9punkt - Die Debattenrundschau

Telefonnummer in Ankara

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.06.2018. Macht Schluss mit diesem Quatschgesetz, ruft Sascha Lobo in Spiegel online und geißelt die Kumpelei des Axel-Springer-Verlags mit der CDU, die ganz Europa eine "Linksteuer" beschert. Auch in Amerika wollen die Mediengewaltigen laut Buzzfeed Facebook am liebsten loswerden. Die Frage ist nur, wie die Zigarette danach schmeckt. Herfried Münkler schreibt heute quasi  überall. In der NZZ geht's um Eliten, in der Zeit um den Westen und mit beiden bergab. Die EU ist an der Lage in Italien selber schuld, ruft die taz. Unverfroren bereitet sich die Welt unterdessen vor den Augen einer angeekelten Welt auf das WM-Spektakel in Russland vor.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.06.2018 finden Sie hier

Internet

Sascha Lobo geißelt in seiner Spiegel-online-Kolumne die Kungelei zwischen Axel-Springer-Verlag, Zeitungslobby und der CDU, die nun womöglich in ganz Europa zu einem unklar formulierten Leistungsschutzrecht zugunsten der Verlage führen wird: "Das Leistungsschutzrecht ist ein realitätsfernes Quatschgesetz. Es soll bewirken, dass die Anzeige von Suchergebnissen von Verlagen kostenpflichtig wird. Hört sich nach einem Anti-Google-Gesetz an, ist aber viel größer, denn dadurch könnten Links im Netz kostenpflichtig werden. Kritiker nennen das LSR deshalb 'Linktax', also Linksteuer, zu entrichten allerdings an private Verlage. Wahrscheinlich wären auch Nutzer sozialer Medien, die Presseartikel verlinken, betroffen. Genau lässt sich das schwer sagen, weil die präzise Wirkung eines Quatschgesetzes samt folgender Gerichtsurteile kaum berechenbar ist."

Mat Honan berichtet für BuzzFeed von einer kleinen, aber mit allerhöchsten Mediengewaltigen besetzten Konferenz des Open Markets Institute, wo es um die Frage ging, ob kartellrechtliche Maßnahmen gegen Facebook ergriffen werden sollen, auf das die Medien inzwischen noch saurer sind als auf Google. Da auch der Antitrust-Boss des amerikanischen Justizministeriums, Makan Delrahim, zugegen war, wird der Konferenz großes Gewicht beigemessen. Die Mediengewaltigen wären jedenfalls alle für Maßnahmen, die Delrahim aber noch ablehnt. Und das Verhältnis der Medien zu Facebook ist so komplex! "Mit der Plattform zu brechen, wird auch schwierig werden. 'Es ist, wie wenn zwei Tiere kopulieren. Ihre Geschlechtsorgane stecken zusammen. Sie können sich gar nicht trennen', sagte Nick Bilton von Vanity Fair am späteren Abend über die Beziehung der Medien zu Facebook. Wahrlich eine unerquickliche Partnerschaft."
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Europa

Dass in Italien jetzt Europaskeptiker und Fremdenfeinde regieren, hat sich die EU selbst zuzuschreiben, meint Christian Jakob in der taz. Zu lange habe man Italien mit dem Flüchtlingsproblem allein gelassen: "Die Verfolgung der Seenotrettungs-NGOs durch die Justiz oder die verzweifelte Drohung an die EU im vergangenen Sommer, seine Häfen für Flüchtlinge und Migranten zu schließen - nichts brachte Erfolg - substanzielle Hilfe kam nicht. Der Rest Europas hat die Proeuropäer in Italien auf diese Weise verraten und geschwächt. Mehrfach haben hohe EU-Repräsentanten in den letzten Jahren bei Hintergrundgesprächen die EU-Strategie zum Umgang mit der Migration erklärt. Und immer dann, wenn die Frage aufkam, wie sie Italien zu entlasten gedenken, hieß es: Für alles, was dem Land wirklich helfen würde, gebe es eben 'keine Mehrheit'. Jetzt gibt es in Italien keine Mehrheit mehr für die, die zur EU stehen."

Während die Zeitungen sich fleißig auf die Fußball-WM vorbereiten (5 Seiten hat die taz heute dafür reserviert, 3 die FAZ, 4 die SZ), sitzt der Filmemacher Oleg Senzow wegen seines Protests gegen die Annexion der Krim seit vier Jahren in einem sibirischen Lager und ist seit fast einem Monat im Hungerstreik, schreibt in der Welt Pavel Lokshin, der sich ein wenig darüber wundert, wie ungerührt die Welt aus Russland berichtet. Senzows Forderung: "Alle politischen Gefangenen aus der Ukraine sollen aus russischen Gefängnissen entlassen werden. Mehr als 60 Ukrainer sind in Russland aktuell aus politischen Gründen in Haft, darunter viele krimtatarische Aktivisten, die sich gegen die Annexion durch Russland ausgesprochen haben. Bemerkenswert: Seine eigene Freilassung fordert Senzow nicht."

Auch die Kulturwissenschaftlerin Kateryna Botanova kritisiert in der NZZ die Gleichgültigkeit der Sportreporter: "Die Parole 'Sport jenseits der Politik' ist ein Persilschein für ein Regime, das Oppositionelle umbringt, verschleppt, vergiftet, das Straftatbestände erfindet, einseitig internationale Vereinbarungen kündigt, sich in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten einmischt und sich weiße Handschuhe überstreift, um das Blut an den Fingern zu verbergen. Sage nach dem Fest des Fußballs niemand, er habe von alldem nichts gewusst."
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Religion

Der ehemalige Grünen-Politiker Volker Beck lehrt jetzt "Religionspolitik". Für eine klare Trennung von Staat und Religion tritt er im Interview mit Christine Brinck auf der Glauben-und-Zweifeln-Seite der Zeit nicht ein. Er fordert nach wie vor Religionsunterricht an Schulen, aber auch, dass die deutsche Politik aufhört, mit den Islamverbänden zu kungeln, mit denen sie verhandelt, um dem Islam einen Status und sich selbst den lieben Frieden zu geben: "Die große Sünde von Innenpolitikern wie Otto Schily oder Günther Beckstein, also von SPD ebenso wie von der Union, war, dass sie es lange Zeit sehr praktisch fanden, eine Telefonnummer in Ankara zu haben. Die konnte man bei Problemen anrufen, und wenn man sich mit Ankara einig war, konnte man sicher sein, dass das an alle Moscheen durchgestellt wurde. Das war eine autoritär fixierte Innenpolitik. Ging auch lange relativ gut, solange in Ankara keine islamistischen Nationalisten an der Macht waren." Mit wem die Politiker nun eigentlich reden sollen, um den Islam ins deutsche System einzugliedern, lässt Beck allerdings offen.
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Politik

Von Rechts- und Linkspopulisten werden die Eliten derzeit gleichermaßen heftig kritisiert - doch sitzen sie jede Kritik einfach aus und lenken die Aufmerksamkeit stattdessen auf die Prominenz (Adelshäuser, Sportler, Schauspieler), meint Herfried Münkler in der NZZ: "Das ist für sie zunächst von Vorteil, hat aber den gravierenden Nachteil, dass sie als Elite erst wieder in den Blick kommt, wenn etwas schiefgelaufen ist, die Krisen sich mehren und die Skandalisierungsneugier von der Prominenz zur Elite wandert. Infolgedessen kommt die Elite nur als versagende, jedenfalls ihrem Anspruch nicht genügende in den Blick. So bekommt man den Eindruck, alles könne auch ohne Eliten funktionieren, alles wäre besser, wenn es keine Eliten gäbe. Das ist die Pointe der linkspopulistischen Elitenkritik. Dem lässt sich überzeugend nur entgegenarbeiten, wenn die Tätigkeit von Eliten nicht nur in Situationen des Scheiterns, sondern auch in solchen der erfolgreichen Routine sichtbar ist."

Doch eigentlich spielen hiesige Eliten schon keine Rolle mehr, meint Münkler, diesmal in der Zeit, denn der Niedergang des "amerikanischen Zeitalters" und des "Westens" sei eigentlich schon besiegelt. Damit zerfalle auch ein staatenübergreifendes Modell, dass nicht nur auf Wirtschaftsmacht, sondern auch auf einer (wenn auch immer wieder unterlaufenen) Ethik basierte: "Der Zerfall des Westens, der zurzeit stattfindet, wird auch diese Ausstrahlung beenden, und alternative Modelle politischer Ordnung, seien sie nun chinesischer oder russischer Prägung, werden weiter an Boden gewinnen."
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Geschichte

In der NZZ erinnert sich der serbische Schriftsteller Bora Cosic an jene Zeit, als Jugoslawien sich unter Tito 1948 plötzlich von Stalin abwandte - und auch die Liebe der Serben zur russischen Kultur sich trübte: "Schließlich erfuhren wir, dass seine Hand grausame Lager im unmenschlich kalten Sibirien errichtet hatte, dass seine Henker in die Köpfe Tausender unschuldig angeklagter Menschen schossen, dass das riesige Land Russland nicht nur die Heimat der fröhlichen jungen Leute aus seinen Filmen war, sondern eine finstere Gegend, ein undurchsichtiger Kontinent, wie er es eigentlich bis heute geblieben ist. Am Ende fiel es auch dem Mann meiner Tante leichter, sich von seiner jüngsten Vergangenheit loszusagen, Stalin war vielleicht ja doch nur der blatternarbige Tyrann aus dem Gedicht von Ossip Mandelstam."
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Medien

Wie groß ist der Beitrag der öffentlich-rechtlichen Sender und namentlich ihrer Talkshows am Aufstieg der AfD? Sandra Maischberger antwortet heute in der Zeit auf Forderungen, die Talkshows pausieren zu lassen, um der AfD nicht noch mehr Foren zu verschaffen. Schuld ist für sie ohnehin das Netz: "Je größer die gesellschaftlichen Friktionen werden, desto weniger scheinen wir die Auseinandersetzung darüber zu ertragen. Vielleicht sind wir zusätzlich mürbe durch den nicht mehr versiegenden Strom aus Wut, Hass und Empörung, der uns aus dem Netz entgegenquillt."
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