Innerwestliche Debatten zeigten aber auch, wie schwer man sich tat, die Motive von Konfliktparteien zu durchblicken oder Staatspropaganda richtig zu entschlüsseln."
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Medien

Viel Aufsehen erregt heute im Netz ein Interview, das der ORF-Nachrichtenmoderator Armin Wolf schon vor ein paar Tagen mit Wladimir Putin geführt hat (hier das deutsche Video, hier der englische Wortlaut) - normalerweise sind solche Staats- und Hauptinterviews unerträglich, aber Wolf hat Putin tatsächlich mit kritischen Fagen aus der Reserve gelockt. In einem kleinen Blogbeitrag beschreibt Wolf Putins Antwortstrategien:
"1. Er repliziert meist sehr ausführlich. Knappe Antworten sind selten, fast immer wird es grundsätzlich.
2. Er liebt Gegenfragen - für einen Interviewer immer unangenehm.
3. Er ist ein Meister des sog. Whataboutism - also des Ablenkens auf ein anderes Thema oder zumindest einen anderen Aspekt des Themas.
4. Wenn er etwas dementieren will, dementiert er, egal wie viele Belege es für einen Vorhalt gibt.
5. Und wenn er unterbrochen wird, kritisiert er das sofort - als unhöflich, ungeduldig oder voreingenommen. Um dann seine ursprüngliche Antwort fortzusetzen."

In welchem Grad können öffentlich-rechtliche Sender, die zur Ausgewogenheit verpflichtet sind, bestimmte politische Kräfte ausschließen? Frank Plasbergs Entscheidung, Alexander Gauland nicht mehr bei "hart aber fair" einzuladen, sorgt für Diskussionen bei seinen Kolleginnen, meldet dlf24. Anne Will will es Plasberg nicht nachtun: "Will betonte, als Redaktion eines ARD-Talkformats habe man eine staatsvertraglich festgeschriebene Pflicht zur angemessen Berichterstattung über alle gesellschaftlichen Kräfte. Sie fügte hinzu, sie persönlich habe allerdings an Gauland nach dessen 'verachtungswürdiger Relativierung des Holocausts' zur Zeit keine Fragen."
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Ideen

Gibt es Wahrheit, Tatsachen? Oder ist am Ende alles nur Meinung? In der FR denkt Arno Widmann anlässlich eines kurzen Rushdie-Essays im New Yorker über den heutigen Wahrheitsbegriff nach. "Anfang der 80er Jahre hatte die Debatte schon einmal stattgefunden. Selbst an den Universitäten wurde mancherorts die Auffassung vertreten, auf Tatsachen komme es nicht an, sondern auf gute Erzählungen. Rushdies Position war das nie. Seine Erfindungen waren als Schlüssel gedacht, die einem Türen 'vor dem Gesetz', Wege zur Wahrheit, öffnen sollten. Seine Lügengeschichten gaben sich nicht für die Wahrheit aus, sie sollten Blicke auf sie ermöglichen. Aber es gab damals Vertreter der Postmoderne, die glaubten, sich in ihrem Namen lustig machen zu können über die 'Wahrheitssucher', über die, die festhielten an der freilich stets fragilen Unterscheidung von richtig und falsch. Schon damals ging es - das war allen klar - nicht nur um richtige und falsche Sätze, sondern auch um Taten, um Politik. Darum wurde damals viel polemisiert gegen die Postmoderne. Sie wurde in eins gesetzt mit ihrer Extremposition. In Wahrheit führte und führt noch immer kein Weg hinter die Postmoderne zurück."
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Kulturpolitik

In einem von der Zeit online nachgereichten Artikel macht Thomas E. Schmidt auf die vielen gesetzlichen Hürden aufmerksam, die die Rückgabe von Kolonialkunst nicht gerade erleichtern - laut Kulturgutschutzgesetz ist etwa der gesamte Bestand öffentlicher Museen nationales Kulturgut, das nur nach einem Genehmigungsverfahren ausgeführt werden darf.
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Geschichte

Wie reinster "Slapstick" erscheinen dem serbischen Schriftsteller Bora Ćosić in der NZZ in der Erinnerung die Studentenproteste von 1968 in Belgrad, wo Studenten lautstark gegen die kommunistische Herrschaft in ihrem Land protestierten - mit denselben kommunistischen Parolen: "Die meisten Menschen erinnern sich gar nicht an diese Sternennächte, die bisweilen dramatisch waren - es kamen auch Polizeiknüppel zum Einsatz -, nur weil irgendein kleiner Held die Heckfahne aufhob, die von einem Wagen gefallen war, und mit ihr zu winken begann, was die anderen als Wink des Schicksals auffassten."

Beeindruckt kommt SZ-Autor Gustav Seibt aus der Rassismus-Ausstellung im Dresdner Hygiene-Museum: "Die Monstrosität rassistischen Denkens wird nicht nur begreifbar, sondern mehr noch fühlbar."
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