9punkt - Die Debattenrundschau

Seltsam kleingeistig, stumpfsinnig und starr

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.06.2018. Die CSU setzt bei den Flüchtlingen auf eine AfD-Politik. Das ist nicht nur flüchtlings-, sondern auch bayernfeindlich, meint die SZ. Die taz warnt vor linker Häme: Was nach Angela Merkel kommt, wird nur schlechter. Wer braucht Heimat, fragt der Kulturtheoretiker Jan Söffner in der NZZ. Islamische Religionskunde soll vor allem den Einfluss der christlichen Kirchen sichern, warnt in der taz Memet Kiliç. Warum argumentieren Feministinnen oft wie die letzten Reaktionäre, fragt Judith Sevinç Basad in der FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.06.2018 finden Sie hier

Europa

CDU und CSU zerstreiten sich in einer Frage, die ihnen an sich überhaupt keine Handlungsmöglichkeit bietet, es sei denn, sie wollten das Asylrecht vollends einkassieren, schreibt Dana Schmalz im Verfassungsblog. Der Vorschlag, Asylsuchende einfach an der Grenze abzuweisen, ist jedenfalls rechtlich nicht so einfach zu verwirklichen: "Das Europarecht steht ihm entgegen, in Form der Regelungen der Dublin-Verordnung. Wenn man die ändern oder missachten möchte, steht dem Vorschlag immer noch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) entgegen, mit dem Verbot der Kollektivausweisung nach Art. 4 Zusatzprotokoll IV. Und falls die entsprechenden Fraktionen überlegen, aus der EMRK auszutreten, steht der Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze auch noch die Genfer Flüchtlingskonvention und das Völkergewohnheitsrecht entgegen."

In der SZ fragt sich Heribert Prantl, was Horst Seehofer antreibt, den Konflikt mit Bundeskanzlerin Angela Merkel über die Flüchtlingsfrage derart eskalieren zu lassen: "Es geht letztlich gar nicht so sehr um die Abweisung von Flüchtlingen direkt an der Grenze, es geht um irgendeinen Flüchtlings-Großkonflikt, um sich von der Kanzlerin abzugrenzen und Anschluss an die Anti-Flüchtlingsstimmung zu kriegen. Die Abweisung der Flüchtlinge direkt an der Grenze, die von der CSU propagiert wird, ist bayernfeindlich, weil sie eine radikale Schließung der Grenzen und scharfe Grenzkontrollen voraussetzt." Vielleicht sollte Merkel es wie Kohl und Geißler 1976 machen und den sofortigen Einzug der CDU nach Bayern angekündigen?

In der taz sieht Georg Löwisch die Kanzlerin gar am Ende. Ein Anlass für Häme? Eher nicht. "Eine Regierung ohne Merkel - Linke, Liberale und Ökos sollten sich nicht zu früh darüber freuen. Annegret Kramp-Karrenbauer steht gesellschaftspolitisch rechts von Merkel. Jens Spahn agitiert marktradikaler und in der Integrationspolitik auf der harten Linie der CSU. Eine Kompromisskanzlerin Ursula von der Leyen würde sich womöglich durch Schneidigkeit von Merkel abgrenzen. Und die SPD? Quält sich gerade erst in eine Analyse ihrer Krise hinein."

"Seehofer steht im Überbietungswettbewerb mit sich selbst", meint Lenz Jacobsen auf Zeit online und sieht darin vor allem eine Schwäche des CSU-Politikers: "Seehofers Masche ist aber auch eine Flucht, und zwar eine der politischen Art. Im Umgang mit Migranten können deutsche Politiker zur Zeit am leichtesten jene Entschlossenheit und Tatkraft darstellen, die viele Wähler bei ihnen in so vielen anderen Politikbereichen vermissen. Weil ihnen die Radikalität bei vielen der anderen großen Aufgaben fehlt, hat sich ein Teil der deutschen Politik in eine Spirale der Radikalität im Reden über Migrantinnen begeben. So wird der hehre und richtige Anspruch, die Probleme der Bürger zu lösen, zum rhetorischen Stunt."

Die AfD wird von genau jenen Kräften gestärkt, die nach außen behaupten, wie ein Mann sowie eine Frau gegen sie zu stehen: den Öffentlich-Rechtlichen einerseits, die per Auftrag gezwungen sind, allen politischen Kräften Geltung zu verschaffen, und den etablierten Parteien, die sich schon in der Vergangenheit prächtig aus Staatskassen finanzierten und die ihre Parteienfinanzierung per Staat nun nochmal gewaltig aufstocken wollen - wovon dann selbstverständlich auch die AfD profitiert. Wolfgang Michael thematisiert den Plan beim Freitag: "An diesem Freitag will die Große Koalition die gesetzlich festgelegte Obergrenze für staatliche Zuschüsse an Parteien von 165 auf 190 Millionen Euro erhöhen. Das wären auf einen Schlag 15 Prozent mehr. Während der Regelsatz von Hartz IV am 1. Januar gerade mal um 1,7 Prozent stieg, reicht den Regierungsparteien der jährliche Inflationsausgleich nicht aus. Ihren Mehrbedarf begründen sie mit den 'horrenden Kosten', die ihnen durch neue Medien und teure Mitgliederentscheide entstehen."
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Urheberrecht

Anders als die EU möchte Adrian Lobe in der SZ Maschinen lieber kein Urheberrecht zugestehen, egal, wie intelligent sie sind: "Das wichtigste Argument gegen die extensive Auslegung ist ein kulturelles: Malen und Schreiben sind jahrtausendealte Kulturtechniken des Menschen. Wenn man Maschinen ein Urheberrecht konzedierte, würde man implizit eingestehen, dass Kreativität keine genuin menschliche Domäne ist."
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Ideen

Heimat ist keineswegs ein menschliches Grundbedürfnis, winkt der Kulturtheoretiker Jan Söffner in der NZZ ab, noch heute gebe es Nomaden und auch die Option, heimisch zu werden, sei erst in der jungsteinzeitlichen Revolution entstanden, erklärt er: "Mit dem Ende der letzten Eiszeit wurden überall auf dem Globus Menschen sesshaft, sie begannen Landstriche als die ihren zu betrachten und den Boden zu beackern. Mit der Option zur Heimat entstand auch diejenige zur Xenophobie. Erst seit der Jungsteinzeit lassen sich Genozide nachweisen."

Der Sozialismus mag gute Absichten haben, vor allem aber bringt er Armut, Korruption und Diktatur hervor, schreibt der katholische Priester und Philosoph Martin Rhonheimer, ebenfalls in der NZZ, mit Blick nach Venezuela, das ihm wie ein "Live-Experiment" der sozialistischen Wertvernichtung erscheint. Er meint: "Die Armen brauchen den Kapitalismus, derweil ihn ökonomisch unaufgeklärte westliche Wohlstandsbürger und Intellektuelle, die sich das leisten können, verteufeln. Doch auch im Westen verdanken wir den historisch beispiellosen Wohlstand dem Kapitalismus, genauer: dem, was davon übrig ist."

Weitere Artikel: In der NZZ gratuliert Peter Sloterdijk dem Romanisten Hans Ulrich Gumbrecht zum Siebzigsten.
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Religion

In der taz warnt Memet Kiliç, stellvertretender Vorsitzender des Bundeszuwanderungsrates davor, die Probleme eines radikalen Islams bei Flüchtlingen herunterzuspielen. Dass Religion heute in Deutschland ein solches Gewicht hat, lastet er auch den christlichen Kirchen hierzulande an: "Beispielhaft ist der Islamunterricht. Dieser war nie eine Forderung der Muslime in Deutschland. Die Türken, die die überwältigende Mehrheit der Muslime in Deutschland bildeten, waren mit der Religionskunde im Türkischunterricht weitgehend zufrieden. Die Amtskirchen aber wollen ihren konfessionellen Unterricht in der Schule zementieren und die Diskussionen um Religionskunde oder Ethikunterricht abwenden. Also treiben sie die Forderung nach Islamunterricht in der Schule als Gleichbehandlungssatz voran. Stets ist zu beobachten, dass als Erstes die Juristen der Kirchen unruhig werden, wenn ein konservativer Islamverband vor einem Gericht in Sachen Schwimmunterricht, Gebetsraum in der Schule etc. scheitert."

Die Frauen in Medina zu Zeiten Mohammeds waren fortschrittlicher als viele Muslime heute, erklärt Judith Sevinç Basad, Journalistin und Projektkoordinatorin für die von Seyran Ates gegründete Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, in der FAZ. Sie fragt sich, warum Ates' liberale Moschee nicht nur von reaktionären Muslimen abgelehnt wird, sondern auch von angeblich feministischen. "Obwohl die Ursprünge des Islams weitaus geschlechtergerechter und feministischer ausgelegt werden können, stoßen Ateş' Reformversuche auch unter Feministinnen auf Ablehnung. So monierte die genderfeministische Islamwissenschaftlerin Schirin Amir-Moazami in einem Interview mit islamiQ, dass der liberale Islam ein Produkt des westlichen Kolonialismus sei, den man den europäischen Muslimen jetzt aufzwingen wolle. Liberale Muslime, so Amir-Moazami, würden die Stimmen von unterdrückten Muslimen 'von vornherein in Misskredit' bringen. Auch die Freiheit und die Menschenrechte, die hinter einem geschlechtergerechten Islam stehen, wären nur eine westlich-konstruierte und deswegen 'reduktionistische Version von Freiheit'."
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Medien

In Zeiten, wo die im bösen Internet kursierenden Fake News beklagt werden, freuen sich Politiker, Sender und Zeitungen über den jetzt stolz präsentierten neuen "Telemedienauftrag" für die öffentlich-rechtlichen Sender. Die Zeitungen, die mehr Inhalte hinter Paywalls verschwinden lassen wollen, haben darauf gedrängt, dass die Sender sich nicht "presseähnlich" verhalten und Texte bringen. Darauf hat man sich nun geeinigt. Zeitungsfundamentalist und FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld mag es noch nicht recht glauben: "Ob es bedeutet, dass die Sender - vor allem die ARD - ihre reine Online-Textproduktion, in die in den vergangenen Jahren hohe Millionenbeträge geflossen sind, reduzieren? Das muss sich erst noch erweisen."

Unzufrieden sind laut Alexander Krei bei dwdl.de die Lobbyisten der Film-Produzenten: "Die Organisationen stören sich vor allem an den deutlich ausgeweiteten Verweildauern von Filmen und Serien im Netz sowie an der Möglichkeit, auch Kaufproduktionen - etwa europäische Filme und Serien - in die Mediatheken einzustellen."

Ob Philipp Ruch vom "Zentrum für politische Schönheit" verlangen kann, dass AfD-Politiker von öffentlich-rechtlichen Talkshows ausgeschlossen werden, da die Öffentlich-Rechtlichen doch zur Ausgewogenheit verpflichtet sind und kaum eine 14-Prozent-Partei beschweigen können, ist die eine Sache. Interessanter klingt sein allgemeinerer Gedanke zu Talkshows, den er im Gespräch mit der FR-Journalistin Katja Thorwarth äußert: "Über den Talkshows liegt eine Intellektuellenfeindlichkeit, die gefährlich ist für eine öffentliche Debatte. Das gesellschaftliche Selbstgespräch lebt von einfallsreichen und widerständigen Geistern. In dem Moment, in dem die gesellschaftlichen Debatten unter Ausschluss öffentlicher Intellektueller geführt werden, wird eine Gesellschaft seltsam kleingeistig, stumpfsinnig und starr. Ohne die kulturelle Energie sind wir Menschen nur Barbaren." Fragt sich nur, wen er damit meint?
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